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In vielen Bereichen des öffentlichen Sektors der Gesellschaft finden
gegenwärtig Veränderungen statt, die mit marktwirtschaftlichen Instrumenten (Wettbewerb, Markt
und Privatisierung) gesteuert werden sollen. Das betrifft inzwischen auch die Krankenversorgung. Grundlage
der Krankenversorgung sind freilich immer ökonomische Determinanten. Die Frage lautet deshalb: Wo sind
die ökonomischen Grenzen, wo werden politische oder ethische Fragen bestimmend?
Die bruchlose Übertragung ökonomischer Gesetze und Instrumente auf außerökonomische
Sachverhalte wird als Ökonomisierung bezeichnet wenn also das Gewinnkalkül (der
Tauschwert) die Oberhand über den Gebrauchswert gewinnt. An ihr wird zurecht kritisiert, dass die
Menschen, die davon betroffen sind, auf das Menschenbild des Homo oeconomicus (der natürlich-
egoistische und Nutzen maximierende Mensch) reduziert werden.
Es geht bei dieser Zuspitzung keineswegs um
eine generelle Verurteilung von Ökonomie, sondern um die Kritik ihres Allmachtsanspruchs. Zu fragen
ist nicht nur nach dem Zuviel an Ökonomie, sondern auch danach, ob die eingesetzten Instrumente dem
jeweiligen Sachverhalt angemessen sind. Die Ökonomie wenn sie aus der Gesellschaft
herausgerissen wird unterliegt der Gefahr, ihre Grenzen zu sprengen und zur Norm des menschlichen
Zusammenlebens insgesamt zu werden. Unter den hegemonialen Bedingungen von Kapital, Markt und Konkurrenz
reduziert sich Gesellschaft aber auf das Konstrukt der blanken Marktgesellschaft.
Gesundheit oder Krankheit kann nicht den
Charakter einer marktfähigen Handelsware annehmen. Es fällt auf, dass es weltweit kein
Gesundheitssystem gibt, das alleine marktwirtschaftlich organisiert ist. Das hängt unter anderem mit
folgenden Besonderheiten zusammen:
Gesundheit ist ein lebensnotwendiges
Gut. Es hat den Charakter eines hoch besetzten Gebrauchswerts. Gesundheit ist ein kollektives und
öffentliches Gut, ähnlich wie Atemluft, Trinkwasser, Bildung, Verkehrs- oder Rechtssicherheit.
Auf Konsumgüter kann man
verzichten, auf Krankheit nicht.
Der Patient weiß nicht wann und
warum er krank wird, an welcher Krankheit er leiden wird. Er hat in der Regel nicht die Möglichkeit,
Art, Zeitpunkt und Umfang der in Anspruch zu nehmenden Leistungen selbst zu bestimmen. Krankheit ist ein
allgemeines Lebensrisiko.
Die Nachfrage des Patienten erfolgt
zunächst unspezifisch und wird erst durch die Kompetenz eines medizinischen Experten definiert. Es
besteht ein erhebliches Informations- und Kompetenzgefälle zugunsten des Arztes. Dieser wiederum hat
aufgrund der begrenzten Wissenschaftlichkeit der praktischen Medizin einen großen Ermessensspielraum
bei seinem diagnostischen und therapeutischen Vorgehen.
Der Patient befindet sich durch sein
Kranksein in einer Position der Unsicherheit, Schwäche, Abhängigkeit und insbesondere der
Hilfsbedürftigkeit, häufig in Verbindung mit Angst und Scham.
Schon die Beschreibung des
Verhältnisses von Markt und Patient macht deutlich, dass hier öffentliche Schutzfunktionen
wahrgenommen werden müssen. Es spricht also viel dafür, dass die Versorgung von Krankheit sich
nicht dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage unterwerfen lässt. Das Gesundheitswesen gilt deshalb
auch als ein Beispiel für die Theorie des Marktversagens. Die Ergebnisse, die die
Verteilungskräfte des Marktes sonst hervorbringen können, sind hier unzureichend. Der Markt ist
richtungslos und Ziele müssen ihm vorgegeben werden. Der Staat, das demokratische Gemeinwesen, muss
deshalb wichtige Aufgaben wahrnehmen. Er hat den Schutz und die Sicherheit seiner Bürger zu
gewährleisten, Richtung weisende Entscheidungen müssen politisch gefällt werden.
Das deutsche Gesundheitssystem hat eine lange Tradition. Es ist in der Welt als Bismarck-Modell bekannt
geworden. Seine Kernelemente sind:
Die direkte Kopplung der Finanzierung
an die Wirtschaftsentwicklung. Die Finanzierung erfolgt über Beiträge, nicht über Steuern.
Die Beiträge sollten von Kapital
und Arbeit paritätisch finanziert werden.
Das Solidaritätsprinzip in der
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist mehr als ein Versicherungsprinzip. Das Versicherungsprinzip
regelt lediglich einen Schadensausgleich. Beim Solidaritätsprinzip haben die Sozialversicherten einen
gleichen Leistungsanspruch bei unterschiedlichen Beiträgen.
Der bargeldlose Verkehr zwischen Arzt
und Patient (Sachleistungsprinzip).
Der freie Zugang der
Sozialversicherten zu den ambulanten Einrichtungen der Krankenversorgung.
Das deutsche Gesundheitssystem scheint sehr
flexibel zu sein, immerhin hat es zwei Weltkriege und zwei große Inflationen überstanden.
Freilich muss es immer wieder an die jeweilige gesellschaftliche Entwicklung angepasst werden.
Die beiden großen Parteien, SPD und
Union, sind mit unterschiedlichen Modellen für eine Gesundheitsreform in den letzten
Bundestagswahlkampf gezogen. Die CDU/CSU propagiert die Kopfpauschale, das Modell der
Bürgerversicherung wird in unterschiedlichen Varianten von der SPD, Linkspartei und den Grünen
vertreten.
Das Modell der Kopfpauschale bedeutet einen
Strukturwandel des Bismarck-Modells. Jeder Versicherte soll die gleiche Pauschale für seine
Krankenversicherung bezahlen. Das begünstigt die höheren Einkommen und benachteiligt die
niederen. Es ist eine Abkehr vom derzeit geltenden Solidaritätsprinzip, verschiebt die
paritätische Finanzierung und entkoppelt die Finanzierung von der Entwicklung der
versicherungspflichtigen Einkommen. Die Kopfpauschale ist nahezu bei allen Akteuren und Betroffenen ein
sehr ungeliebtes Kind selbst in weiten Kreisen der Union.
Die Bürgerversicherung ist eine
Veränderung im bestehenden System. Die Basis der Finanzierung soll mit diesem Modell über
Arbeiter und Angestellte hinaus auf Selbständige und Beamte sowie auf Kapitalerträge ausgeweitet
und die Beitragsbemessungsgrenze erhöht werden.
In der Großen Koalition müssen sich SPD und Union mit ihren unterschiedlichen Modellen auf
eine gemeinsame Gesundheitsreform einigen. Die Verhandlungen führten zu den vorliegenden Eckpunkten
einer Gesundheitsreform 2006. Danach soll u.a. ein Gesundheitsfonds eingerichtet werden, die Finanzierung
der Krankenversicherung soll um Steuergelder erweitert werden, und die Kassen sollen einen Zusatzbeitrag
von ihren Versicherten erheben können.
Der Gesundheitsfonds ist als neue
Geldsammelstelle gedacht, aus der dann eine Grundpauschale pro Versicherten an die Krankenkassen
überwiesen wird. Die Pauschale kann leicht von Kasse zu Kasse variieren.
Bisher ziehen die Kassen die Beiträge
selbst ein. Das soll nach den letzten Meldungen auch so bleiben und ist nicht zuletzt auf den
öffentlichen Druck der Gewerkschaften zurückzuführen. Sie kalkulieren darüber hinaus
kassenindividuell die Höhe des Beitragssatzes und beschließen ihn in der Selbstverwaltung. Wenn
also Kassen mit ihrem Geld für die Versorgung des medizinisch Notwendigen nicht auskommen, müssen
sie den Beitragssatz erhöhen, der dann von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt wird.
Mit der Einführung eines
Gesundheitsfonds bestimmen die Kassen nicht mehr über die Höhe der Beiträge von Arbeitgebern
und Versicherten. Die Beitragshöhe wird gesetzlich festgelegt. Die Krankenkassen verlieren also die
Finanzhoheit. Der Aufbau eines Gesundheitsfonds führt somit zu einer partiellen Entmachtung der
Kassen. In einer Phase, die eigentlich und generell auf Privatisierung setzt, zieht der Staat mit der
Einführung eines Gesundheitsfonds umfassendere Entscheidungsmacht an sich möglicherweise
um weitere Privatisierungen im Gesundheitswesen einfacher durchsetzen zu können.
Sicher nicht zu Unrecht befürchten die
Kassen, dass die Einrichtung eines Gesundheitsfonds der Einstieg in das CDU-Modell der Kopfpauschale ist.
So heißt es in einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom 29.7.06: "Wenn das bis 2010 gelingt,
dann braucht man nur noch den prozentualen Versichertenbeitrag umzumodeln und in einen Pro-Kopf-Betrag
umzurechnen und hat eine reinrassige Kopfpauschale ... Es wäre eine geniale Strategie für den
Ausstieg aus der sozialen Krankenversicherung, die auf Solidarität gründet, und die gezielte
Hinwendung zur Privatisierung des Krankheitsrisikos."
Erhebliche Widerstände von einem dann
vielleicht existierenden Gesundheitsfonds, ein abgehobenes bürokratisches Gebilde offensichtlich ohne
gewählte Selbstverwaltung, werden kaum zu erwarten sein. Das heißt: Der Widerstand der Kassen
heute gegen die Einrichtung eines Gesundheitsfonds ist auch ein Kampf der Kassen gegen die Kopfpauschale in
der Zukunft.
Zusätzlich zu den Beiträgen sollen Steuermittel in den Gesundheitsfonds fließen. Das ist
nicht ganz neu. In den letzten Jahren flossen bereits pro Jahr 4,2 Milliarden Euro Steuergelder von der
Tabaksteuer in die GKV. Nach den Eckpunkten soll die Krankenversicherung der Kinder komplett durch Steuern
aus dem Bundeshaushalt finanziert werden (1416 Milliarden Euro). Damit soll im Jahr 2008 begonnen
werden, zunächst mit 1,5 Milliarden Euro. Dieser Betrag soll Jahr für Jahr aufgestockt werden.
Dem Bundesfinanzminister ist allerdings heute noch nicht klar, woher das Geld kommen soll. Die geringe
Starthöhe des Steuerzuschusses hat bei der SPD Frustrationen hervorgerufen aber sie hat sie
geschluckt!
Grundsätzlich wäre gegen eine
Steuerfinanzierung der Krankenversorgung nichts einzuwenden immerhin handelt es sich bei der
Krankenversorgung um eine gesellschaftliche Aufgabe. Angesichts der gegenwärtigen Politik des
"schlanken Staates" sind jedoch Zweifel angebracht. Seit Jahren sind die öffentlichen
Haushalte klamm. Der Bundesfinanzminister hat enorme Schwierigkeiten, die Maastrichtkriterien zu
erfüllen. Um zu sehen, was in Zeiten leer gefegter Kassen passieren kann, brauchen wir gar nicht lange
zu spekulieren. Gerade wurden nämlich die 4,2 Milliarden Euro für die GKV aus der Tabaksteuer
wieder gestrichen, um Haushaltslöcher beim Bund zu stopfen. Das ist Politik nach Kassenlage. Sie ist
für eine nachhaltige Gesundheitspolitik abträglich. Diese darf nicht durch kurzfristige
politische Entscheidungen erschüttert werden. Eine solide Krankenversorgung erfordert eine
zuverlässige Planungsgrundlage. Und die Krankheiten richten sich schon gar nicht nach der
tagespolitischen Finanzsituation des Staates.
Grundsätzlich stellt sich die Frage,
ob Steuerfinanzierung oder Beitragsfinanzierung sozial gerechter ist. Dann muss man aber genau hinschauen,
wie das Steuersystem gestrickt ist, wer davon begünstigt und wer benachteiligt wird.
Was passiert, wenn eine Kasse mit der vom Gesundheitsfonds zugewiesenen Grundpauschale nicht auskommt?
In diesem Fall sollen nach den Eckpunkten die betroffenen Kassen berechtigt sein, von ihren Versicherten
einen Zusatzbeitrag erheben zu dürfen. Dieser Zusatzbeitrag wird allein von den Versicherten der
jeweiligen Kasse bezahlt. Die Unternehmen sind daran nicht beteiligt. Die Parität soll hier nicht
gelten. Der Zusatzbeitrag soll zwar 1% eines Versichertenhaushalts nicht überschreiten und er soll
insgesamt auch nicht mehr als 5% der gesamten Gesundheitsausgaben ausmachen, aber es bedarf keiner
großen Fantasie, dass an dieser Schraube schnell gedreht werden kann und sich dann Einkommensschwache
einen vollen Versicherungsschutz kaum noch leisten können.
Die "Eckpunkte für eine
Gesundheitsreform 2006" zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sind näher an der
Kopfpauschale als an der Bürgerversicherung. Von der Bürgerversicherung ist so gut wie nichts
mehr übrig geblieben.
Weiter fällt auf, dass auf die
eigentlichen Finanzprobleme der GKV nicht hingewiesen wird, geschweige dass dazu Reformvorschläge
gemacht würden. Kein Wort wird darüber verloren, dass die neoliberale Wirtschafts- und
Arbeitsmarktpolitik, die stagnierenden Erwerbseinkommen und die anhaltende Massenarbeitslosigkeit den
Umfang sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung eingedampft hat.
Solange hier keine grundsätzliche
Umorientierung stattfindet und die neoliberalen Bedingungen weiterhin als unveränderlich akzeptiert
werden, ist die nächste Finanzierungskrise der Krankenversorgung mit oder ohne Gesundheitsfonds
vorprogrammiert.
Hans-Ulrich Deppe
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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