SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2007, Seite 17

Das Bündnis ist geplatzt

Eine Nachlese zur Frankfurter Aktionskonferenz der Erwerbsloseninitiativen

Die Anti-Hartz-Demonstration am 1.November 2003 war die Geburtsstunde eines Bündnisses zwischen der Erwerbslosenbewegung und einem Teil der Gewerkschaftsbewegung (der Gewerkschaftslinken). Die danach folgende Frankfurter Aktionskonferenz stellte dies Bündnis auf eine inhaltliche Grundlage, den "Frankfurter Appell". Im weiteren Verlauf der Mobilisierungen drifteten die beiden Bündnispartner mehr und mehr auseinander, neue Organisationsformen entstanden, die an der Debatte um den Appell nicht teilgenommen hatten. Auf der letzten Aktionskonferenz, die am 2./3.Dezember 2006 wiederum in Frankfurt tagte, brach das Bündnis auch formell auseinander. Die Anhänger eines bedingungslosen Grundeinkommens "überarbeiteten" den Appell in einer Weise, dass er als Einstieg in ein bGE verstanden werden konnte. Ein Teil der früheren Unterzeichneten zog darauf bis auf weiteres seine Unterschrift zurück.
Nachstehend die gekürzte Fassung einer Stellungnahme von Thomas Amm (Frankfurt), Christiaan Boissevain (München), Reinhard Frankl (Bessenbach), Frank Jäger (Wuppertal), Petra Kirstein (Berlin), Michael Köster (Frankfurt), Heinz Mittelstädt (Neu-Anspach), Rainer Roth (Frankfurt) und Sturmi Siebers (Dortmund).

Der alte Frankfurter Appell von 2004 enthielt die Forderung nach einem ausreichenden, garantierten Mindesteinkommen für alle Erwerbslosen, ohne Bedürftigkeitsprüfung. Sie wurde seinerzeit ohne Diskussion beschlossen, obwohl sie schon damals dem Wortsinn nach falsch war. Wir und viele andere gingen davon aus, dass damit die unerträglichen Bedürftigkeitsprüfungen der Ämter abgelehnt wurden, das Konstrukt der eheähnlichen Gemeinschaft, die jämmerlichen Vermögensfreibeträge, die rechtswidrige Ausdehnung der Bedarfsgemeinschaften usw. Wir fordern auch weiterhin entschieden die Abschaffung dieser schikanösen, entwürdigenden "Verfolgungsbetreuung".
Die Formel "ohne Bedürftigkeitsprüfung" hat aber heute eine andere, dem tatsächlichen Wortsinn entsprechende Bedeutung erhalten, nämlich: "ohne jede Bedürftigkeitsprüfung". Dies wurde ab Mitte 2004 deutlich, als das Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle ohne Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitszwang stärker verbreitet und massiv propagiert wurde. Daran knüpfte sich für einen nennenswerten Teil der Bewegung die "Vision" einer solidarischen, gerechten Gesellschaft ohne Armut und eines individuellen, existenziell abgesicherten Ausstiegs aus der Lohnarbeit.
Wir lehnen dieses Konzept ab, weil wir erstens eine solidarische Gesellschaft auf Basis einer Wirtschaftsordnung, deren Ziel und Zweck die Kapitalverwertung ist, für eine die herrschenden Verhältnisse zementierende Illusion halten; weil zweitens der individuelle Ausstieg aus der Lohnarbeit unter Beibehaltung der kapitalistischen — d.h. Lohnarbeit voraussetzenden Produktionsweise — nur möglich ist auf Kosten der Lohnarbeit anderer; aber auch drittens, weil ein steuerfinanziertes Grundeinkommen für alle — oder für bestimmte Bevölkerungsgruppen — ohne jede Bedürftigkeitsprüfung, also unabhängig von jeglichem Einkommen und Vermögen, dazu führen muss, dass die Unterhaltungskosten der Beschäftigten und der nicht (mehr) Beschäftigten noch stärker als bisher schon aus Steuern der Werktätigen selbst bezuschusst werden und im selben Verhältnis nicht mehr über Löhne seitens des Kapitals und über ursprünglich paritätisch finanzierte Sozialversicherungsleistungen gedeckt werden müssen.
Das bGE wirkt, unabhängig von den unterschiedlichen Absichten seiner Befürworter, auf dem Boden des Kapitalismus als massives Mittel, die Löhne zu senken, Tarifverträge anzugreifen und die Sozialversicherungen auszuhebeln (Senkung der "Lohnnebenkosten"). Diese Wirkung macht bGE-(Teil-)Forderungen in einer Plattform, die als verbindende Klammer gemeinsame Interessen von Erwerbslosen und Erwerbstätigen bündeln soll, ganz und gar unbrauchbar.

Bedürftigkeit

Uns ist klar, dass diejenigen, die der Formel "ohne Bedürftigkeitsprüfung" am 2./3.12. zugestimmt haben, die beschriebenen Ziele des Kapitals nicht teilen. Sie wollen eine Verbesserung, nicht eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse von Erwerbslosen und Erwerbstätigen.
Der gute Wille ändert aber nichts an den realen Resultaten: Ein "Grundeinkommen ohne Bedürftigkeitsprüfung" als "Vision" schürt Illusionen über die Möglichkeiten des Kapitalismus, "Wohlstand für alle" zu verwirklichen; es fördert ein beispielloses, modernes Programm der Profitsteigerung, der Verlagerung der Kosten der Ware Arbeitskraft auf die ganze Gesellschaft, während die durch eben diese Arbeitskraft erzeugten Profite nach wie vor privat angeeignet werden; es fördert die von den Herrschenden massiv betriebene Spaltung zwischen den erwerbslosen bzw. prekarisierten und den erwerbstätigen Teilen der Lohnabhängigen.
Indem die Konferenz die oben genannte Forderung nach Abschaffung jeglicher Bedürftigkeitsprüfung für ALG-II-Bezieher angenommen hat, hat sie objektiv einen massiven Schritt in Richtung bedingungsloses Grundeinkommen getan, auch wenn die verabschiedete Forderung noch nicht das von linken bGE-Protagonisten angestrebte "bedingungslose Grundeinkommen für alle in armutsfester Höhe" darstellt. Denn das sollen eben alle Menschen bekommen und die Höhe des Eckregelsatzes von 500 Euro wird als viel zu niedrig abgelehnt. Für das Netzwerk Grundeinkommen ist das bGE für Erwerbslose auf Basis von Hartz IV jedoch ein erster großer Schritt, der nach und nach durch die Ausweitung der Forderung auf weitere Bevölkerungsgruppen ergänzt werden soll und bereits ergänzt wird.

Repressionsfrei

Auch der in den neuen Frankfurter Appell eingeführte Begriff "repressionsfrei" ist in dieser Hinsicht doppeldeutig. Er schließt die Ablehnung des Zwangs zu 1-Euro-Jobs, die Ablehnung von Sanktionen, vom Zwang zu Eingliederungsvereinbarungen, unsinnigen Bewerbungen usw. ebenso ein wie die Vorstellung einer kapitalistischen Gesellschaft, die trotz des Verwertungszwangs des Kapitals ohne den Zwang zur Lohnarbeit auskommen könnte.
Ersterem stimmen wir zu. Letzteres ist eine weitere Form von Illusionen über die Funktionsweise des Kapitals, die den Blick verstellt für die Ursachen der herrschenden Zustände und deren Beseitigung.
Wir könnten dem Frankfurter Appell in der jetzigen Fassung nur dann zustimmen, wenn die Formeln "ohne Bedürftigkeitsprüfung" und "repressionsfrei" auf ihre "visionsfreie" Bedeutung zurückgeschnitten würden, das heißt, wenn festgehalten wird, welche Bedürftigkeitsprüfungen und Sanktionen abgeschafft werden sollen, und wo die Grenze liegt zwischen solidarischer Finanzierung gesellschaftlicher Teilhabe der vom Kapital erwerbslos Gemachten einerseits und Ausnutzung der Ergebnisse fremder Lohnarbeit andererseits.
Zurückgeschnitten z.B. auf die Ablehnung der Konstruktion der eheähnlichen Gemeinschaft, der Unterhaltspflicht zwischen Eltern und erwachsenen Kindern, der rechtswidrigen Ausdehnung der Bedarfsgemeinschaft, der gegenwärtige Höhe der Vermögensfreibeträge, der gegenwärtigen Formen der Anrechnung von Erwerbseinkommen und anderen Einkommen; der Ablehnung von Sanktionen bei der Verweigerung von 1-Euro-, Mini- und Niedriglohnjobs usw.
Wir erklären uns aber nicht mit der bGE-Botschaft einverstanden, dass Erwerbslose keinerlei Verpflichtungen akzeptieren sollten, zum eigenen Lebensunterhalt beizutragen, sofern das möglich ist, und folglich von den beschäftigten Lohnarbeitern beliebig verlangen dürfen, den selbst gewählten Ausstieg aus der Lohnarbeit durch Lohnarbeit anderer zu finanzieren. Das macht ein Bündnis mit Erwerbstätigen unmöglich.
Einige Stellungnahmen zur Regelsatzforderung ("ohne Bedürftigkeitsprüfung und repressionsfrei") betonen nun deren Einschränkung auf Erwerbslose. Sie wollen damit der Kritik entgegentreten, durch den Bezug auf den Eckregelsatz hätten alle Erwerbsfähigen Anspruch auf das geforderte Mindesteinkommen, womit ein perfekter Kombilohn für alle und ein beinahe perfektes bGE gegeben wäre. Diese Einwände übersehen, dass sich schließlich jeder aus der Lohnarbeit in die Erwerbslosigkeit verabschieden kann, wenn er denn will. Durchaus im Sinne der bGE-Forderung: als individuelle Freiheit zum existenziell abgesicherten Ausstieg aus der Lohnarbeit — auf Kosten der Lohnarbeit anderer.
Wenn die Einfallstore zum bedingungslosen Grundeinkommen und zu sozialpartnerschaftlichen Visionen aus dem Frankfurter Appell herausgenommen sind, werden wir uns einverstanden erklären. Solange das nicht der Fall ist, können wir die am 2./3.12. verabschiedete Fassung des Frankfurter Appells weder unterzeichnen noch zu ihrer Verbreitung beitragen. Die jetzt verabschiedete Formel "ein Mindesteinkommen für Erwerbslose, mindestens 500 Euro Eckregelsatz, partnerunabhängig, plus Unterkunfts- und Heizungskosten, damit auch Anhebung der Kinderregelsätze, ohne Bedürftigkeitsprüfung und repressionsfrei" ist dazu nicht geeignet. Im Gegenteil. Sie sprengt den Kern des anzustrebenden kämpferischen Bündnisses zwischen Erwerbslosen und Erwerbslosen, den wir in den Forderungen nach einem gesetzlichen Mindestlohn von mindestens zehn Euro und der Forderung nach einem Eckregelsatz von mindestens 500 Euro verkörpert sehen.

Kombilohn

Die Forderung nach Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfung für Erwerbslose hat darüber hinaus noch einige inakzeptable Nebenwirkungen:
Es wird gefordert (und das ist in der entstandenen Situation u.E. auch richtig!), Hartz IV zu verändern, denn nur dort (und im SGB XII) gibt es einen Eckregelsatz. Im Aufruf des Bündnisses 3.Juni zur Demo in Berlin wurde deswegen auch die Erhöhung des ALG II auf mindestens 500 Euro gefordert.
Hartz IV ist aber nicht nur ein Mindesteinkommen für Erwerbslose, sondern auch ein Mindesteinkommen für Erwerbstätige. Nicht die Erwerbslosigkeit, sondern die Erwerbsfähigkeit ist die entscheidende Voraussetzung für ALG-II-Leistungen. Ferner beziehen auch Kinder unter 15 Jahren Hartz-IV-Leistungen. Sie gelten nicht als erwerbslos und beziehen Sozialgeld als Prozentsatz des Eckregelsatzes. Auch Kinder über 15 Jahren, die noch in Schulausbildung sind, gelten nicht als erwerbslos. Die Mehrheit der heute 7,1 Millionen Hartz-IV-Beziehern ist nicht erwerbslos.
Da die jetzige Forderung die Ablehnung jeder Bedürftigkeitsprüfung nur auf Erwerbslose bezieht, bedeutet das, dass bei Nichterwerbslosen die Bedürftigkeit weiterhin in der bisherigen Form geprüft werden würde. Für die Beibehaltung der jetzigen Bedürftigkeitsprüfungen bei Erwerbstätigen einzutreten, war sicher nicht mit dem Beschluss beabsichtigt, geht aber logisch aus der beschränkten Sicht auf Erwerbslose hervor. Das richtet sich in der Tendenz gegen Erwerbstätige.
Des weiteren gelten derzeit auch alle diejenigen als erwerbslos, die weniger als 15 Stunden die Woche arbeiten. Diese Definition halten wir für richtig. Dann würde die mehrheitlich beschlossene Forderung aber bedeuten, dass die Erwerbseinkommen all derjenigen, die weniger als 15 Stunden arbeiten, unabhängig von ihrer Höhe nicht angerechnet werden. Das würde Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte benachteiligen, deren Einkommen möglicherweise noch niedriger liegt. Diese Wirkung kann nicht beabsichtigt gewesen sein. Sie würde die Mindestlohnforderung von zehn Euro untergraben und eine Form des Kombilohns darstellen, bei der bei geringfügiger Beschäftigung das Erwerbseinkommen in voller Höhe nicht angerechnet, also in voller Höhe aus Steuergeldern bezuschusst wird. Die U15- Jobs würden massenhaft Blüten treiben.
Weiterhin würde die Formel bedeuten, dass Erwerbslose, die Einkommen aus Kapitalanlagen und Immobilienbesitz haben, alle entsprechenden Einkünfte behalten können. Wieso wir uns aber für die Interessen derer einsetzen sollten, die arbeitslos von Kapitaleinkünften leben oder leben wollen (und dabei handelt es sich eben nicht nur um die Albrechts und Ackermänner, die sich mit Sicherheit nicht auf den Weg zur Arge machen würden), ist unerfindlich.
Wenn aber nicht die Beschränkung der Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfung auf Erwerbslose, sondern die Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfung für alle erwerbsfähigen Hartz- IV-Beziehern gemeint gewesen sein sollte, dann hätte die Konferenz dafür gestimmt, dass Erwerbseinkommen unabhängig von der Höhe nicht auf ALG-II-Leistungen angerechnet werden darf. Sie hätte damit einer sprunghaften Ausdehnung von Kombilöhnen den Weg geebnet. Die Forderung fördert Lohnsenkungen ins Bodenlose und den weiteren Abschied von Tarifverträgen, denn das vom Staat bezahlte ALG II wird für Erwerbstätige dann in der Tendenz zum Grundstock ihrer Existenzsicherung, nicht mehr der Lohn (der damit massiv gedrückt werden kann).
Der Frankfurter Appell in der jetzigen Fassung verletzt unmittelbar die Tagesinteressen von teilzeit- (15 Stunden und darüber) und vollzeitbeschäftigten Lohnarbeitern und mittelbar die aller Lohnabhängigen, der erwerbstätigen wie der erwerbslosen. Dadurch und indem er die Option auf das bGE und den individuellen Ausstieg aus der Lohnarbeit öffnet, setzt er voraus, dass es Lohnarbeiter gibt, aus deren Arbeit die entsprechenden Geldsummen (und die damit konsumierten Waren und Dienstleistungen) aufgebracht werden müssen.
Auf der Basis dieser Forderung ist es nicht möglich, ein Bündnis zwischen erwerbstätigen und erwerbslosen Lohnarbeitern zu schließen. Ein solches Bündnis kann nur geschlossen bzw. ausgebaut werden, wenn in den Forderungen die gemeinsamen Interessen von erwerbslosen und erwerbstätigen Lohnarbeitern wiederzufinden sind. Während die DGB- Führung versucht, im Rahmen ihres Co-Managements mit dem Kapital zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland, sprich zur Sicherung hoher Kapitalrenditen, die Erwerbstätigen auf Kosten von Erwerbslosen relativ besser zu stellen, hat der jetzige Frankfurter Appell eine deutliche Schlagseite in die andere Richtung.
Wir treten dafür ein, dass die verabschiedete Fassung des Frankfurter Appells, wie oben dargestellt, korrigiert wird. [...]
Der Frankfurter Appell muss wieder zur verbindenden Klammer für die kämpferischen Teile der sozialen Bewegung gegen Lohn- und Sozialabbau werden.

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang