SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2007, Seite 17

Die Mühen der Ebene

Thomas Kuczynski über die Aufgaben einer Arbeiterbildungsgemeinschaft

Mitte Januar diskutierte die Bildungsgemeinschaft SALZ auf ihrer ersten Tagung im Beisein des wissenschaftlichen Beirats über die grundlegende Konzeption und Zielsetzung linker Bildungsarbeit heute.
Ganz wesentlich ist meiner Meinung nach, dass wir uns darüber klar werden, an wen wir uns wenden wollen. Und da muss ich gleich sagen, dass ich mich mit den Anführungszeichen in dem Wort "Arbeiter"bildung nicht anfreunden kann, denn sie zeigen an, dass wir im Grunde nicht wissen, an wen wir uns wenden wollen. Sie sind ein Ausdruck jener fatalen political correctness, die keinem wehtun und keinen ausschließen will, die genau deshalb niemanden anspricht und notwendige Auseinandersetzungen auf immer neue Nebenkriegsschauplätze verlagert. Wem der Begriff "Arbeiter" zu eng ist, sollte sich an Friedrich Engels halten, der 1845 von der arbeitenden Klasse sprach. Richtig verstanden, nämlich perspektivisch betrachtet, gehören zu ihr Erwerbslose und Hartz-IV-Empfänger ebenso wie die Masse der Jugendlichen und der Studierenden.
Im Jahr 1845 möchte ich ein wenig verweilen. In diesem Jahr gab sich die 1840 gegründete Bildungs- und Gegenseitige Unterstützungs- Gesellschaft für Arbeiter in London neue Statuten. Ihre Mitglieder — ausschließlich Männer — hatten im Schnitt zwölf Stunden pro Tag zu arbeiten, einschließlich am Samstag, denn erst 1847 wurde der Zehnstundentag in England gesetzlich fixiert, also die 60-Stunden-Woche eingeführt. Unter diesen der Arbeiterbildung gewiss nicht gerade förderlichen Bedingungen sahen die Statuten des Arbeitervereins im Punkt 4 vor:
"Die Mitglieder versammeln sich wöchentlich dreimal zu ordentlichen Sitzungen, und zwar des Sonntags, Dienstags und Sonnabends, jedesmal um 9 Uhr Abends. Der Sonntag ist bestimmt für wissenschaftliche Vorträge und für Diskussionen über wissenschaftliche Fragen, welche von den Mitgliedern eingereicht werden. Der Dienstag für den Bericht über die Tagespolitik, ferner für Diskussionen über wissenschaftliche Bücher und über die von Mitgliedern eingereichten Fragen und der Sonnabend für Gesang und Deklamation. Außerdem" — so der Punkt 5 — "bestehen Klassen für Gesang-, Sprach-, Zeichnen- und Tanz-Unterricht."
Die Statuten der Gesellschaft waren viersprachig abgefasst, deutsch, englisch, französisch, dänisch, und dazu gab es die Festlegung: "Die Verhandlungen während der Sitzungen werden in der deutschen Sprache geführt. Ein Mitglied hingegen, welches der deutschen Sprache nicht mächtig ist, kann, nachdem es von dem Präsidenten hierzu die Erlaubnis erhalten, sich in seiner Muttersprache ausdrücken." Das ist eine Situation, von der wir heute nur träumen können.

Die Zielgruppe

Unsere Aufgaben ergeben sich nicht nur aus den Bedürfnissen unserer potenziellen Mitglieder, sondern auch aus der objektiven Situation, in der wir uns befinden. Zu diesen vorgefundenen Umständen gehört die Globalisierung. Und da frage ich, was wir eigentlich dem globalisierten Kapital gegenüberstellen wollen und können, bspw. auf welche Weise Mitglieder der arbeitenden Klassen in ihrem Kampf gegen dieses globalisierte Kapital miteinander kommunizieren können.
Sind die z.B. bei Alstom Berlin Beschäftigten wirklich in der Lage, ihre Kolleginnen und Kollegen schnell und effektiv, also über das Internet, weltweit zu erreichen, um so ihren Kampf gegen Schließungspläne der Konzernleitung zu organisieren, in welchen Sprachen können sie das — die Zentrale sitzt schließlich in Paris — und anderes mehr? Ich frage das auch unter Kostengesichtspunkten: Sicherlich ist es gut, den im kanadischen Konzernteil Beschäftigten auch mal vis-à-vis gegenüber zu sitzen und Erfahrungen auszutauschen, aber eine von solchen Reisemöglichkeiten unabhängige Kommunikationsstruktur wäre schon ein erstes Verhütungsmittel gegenüber einem seit dem VW- Skandal sattsam bekannten Betriebsrätetourismus.
Das Beispiel klingt ganz unpolitisch, zielt es ja zunächst bloß auf das Erlernen von Sprachen und Kommunikationstechniken ab. Man könnte einwenden, dass es dafür andere Bildungseinrichtungen gibt und wir uns nicht "auch noch damit" beschäftigen können. Aber es bleibt zumindest die Frage, warum denn die vorhandenen Möglichkeiten von den sog. einfachen Mitgliedern so wenig genutzt werden.
Wenn wir dieser Frage nachgehen, wird es sehr schnell politisch. Es zeigt sich nämlich, dass viele im zweckfreien Erlernen von Sprachen und Kommunikationstechniken, wie es in solchen Weiterbildungseinrichtungen üblich ist, gar keinen Sinn sehen, und mit Recht. Andere hingegen betreiben das als Hobby und sehen keinerlei Verbindung zu ihrer Arbeitswelt. Die meisten Hartz-IV-Empfänger können sich den "Luxus" eines Telefons nicht leisten, und damit sind sie nahezu zwangsläufig vom Internet abgeschnitten. Die Verknüpfung all dieser Fragen, das ist ganz offenbar schon Politik, also Teil der Aufgaben, mit denen wir uns beschäftigen müssen.
Manche Diskussionskataloge, die von lokalen Bildungsgemeinschaften entworfen werden, enthalten eine Fülle interessanter Themen — interessant für jene, die sich aktiv in die Auseinandersetzungen um eine neue, wie auch immer geartete, Linkspartei einbringen wollen. Das ist aber der kleinste Teil unserer potenziellen Klientel. Der ganz überwiegende Teil der arbeitenden Klasse interessiert sich überhaupt nicht dafür. Wir mögen das bedauern oder nicht, aber wir müssen es zur Kenntnis nehmen und beim Konzipieren unserer Arbeit berücksichtigen.
Ich bin wieder bei der Eingangsfrage, wem wir uns eigentlich zuwenden wollen, einer mehr oder minder kleinen parteipolitischen Klientel oder einer arbeitenden Klasse, die ihre politischen und ökonomischen Interessen zur Zeit nicht bewusst, sondern allenfalls instinktiv wahrnimmt. Wenn letztere unsere Zielgruppe sein soll — und sie ist die einzig interessante, weil gegebenenfalls wirklich etwas bewegende —, dann haben wir die Mühen der Ebene auf uns zu nehmen. Für die — gar nicht unwichtigen und hoch interessanten — Debatten in den luftigen Höhen politischer und ökonomischer Theorie gibt es andere Orte, ebenso für das Austragen innerparteilicher Querelen.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den wunderbaren Brief von Marx an Freiligrath vom 29.Februar 1860, in dem er den von ihm mitbegründeten Bund der Kommunisten als "eine Episode in der Geschichte der Partei" bezeichnet, jener Partei nämlich, "die aus dem Boden der modernen Gesellschaft überall naturwüchsig sich bildet" — naturwüchsig, also weitgehend unabhängig von unserem Wollen und Wirken. Und er schließt den Brief ab mit dem Bemerken, er habe "das Missverständnis zu beseitigen gesucht, als ob ich unter ‘Partei‘ einen seit 8 Jahren verstorbnen ‘Bund‘ oder eine seit 12 Jahren aufgelöste Zeitungsredaktion verstehe. Unter Partei verstand ich die Partei im großen historischen Sinn." Und dieser "Partei im großen historischen Sinn" sollten wir uns zuwenden, unbeschadet all ihrer "ephemeren" (vorübergehenden) Erscheinungsformen.

Das Alltagsbewusstsein

Ich möchte einen weiteren unbequemen Aspekt unserer zukünftigen Arbeit nennen und anhand eines sozusagen populärwissenschaftlichen Vortrags von Marx illustrieren. Ich meine seinen Vortrag über Lohn, Preis und Profit, den er im Juni 1865 im Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation gehalten hat, und in dem er lapidar feststellte: "Wissenschaftliche Wahrheit ist immer paradox vom Standpunkt der alltäglichen Erfahrung, die nur den täuschenden Schein der Dinge wahrnimmt." Er stellt dies keineswegs eingangs fest, sondern etwa in der Mitte seines Vortrags, dort, wo er gegen den landläufigen Begriff "Wert der Arbeit" polemisiert und ihm den wissenschaftlichen Begriff "Wert der Arbeitskraft" gegenüberstellt.
Es ist klar, dass wir in unserer Arbeit vor allem mit Menschen zu tun haben werden, die über keine wissenschaftliche Bildung verfügen, aber über eine gehörige Portion Alltagsbewusstsein. Und es hat wenig Sinn, unsere Wissenschaft einfach diesem Alltagsbewusstsein gegenüberzustellen, wir müssen an dieses Alltagsbewusstsein anknüpfen und zuweilen auch unmittelbar darauf zurückgreifen.
Ich gebe ein einfaches Beispiel: So wie wir uns an einem Sonnenuntergang erfreuen und dabei gar nicht daran denken, dass die Erde sich um die Sonne dreht, genauso fordern wir — entgegen der Marx‘schen Arbeitswerttheorie — nach wie vor und mit vollem Recht gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Für die politökonomisch exakte Losung "Gleicher Lohn für gleiche Arbeitskraft" wäre niemand auf die Straße gegangen, würde es auch heute niemand tun. Beides ändert nichts an der Richtigkeit der Marx‘schen Arbeitswerttheorie wie an der des Kopernikanischen Weltsystems, aber wissenschaftliche Wahrheit und praktische Wirksamkeit sind zuweilen zwei sehr verschiedene Dinge, die durchaus unterschieden werden müssen.
Ich nenne in diesem Zusammenhang als aktuelles Beispiel die Standortdebatte, deren Inhalt zu 95% von den Argumenten der Unternehmer bestimmt ist, denen von Gewerkschaftsseite ganz überwiegend völlig defensiv begegnet wird — unter dem Motto der Erhaltung von früher Erkämpftem oder sog. Besitzstandswahrung. Die Unternehmer verwenden heute mit Erfolg ein Argument, mit dem sie vor 170 Jahren bei den ersten in England geführten Debatten um die Arbeitszeitverkürzung gescheitert waren — dass ihr Gewinn nur eine Restgröße sei, die sozusagen in der letzten Arbeitsstunde des Tages hergestellt werde, wogegen die übrige Zeit für die Reproduktion der Maschinen, Rohstoffe und Beschäftigten verwendet werde, mithin zur Sicherung des Standorts eine Arbeitszeitverlängerung vonnöten sei.
Dass die Unternehmer auf derart jämmerlichem Niveau argumentieren dürfen, liegt auch daran, dass ihre Gegner keine Ahnung mehr von diesen einst geführten Auseinandersetzungen haben, die Marx so wunderbar sarkastisch im Kapital dargestellt hatte, in dem Kapitel über "Seniors letzte Stunde".
Aber es hätte wohl wenig Sinn, denen, die an den Arbeitskämpfen der Gegenwart beteiligt sind, einfach diese Marx‘sche Darstellung vorzulegen, als ob sie dort der Weisheit letzten Schluss vorfinden. Mit Recht werden sie auf ihre Alltagserfahrung verweisen, also darauf, dass ihr Alltag heute ein anderer ist als der ihrer englischen Kollegen vor 170 Jahren. Dass der von ihnen erlebte Alltag in vielerlei Hinsicht, damals so wie heute, von denselben ökonomischen Gesetzen beherrscht ist, bleibt ihnen auf der Ebene des Alltagsbewusstseins verborgen.
Ich möchte nicht missverstanden werden, es geht mir nicht darum, Marx in die Gegenwart zu "retten". Ich wäre glücklich, wenn wir Debatten hätten, die den von Marx erreichten Stand so weit überschritten, dass er zum Kulturerbe gehörte wie Aristoteles, Newton oder Darwin. Aber wir haben sie nicht. Und warum das so ist, dieser Frage haben sich die wissenschaftlich Arbeitenden zu stellen.
In diesem Zusammenhang sehe ich die diffizile Aufgabe eines wissenschaftlichen Beirats. Seine Mitglieder sollen durchaus wissenschaftliche Probleme zur Debatte stellen, auch ihre eigenen Debatten führen, die sich keineswegs sofort und sogleich in praktisch umsetzbarer Bildungspolitik niederschlagen müssen, sich auch an der ungemein schwierigen Debatte um die Überführung gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse in praktisch- politische Arbeit beteiligen, aber sie sollen sich nicht einbilden, damit die "eigentlichen" Bedürfnisse der Mitglieder des Bildungswerks diktieren zu können. Umgekehrt hat die Mitarbeit in einem Beirat nur Sinn, wenn er um Rat gefragt wird und keine bloße Ornamentfunktion hat, an der sich zwar — je nach Veranlagung — die eine oder der andere erfreuen mag, die aber keinen darüber hinausgehenden Sinn hat.

Einführungsvortrag (leicht gekürzt) für die SALZ-Tagung am 14.1.07 in Berlin.



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