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Mitte Januar diskutierte die Bildungsgemeinschaft SALZ auf ihrer ersten
Tagung im Beisein des wissenschaftlichen Beirats über die grundlegende Konzeption und Zielsetzung
linker Bildungsarbeit heute.
Ganz wesentlich ist meiner Meinung nach,
dass wir uns darüber klar werden, an wen wir uns wenden wollen. Und da muss ich gleich sagen, dass ich
mich mit den Anführungszeichen in dem Wort "Arbeiter"bildung nicht anfreunden kann, denn sie
zeigen an, dass wir im Grunde nicht wissen, an wen wir uns wenden wollen. Sie sind ein Ausdruck jener
fatalen political correctness, die keinem wehtun und keinen ausschließen will, die genau deshalb
niemanden anspricht und notwendige Auseinandersetzungen auf immer neue Nebenkriegsschauplätze
verlagert. Wem der Begriff "Arbeiter" zu eng ist, sollte sich an Friedrich Engels halten, der
1845 von der arbeitenden Klasse sprach. Richtig verstanden, nämlich perspektivisch betrachtet,
gehören zu ihr Erwerbslose und Hartz-IV-Empfänger ebenso wie die Masse der Jugendlichen und der
Studierenden.
Im Jahr 1845 möchte ich ein wenig
verweilen. In diesem Jahr gab sich die 1840 gegründete Bildungs- und Gegenseitige Unterstützungs-
Gesellschaft für Arbeiter in London neue Statuten. Ihre Mitglieder ausschließlich
Männer hatten im Schnitt zwölf Stunden pro Tag zu arbeiten, einschließlich am
Samstag, denn erst 1847 wurde der Zehnstundentag in England gesetzlich fixiert, also die 60-Stunden-Woche
eingeführt. Unter diesen der Arbeiterbildung gewiss nicht gerade förderlichen Bedingungen sahen
die Statuten des Arbeitervereins im Punkt 4 vor:
"Die Mitglieder versammeln sich
wöchentlich dreimal zu ordentlichen Sitzungen, und zwar des Sonntags, Dienstags und Sonnabends,
jedesmal um 9 Uhr Abends. Der Sonntag ist bestimmt für wissenschaftliche Vorträge und für
Diskussionen über wissenschaftliche Fragen, welche von den Mitgliedern eingereicht werden. Der
Dienstag für den Bericht über die Tagespolitik, ferner für Diskussionen über
wissenschaftliche Bücher und über die von Mitgliedern eingereichten Fragen und der Sonnabend
für Gesang und Deklamation. Außerdem" so der Punkt 5 "bestehen Klassen
für Gesang-, Sprach-, Zeichnen- und Tanz-Unterricht."
Die Statuten der Gesellschaft waren
viersprachig abgefasst, deutsch, englisch, französisch, dänisch, und dazu gab es die Festlegung:
"Die Verhandlungen während der Sitzungen werden in der deutschen Sprache geführt. Ein
Mitglied hingegen, welches der deutschen Sprache nicht mächtig ist, kann, nachdem es von dem
Präsidenten hierzu die Erlaubnis erhalten, sich in seiner Muttersprache ausdrücken." Das ist
eine Situation, von der wir heute nur träumen können.
Unsere Aufgaben ergeben sich nicht nur aus den Bedürfnissen unserer potenziellen Mitglieder,
sondern auch aus der objektiven Situation, in der wir uns befinden. Zu diesen vorgefundenen Umständen
gehört die Globalisierung. Und da frage ich, was wir eigentlich dem globalisierten Kapital
gegenüberstellen wollen und können, bspw. auf welche Weise Mitglieder der arbeitenden Klassen in
ihrem Kampf gegen dieses globalisierte Kapital miteinander kommunizieren können.
Sind die z.B. bei Alstom Berlin
Beschäftigten wirklich in der Lage, ihre Kolleginnen und Kollegen schnell und effektiv, also über
das Internet, weltweit zu erreichen, um so ihren Kampf gegen Schließungspläne der Konzernleitung
zu organisieren, in welchen Sprachen können sie das die Zentrale sitzt schließlich in
Paris und anderes mehr? Ich frage das auch unter Kostengesichtspunkten: Sicherlich ist es gut, den
im kanadischen Konzernteil Beschäftigten auch mal vis-à-vis gegenüber zu sitzen und
Erfahrungen auszutauschen, aber eine von solchen Reisemöglichkeiten unabhängige
Kommunikationsstruktur wäre schon ein erstes Verhütungsmittel gegenüber einem seit dem VW-
Skandal sattsam bekannten Betriebsrätetourismus.
Das Beispiel klingt ganz unpolitisch, zielt
es ja zunächst bloß auf das Erlernen von Sprachen und Kommunikationstechniken ab. Man könnte
einwenden, dass es dafür andere Bildungseinrichtungen gibt und wir uns nicht "auch noch
damit" beschäftigen können. Aber es bleibt zumindest die Frage, warum denn die vorhandenen
Möglichkeiten von den sog. einfachen Mitgliedern so wenig genutzt werden.
Wenn wir dieser Frage nachgehen, wird es
sehr schnell politisch. Es zeigt sich nämlich, dass viele im zweckfreien Erlernen von Sprachen und
Kommunikationstechniken, wie es in solchen Weiterbildungseinrichtungen üblich ist, gar keinen Sinn
sehen, und mit Recht. Andere hingegen betreiben das als Hobby und sehen keinerlei Verbindung zu ihrer
Arbeitswelt. Die meisten Hartz-IV-Empfänger können sich den "Luxus" eines Telefons
nicht leisten, und damit sind sie nahezu zwangsläufig vom Internet abgeschnitten. Die Verknüpfung
all dieser Fragen, das ist ganz offenbar schon Politik, also Teil der Aufgaben, mit denen wir uns
beschäftigen müssen.
Manche Diskussionskataloge, die von lokalen
Bildungsgemeinschaften entworfen werden, enthalten eine Fülle interessanter Themen interessant
für jene, die sich aktiv in die Auseinandersetzungen um eine neue, wie auch immer geartete,
Linkspartei einbringen wollen. Das ist aber der kleinste Teil unserer potenziellen Klientel. Der ganz
überwiegende Teil der arbeitenden Klasse interessiert sich überhaupt nicht dafür. Wir
mögen das bedauern oder nicht, aber wir müssen es zur Kenntnis nehmen und beim Konzipieren
unserer Arbeit berücksichtigen.
Ich bin wieder bei der Eingangsfrage, wem
wir uns eigentlich zuwenden wollen, einer mehr oder minder kleinen parteipolitischen Klientel oder einer
arbeitenden Klasse, die ihre politischen und ökonomischen Interessen zur Zeit nicht bewusst, sondern
allenfalls instinktiv wahrnimmt. Wenn letztere unsere Zielgruppe sein soll und sie ist die einzig
interessante, weil gegebenenfalls wirklich etwas bewegende , dann haben wir die Mühen der Ebene
auf uns zu nehmen. Für die gar nicht unwichtigen und hoch interessanten Debatten in den
luftigen Höhen politischer und ökonomischer Theorie gibt es andere Orte, ebenso für das
Austragen innerparteilicher Querelen.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den
wunderbaren Brief von Marx an Freiligrath vom 29.Februar 1860, in dem er den von ihm mitbegründeten
Bund der Kommunisten als "eine Episode in der Geschichte der Partei" bezeichnet, jener Partei
nämlich, "die aus dem Boden der modernen Gesellschaft überall naturwüchsig sich
bildet" naturwüchsig, also weitgehend unabhängig von unserem Wollen und Wirken. Und
er schließt den Brief ab mit dem Bemerken, er habe "das Missverständnis zu beseitigen
gesucht, als ob ich unter Partei einen seit 8 Jahren verstorbnen Bund oder eine
seit 12 Jahren aufgelöste Zeitungsredaktion verstehe. Unter Partei verstand ich die Partei im
großen historischen Sinn." Und dieser "Partei im großen historischen Sinn" sollten
wir uns zuwenden, unbeschadet all ihrer "ephemeren" (vorübergehenden) Erscheinungsformen.
Ich möchte einen weiteren unbequemen Aspekt unserer zukünftigen Arbeit nennen und anhand eines
sozusagen populärwissenschaftlichen Vortrags von Marx illustrieren. Ich meine seinen Vortrag über
Lohn, Preis und Profit, den er im Juni 1865 im Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation gehalten
hat, und in dem er lapidar feststellte: "Wissenschaftliche Wahrheit ist immer paradox vom Standpunkt
der alltäglichen Erfahrung, die nur den täuschenden Schein der Dinge wahrnimmt." Er stellt
dies keineswegs eingangs fest, sondern etwa in der Mitte seines Vortrags, dort, wo er gegen den
landläufigen Begriff "Wert der Arbeit" polemisiert und ihm den wissenschaftlichen Begriff
"Wert der Arbeitskraft" gegenüberstellt.
Es ist klar, dass wir in unserer Arbeit vor
allem mit Menschen zu tun haben werden, die über keine wissenschaftliche Bildung verfügen, aber
über eine gehörige Portion Alltagsbewusstsein. Und es hat wenig Sinn, unsere Wissenschaft einfach
diesem Alltagsbewusstsein gegenüberzustellen, wir müssen an dieses Alltagsbewusstsein
anknüpfen und zuweilen auch unmittelbar darauf zurückgreifen.
Ich gebe ein einfaches Beispiel: So wie wir
uns an einem Sonnenuntergang erfreuen und dabei gar nicht daran denken, dass die Erde sich um die Sonne
dreht, genauso fordern wir entgegen der Marxschen Arbeitswerttheorie nach wie vor und
mit vollem Recht gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Für die politökonomisch exakte Losung
"Gleicher Lohn für gleiche Arbeitskraft" wäre niemand auf die Straße gegangen,
würde es auch heute niemand tun. Beides ändert nichts an der Richtigkeit der Marxschen
Arbeitswerttheorie wie an der des Kopernikanischen Weltsystems, aber wissenschaftliche Wahrheit und
praktische Wirksamkeit sind zuweilen zwei sehr verschiedene Dinge, die durchaus unterschieden werden
müssen.
Ich nenne in diesem Zusammenhang als
aktuelles Beispiel die Standortdebatte, deren Inhalt zu 95% von den Argumenten der Unternehmer bestimmt
ist, denen von Gewerkschaftsseite ganz überwiegend völlig defensiv begegnet wird unter dem
Motto der Erhaltung von früher Erkämpftem oder sog. Besitzstandswahrung. Die Unternehmer
verwenden heute mit Erfolg ein Argument, mit dem sie vor 170 Jahren bei den ersten in England
geführten Debatten um die Arbeitszeitverkürzung gescheitert waren dass ihr Gewinn nur eine
Restgröße sei, die sozusagen in der letzten Arbeitsstunde des Tages hergestellt werde, wogegen
die übrige Zeit für die Reproduktion der Maschinen, Rohstoffe und Beschäftigten verwendet
werde, mithin zur Sicherung des Standorts eine Arbeitszeitverlängerung vonnöten sei.
Dass die Unternehmer auf derart
jämmerlichem Niveau argumentieren dürfen, liegt auch daran, dass ihre Gegner keine Ahnung mehr
von diesen einst geführten Auseinandersetzungen haben, die Marx so wunderbar sarkastisch im Kapital
dargestellt hatte, in dem Kapitel über "Seniors letzte Stunde".
Aber es hätte wohl wenig Sinn, denen,
die an den Arbeitskämpfen der Gegenwart beteiligt sind, einfach diese Marxsche Darstellung
vorzulegen, als ob sie dort der Weisheit letzten Schluss vorfinden. Mit Recht werden sie auf ihre
Alltagserfahrung verweisen, also darauf, dass ihr Alltag heute ein anderer ist als der ihrer englischen
Kollegen vor 170 Jahren. Dass der von ihnen erlebte Alltag in vielerlei Hinsicht, damals so wie heute, von
denselben ökonomischen Gesetzen beherrscht ist, bleibt ihnen auf der Ebene des Alltagsbewusstseins
verborgen.
Ich möchte nicht missverstanden
werden, es geht mir nicht darum, Marx in die Gegenwart zu "retten". Ich wäre glücklich,
wenn wir Debatten hätten, die den von Marx erreichten Stand so weit überschritten, dass er zum
Kulturerbe gehörte wie Aristoteles, Newton oder Darwin. Aber wir haben sie nicht. Und warum das so
ist, dieser Frage haben sich die wissenschaftlich Arbeitenden zu stellen.
In diesem Zusammenhang sehe ich die
diffizile Aufgabe eines wissenschaftlichen Beirats. Seine Mitglieder sollen durchaus wissenschaftliche
Probleme zur Debatte stellen, auch ihre eigenen Debatten führen, die sich keineswegs sofort und
sogleich in praktisch umsetzbarer Bildungspolitik niederschlagen müssen, sich auch an der ungemein
schwierigen Debatte um die Überführung gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse in praktisch-
politische Arbeit beteiligen, aber sie sollen sich nicht einbilden, damit die "eigentlichen"
Bedürfnisse der Mitglieder des Bildungswerks diktieren zu können. Umgekehrt hat die Mitarbeit in
einem Beirat nur Sinn, wenn er um Rat gefragt wird und keine bloße Ornamentfunktion hat, an der sich
zwar je nach Veranlagung die eine oder der andere erfreuen mag, die aber keinen darüber
hinausgehenden Sinn hat.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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