SoZ - Sozialistische Zeitung |
"Jetzt ist ein Teil reich, ein anderer arm, das ist besser, als wenn
alle arm sind." Mit diesen Worten umschrieb ein Unternehmer, der am Stadtrand von Peking einige
kleinere Textilfabriken betreibt, worin für ihn der Fortschritt in China im Vergleich zu der Zeit vor
1978 liegt. Er ist 1949 geboren, genauso alt wie die Volksrepublik, war früher beim Militär,
arbeitete dann bei dem damals noch staatlichen Textilunternehmen, dessen stolzer Besitzer er heute ist. In
seinem Betrieb ist er in Personalunion Chef, Gewerkschaftsvorsitzender und Parteisekretär. Denn unser
Neukapitalist versteht sich selbst völlig bruchlos gleichzeitig als Kommunist. Früher waren alle
arm, heute sind einige reich und einige arm und in der Zukunft werden alle reich sein. Das ist dann das
Paradies eines neuen undogmatischen Sozialismus. So einfach scheinen sich Chinas kommunistische
Kapitalisten die gesellschaftliche Entwicklung vorzustellen. Unser Unternehmer steht mit seinen Ansichten
gar nicht so allein. In unterschiedlichen Varianten bekamen wir das nicht von allen aber doch von vielen
unserer Gesprächspartner in den folgenden zwei Wochen zu hören.
"Wir" sind in diesem Fall eine
Gruppe von 15 linken und kritischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern aus der IG Metall und Ver.di
und einem chinesischen Übersetzer, die vom 14. bis 28.Oktober 2006 die Volksrepublik China bereisten.
Stationen waren die Hauptstadt Peking, das Dorf Zhaicheng und die Kreisstadt Dingzhou in der Provinz Hebei,
die südchinesische Metropole Guangzhou (Kanton) und Hongkong, das seit 1997 als
"Sonderverwaltungsregion" zur Volksrepublik China gehört.
Nach einem einführenden Gespräch
mit einem Vertreter und einer Vertreterin des China Institute of Industrial Relations, der
Gewerkschaftshochschule in Peking, war der Betrieb des obern erwähnten Unternehmers die erste Station
unserer Reise. Und damit waren wir mitten drin in der neuchinesischen Realität der
"sozialistischen" Marktwirtschaft, wie sie seit 1978 aufgebaut wird.
In diesem Betrieb, einer GmbH, arbeiten in
15 Werkstätten etwa 250 Arbeiterinnen. Sie arbeiten etwa 5054 Stunden pro Woche. Ihr Lohn, etwa
1000 Yuan (rund 100 Euro) pro Monat, setzt sich aus einem festen leistungsbezogenen Anteil zusammen. Zum
Frühlingsfest erhalten sie statt der gesetzlich vorgeschriebenen sieben 27 Tage Urlaub als Ausgleich
für die Überstunden. Die meisten sind Wander- oder Bauernarbeiterinnen. Sie stammen nicht aus
Peking, sondern aus ländlichen Gegenden Chinas. Es gibt in China eine ausgeprägte
Binnenmigration, die jährlich mehrere Millionen Menschen vom Land in die Städte treibt, wo sie
Arbeit suchen. Durch das spezielle chinesische Niederlassungsrecht (Hukou), leben sie in der Stadt aber mit
einem Status, der dem eines nicht anerkannten aber geduldeten Asylbewerbers in der Bundesrepublik gleicht.
Man kann sich in China nur in seinem Geburtsort legal anmelden. Wechselt man ohne ausdrückliche
Genehmigung den Wohnort, so hält man sich dort illegal auf. Man kann seine Kinder nicht zur Schule
schicken, hat kein Wahlrecht für den kommunalen Volkskongress und ist auch nicht obligatorisch
sozialversichert. Als Wanderarbeiter hängt man sehr stark von der Gnade seines Chefs ab, der einem
Sozialversicherung und mitunter sogar den Lohn mehr als einen Gnadenerweis gewährt. Als trotz
Staatsbürgerschaft "Illegaler" ist man quasi rechtlos. Immerhin nimmt der offizielle
Gewerkschaftsdachverband ACFTU (All China Federation of Trade Unions) mittlerweile Wanderarbeiter und -
arbeiterinnen als gleichberechtigte Mitglieder auf und beginnt zaghaft, sich für ihre Rechte
einzusetzen.
Unser altkommunistisch-neukapitalistischer
Textilunternehmer versicherte uns jedoch, dass für seine Arbeiterinnen Löhne und
Sozialversicherungsbeiträge regelmäßig gezahlt würden. Das wurde uns von einigen
Arbeiterinnen, mit denen wir ein Gespräch hatten, bestätigt. Der Chef befand sich jedoch im
Nebenraum und konnte vermutlich jedes Wort hören.
Auch der Vormittag des zweiten Tages war
den Wanderabeitern und -arbeiterinnen gewidmet. Diesmal handelte es sich aber um eine Selbsthilfeinitiative
in einem der vielen Vororte der wuchernden 17-Millionen-Metropole Peking. Diese "Spiritual Home of the
Rural Migrants" genannte Initiative bietet Kulturveranstaltungen und praktische Lebenshilfe. Eine
Künstlergruppe thematisiert in ihren Liedern und Kunstwerken die Lebenssituation der Wanderarbeiter
und trägt das auf Veranstaltungen in Betrieben vor. Es gibt dort außerdem eine Rechtsberatung,
einen "Supermarkt der Liebe", in dem Waren günstig angeboten werden und vor allem eine
Schule. Diese wird von den Kindern der Wanderarbeiter, die wegen Hukou nicht regulär zur Schule
können, besucht und bietet außerdem Abendkurse für Erwachsene. Ein Ausdruck der
zwiespältigen offiziellen Haltung zu den Wanderarbeitern ist die Tatsache, dass die Abschlüsse
dieser Schule staatlich anerkannt werden.
Einen ganzen Tag verbrachten wir im China
Institute of Industrial Relations, der Gewerkschaftshochschule der ACFTU in Peking. Auch hier hörten
wir viel von der Harmonie zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und viele freundliche, diplomatische
Worte, aber wenig darüber, wie die Gewerkschaft ihre Rolle unter den gegebenen Umständen neu
definiert. Unsere Gesprächspartner waren außer dem Parteisekretär und einigen Dozentinnen
und Dozenten Studierende des Instituts. Bei diesen handelte es sich aber nicht um Aktive im Sinne von
kämpferischer Gewerkschaftsarbeit sondern um verdiente Bestarbeiter und -arbeiterinnen, die in ihrem
Betrieb bspw. dadurch aufgefallen waren, dass sie Rationalisierungsvorschläge gemacht hatten. Mit
diesen kleinen Stachanows und Henneckes war keine Diskussion über die Erneuerung der Gewerkschaften
nicht nur in China zu führen. Der Tag war aber trotzdem lehrreich, warf er doch ein bezeichnendes
Licht auf den Zustand der offiziellen chinesischen Gewerkschaften.
Auf dem Lande, im Dorf Zhaicheng in der
Provinz Hebei, etwa 200 km südlich von Peking, besuchten wir das James Yan Rural Reconstruction
Institute. Dieses Institut widmet sich der Förderung ökologischer Landwirtschaft und
ökologischen Hausbaus. Zu diesem Zweck werden im Institut sog. Elitebauern ausgebildet, die für
beides in ihren Dörfern werben sollen. In einem riesigen Land wie China ist eine solche Arbeit
natürlich wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Ökologie spielt im
Wirtschaftswunderland China keine große Rolle und wird eher als Hindernis für die wirtschaftliche
Entwicklung gesehen. Eine Einstellung, die auch in Europa verbreitet ist, wenn sie auch hier in letzter
Zeit scheinbar zurückgegangen ist. Ein Hoffnungszeichen ist das Interesse vieler Studierender, die
freiwillig für ein Praktikum in das abgelegene Institut kommen. Ein Gespräch mit dem
Parteisekretär des Ortes war weniger ergiebig. Für ihn schien die Welt in Ordnung zu sein, obwohl
viele seiner dörflichen Mitbürger und Mitbürgerinnen, vor allem die jungen, als
Wanderarbeiter unterwegs sind. Sein einziges Problem schien zu sein, dass sich einige Dorfbewohner nicht
genug um ihre alten Eltern kümmern, wofür sie in altmaoistischer Manier öffentlich
kritisiert werden.
In der Kreisstadt Dingzhou verschafften wir
uns auf einem Stadtrundgang einen Eindruck vom Leben in einem Ort, der nach chinesischen
Maßstäben mit 200000 Einwohnern als Kleinstadt gilt. Dabei erfuhren wir, dass in dieser Gegend
etwa 30000 chinesische Muslime leben, die über 17 Moscheen verfügen. Eine davon, die bereits im
14.Jahrhundert gebaut worden war, besuchten wir. Der Imam lebt von den Spenden seiner Gemeinde, die ihre
Religion recht unbehindert ausüben kann.
In der Stadt Guangzhou, die in Europa als
Kanton bekannt ist, war der Gewerkschaftsvorsitzende unser erster Gesprächspartner. Er nannte einige
Probleme wie den Arbeitskräfteüberschuss, die fehlende innergewerkschaftliche Demokratie, die
Benachteiligung der Wanderarbeiter durch das Hukou-System und Unregelmäßigkeiten bei der
Lohnauszahlung beim Namen. Die kantonesische Gewerkschaftsorganisation kümmere sich speziell um die
Wanderarbeiter und habe ein spezielles Büro für sie eingerichtet. Er gab zu, dass unser
Besuchsprogramm nicht repräsentativ sei, sondern aus einer Auswahl von Vorzeigeeinrichtungen bestehe.
Diese waren eine Autofabrik von Honda, eine Aufzug- und Rolltreppenfabrik des US-amerikanisch-deutschen
Konzerns Otis, eine ehemals staatliche Textilfabrik, eine Wohnanlage für Wanderarbeiter und das
Arbeitsamt.
In den drei Fabriken fiel die enge
Einbeziehung der jeweiligen Gewerkschaftsführung in die Betriebsleitung auf. Die
Gewerkschaftsfunktionäre waren echte Komanager der Fabriken und erfüllten dort in etwa die
Funktion eines Personalchefs. In allen drei Betrieben waren die Beschäftigten auffallend jung und mit
kurzfristigen (ein bis drei Jahre) Zeitverträgen beschäftigt. Bei Otis gibt es eine Regelung,
wonach Arbeiter, die bei einem Ranking zu den schlechtesten 5% gehören, entlassen werden können.
Die Gewerkschaft im Betrieb kritisiert dies nicht, es ist aber fragwürdig, ob diese Praxis legal ist.
In Hongkong war der Generalsekretär
des unabhängigen Gewerkschaftsverbands HKCTU einer unserer Gesprächspartner. Er beschrieb seinen
Verband als regierungsunabhängig, kritisch und kämpferisch. Außer für
Arbeitnehmerrechte setze sich sein Verband für Bürgerrechte und gegen die kapitalistische
Globalisierung ein. So mobilisierte sie gegen ein WTO-Treffen und mit einer Demonstration von 700000
Menschen (10% der Bevölkerung Hongkongs) gegen ein repressives Gesetz gegen "Subversion".
Ein Problem ist die Abwanderung der Industrie aus Hongkong ins benachbarte Perlflussdelta. Die HKCTU
organisiert seitdem vorwiegend Beschäftigte in Dienstleistungsbetrieben, u.a. so prekäre wie die
immer noch zahlreichen weiblichen Hausangestellten aus Indonesien und den Philippinen. Bei einem Treffen
mit der Womens Workers Association bekamen wir einen ungefilterten Einblick in die Arbeits- und
Wohnsituation von Frauen in Hongkong.
Nach der Absolvierung eines vollgepackten
Programms, das auch für vier Wochen gereicht hätte, gibt es bei den meisten von uns mehr Fragen
als Antworten. Wir bekamen einen kleinen Einblick in die soziale Realität des
bevölkerungsreichsten Landes der Welt, das dabei ist, sich zu einem ökonomischen Giganten zu
entwickeln. Ein Anfang, auf dem aufgebaut werden kann, ist damit gemacht.
Andreas Bodden
Weitere Infos
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04