SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2007, Seite 04

Gib mich die Kirsche

von THIES GLEISS

Auf ihrem Weg vom heute noch gültigen "Berliner Programm" von 1989 zum geplanten "Hamburger Programm", das im Laufe dieses Jahres fertig werden soll, hat die — wie heißt sie noch mal? — Sozialdemokratische Partei Deutschlands in Bremen Station gemacht. Seit Mitte Januar und fast zeitgleich mit der köstlichen real existierenden Metapher des ewigen Zuspätkommens der SPD anlässlich der Bürgermeisterwahl in Wiesbaden kursiert ein 67 Seiten starker Text, der "Bremer Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm", auf den die internationale Arbeiterbewegung in fiebriger Erregung seit Monaten gewartet hat. Und ganz besonders in Ahrweiler, im Hause von Andrea N., wird ein Fläschchen Schaumwein geöffnet worden sein. Denn siehe da, die gute alte SPD bekennt sich weiterhin zum demokratischen Sozialismus: "Wir sind uns einig in dem Ziel, für alle Menschen ein Leben in Freiheit, ohne Ausbeutung, frei von Gewalt und Unterdrückung zu ermöglichen. Im Bewusstsein, dass das Streben nach einer unseren Grundwerten entsprechenden Gesellschaft eine dauernde Aufgabe ist, bekennen wir uns zu der unsere Geschichte prägenden Idee des demokratischen Sozialismus. Er ist kein Dogma und beschreibt keinen Endzustand, sondern die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, für deren Verwirklichung wir auch weiterhin eintreten. Die Arbeit für dieses Ziel und das Prinzip unseres Handelns ist die Soziale Demokratie. Denn nichts kommt von selbst und jede Zeit verlangt ihre eigenen Antworten."
Zurückgeschlagen wurde also der feige Angriff von Olaf Scholz und anderen, die der SPD ihre Seele rauben wollten. Wer den Rest der 67 Seiten konsumiert, außer Leuten, die das aus beruflichen Gründen machen müssen, werden es nicht viele sein, wird allerdings zur Auffassung gelangen, dass wegen solcher Visionen in der Tat der alte Rat von Kanzler Schmidt befolgt und ein Arzt aufgesucht werden sollte. Es folgen nämlich gnadenlose Bekenntnisse zur Optimierung der Ausbeutung in der Marktwirtschaft, zur Vertreibung aller wirtschaftlich unnützen Migrantinnen und Migranten, zur Sicherung der deutschen Interessen und Märkte in aller Welt, zu Kriegseinsätzen der so supercoolen Bundeswehr, zur Ersetzung der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit durch die bürgerliche "Chancengleichheit", bei der jede und jeder selbst Schuld hat, wenn es mit dem Wohlstand nicht klappt, und drumherum geistert der Irrwitz eines "vorsorgenden Sozialstaats", der zudem noch größtenteils aus der privaten Schatulle der Besitzlosen mittels Versicherungspolicen geregelt werden soll. Und wer es — wir konnten es nur häppchenweise — bis zum Ende geschafft hat, wird mit der Enthüllung des reinen Gagatums belohnt, worin Leute enden, die auf der Schröder-Blair‘schen Suche nach der "neuen Mitte" völlig kirre geworden sind: "Wir sind die Partei der solidarischen Mitte. Unsere Partei hat Hunderttausende Mitglieder, aber es gibt Millionen von Menschen, die so denken und empfinden wie wir. Viele Menschen wollen unabhängig von ihrer Lebenslage eine bessere und gerechtere Gesellschaft. Um gleiche Rechte für die Benachteiligten durchzusetzen, braucht es die Solidarität derer, die weniger auf gesellschaftliche Unterstützung angewiesen sind. Die solidarische Mitte hat die Soziale Marktwirtschaft möglich gemacht und wird das Land auch in Zukunft mit ihrer Leistung und ihrer Solidarität zusammenhalten. Wir wollen die solidarische Mitte in unserem Land verbreitern und für die Soziale Demokratie gewinnen."
Wir haben es doch gesagt: "Nichts kommt von selbst", der Kakao, durch den die SPD sich und ihre Anhänger zieht und sich und ihre Anhänger ziehen lässt, wird gleichzeitig noch eifrig getrunken.
Wie die SPD ein letztes bizarres Gefecht führt, sich vom Sozialismus zu verabschieden, so genehmigt sich die neue Linkspartei eine nicht minder kuriose Schlacht zur Einführung des Sozialismus in die Programmatik. Dabei wäre es doch so einfach: linke Politik hat in diesem — und anderen Ländern — nur eine zusammengefasste Aufgabe: die je nach Ansicht über hundert oder wenigstens fünfundsiebzig Jahre bestehende historische Lücke des Fehlens einer Sozialistischen Partei in Deutschlands schleunigst zu schließen. Mit Hans Modrow wäre der neuen Linkspartei deshalb dringend zu empfehlen sich auch so zu nennen. Und mit der alten Ruhrpottlegende Lothar Emmerich müsste die neue Linke der sich vom Sozialismus befreienden Sozialdemokratie nur freundlich zuraunen: Ist doch toll, gib mich die Kirsche.

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