SoZ - Sozialistische Zeitung |
Sieben Wochen
streikten Ende letzten Jahres die belgischen VW-Arbeiter im Brüsseler Werk Vorst gegen die
angekündigte Entlassung von 4000 Mitarbeitern. Am Ende konnten sie durchsetzen, dass "nur"
3200 entlassen und die Entlassenen mit 25000 bis 144000 Euro abgefunden werden. Die Produktion des Polo
wurde von 10000 auf 46000 Autos aufgestockt was Standorte in Pamplona und Bratislava gefährdet.
Überproduktion und Globalisierung stellen den wichtigsten Industriezweig der westlichen Welt in Frage.
Die Autoindustrie ist ein Schlüsselsektor des Kapitalismus. Seit Beginn des 20.Jahrhunderts gibt
dieser Sektor den Ton an. Neue technologische Entwicklungen, Managementkonzepte, Formen der
Arbeitsorganisation wurden oft erst im Automobilbau getestet, bevor sie anderswo verbreitet wurden. Vom
Fließband und dem wissenschaftlichen Arbeitsmanagement von Ford und Taylor bis zu den japanischen
Experimenten mit dem Ohnismus (Toyotismus) und der Lean Production immer wies der Automobilsektor
den Weg. Auch heute sehen wir in einem Unternehmen wie VW neue Managementtechniken am Werk: den Einsatz von
Subunternehmern, Flexibilisierung, die Konkurrenz zwischen verschiedenen Filialen desselben multinationalen
Unternehmens... Auch die Wellenbewegung der ökonomischen Krisen kann am Automobilsektor abgelesen
werden, er bildet auch diesbezüglich die Vorhut.
Der Automobilsektor verdient noch aus einem
anderen Grund besondere Aufmerksamkeit: Die enorme Konzentration von Beschäftigten in Mammutfabriken
machte den Automobilsektor im 20.Jahrhundert zu einer Speerspitze des Arbeiterkampfs. Einen Höhepunkt
bildeten die Arbeitskämpfe in der gewaltigen Autoindustrie von Detroit. In Belgien ist das VW-Werk in
Vorst (Brüssel) für seine Tradition von militantem Arbeiterwiderstand bekannt.
Belgien galt lange als ein Zentrum der Autoproduktion. Hier wurde die größte Anzahl Autos pro
Kopf der Bevölkerung hergestellt. Mit der Schließung von Renault-Vilvoorde, den
Umstrukturierungen bei Ford, Opel und jetzt VW droht sich das Bild zu ändern. Bis Mitte der 60er Jahre
war die Produktion stark national verankert. Die hohen Importzölle für Fertigwagen und die
niedrigen Importzölle für Zubehörteile bewirkten, dass die führenden Autobauer nahezu
gezwungen waren, in jedem einzelnen Land eine Produktion zu unterhalten, die auf den lokalen Markt
ausgerichtet war. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es deshalb in Belgien Fabriken von BMW, Mercedes, Fiat und
Peugeot.
Der Aufbau der Europäischen
Gemeinschaft zerstörte dieses System. Sie setzte ein Verbot hoher Importzölle durch und
ermöglichte damit eine Zentralisation der Automobilproduktion auf europäischer Ebene. Nun war es
nicht mehr erforderlich, dass jedes Unternehmen auf dem lokalen Markt anwesend war. Stattdessen entstanden
Mammutunternehmen, die an einzelnen zentralisierten Standorten für den gesamten europäischen und
den Weltmarkt produzierten. Belgien wurde zu einer Drehscheibe der Automobilproduktion in Europa.
Der belgische Automobilsektor erfuhr
dadurch eine enorme Expansion: Von 200000 Autos zu Beginn der 60er Jahre stieg die Produktion auf 850000 am
Ende des Jahrzehnts, davon waren nur 10% für den heimischen Markt bestimmt. Fünf
Großkonzerne (Renault, VW, Ford, Volvo und Opel) ließen in Belgien produzieren. Doch seit gut
zehn Jahren stößt dieser Produktionsanstieg mehr und mehr an seine Grenze. Der Sektor kämpft
mit ernsthaften Problemen der Überproduktion. Durch die Einführung neuer Modelle konnten
kurzfristig noch Produktionssteigerungen erreicht werden, aber mit dem Ende des "Lebenszyklus"
eines solchen Modells sank die Produktion erneut.
Seit einigen Jahren wächst der
Automobilmarkt in Westeuropa kaum noch. Es wird im Wesentlichen nur noch für den Ersatz älterer
Wagen produziert. Das hängt sicher mit der demografischen Entwicklung zusammen, in erster Linie aber
auch mit der Krise der neoliberalen Politik, die bewirkt, dass das Gros der Haushalte in den letzten
zwanzig Jahren kaum eine Steigerung des Realeinkommen gekannt hat. Dadurch schwankt die Nachfrage nach
Autos stark: In einer Phase rückläufiger Konjunktur fährt man den alten Wagen länger,
springt die Konjunktur wieder an, steigt die Nachfrage nach Autos spürbar. Die Sättigung des
Marktes verstärkt die Konkurrenz unter den Autobauern, sie drückt sich in immer schnelleren
technologischen Entwicklungen und in der Herausgabe neuer Modelle aus. Die Dynamik dieser Konkurrenz ist
dafür verantwortlich, dass ständig neues konstantes Kapital in diesem Sektor erforderlich ist.
Damit kann nach neuen Technologien und neuen Modellen geforscht werden, während ein Teil der
Arbeitskräfte in die industrielle Reservearmee abgeschoben wird und vorübergehend Surplusgewinne
eingestrichen werden. Bis die Konkurrenten die letzten Neuheiten kopieren oder gleichartige Modelle
lancieren.
Das enorme Bedürfnis nach Zunahme von
konstantem Kapital droht natürlich die Profitrate zu schmälern. Eine Form, dem entgegenzuwirken,
ist der Druck auf die Arbeitskraft. Seit den 60er Jahren hat sich die Lage in den Betrieben deshalb
drastisch verändert. Die guten Arbeitsbedingungen wurden untergraben. War in den 60er Jahren noch die
Rede von einem Nine-to-five-Job (von 917 Uhr), ohne Schichtarbeit, führten in den 70er Jahren
einige Unternehmen das Zweischichtensystem ein; derzeit arbeiten beinahe alle Fabriken mit drei Schichten,
manche auch mit einer vierten Wochenendschicht. Dadurch hat sich die Kapazität enorm ausgeweitet, was
das Problem der Überproduktion natürlich verstärkt. Bei VW beträgt sie mehr als 20%.
Die Umstrukturierung bei VW ist eine neue
Strophe in einem Lied, das wir bereits seit einiger Zeit kennen: Die Multis spielen die Beschäftigten
der verschiedenen Filialen bei der Zuteilung neuer Modelle gegeneinander aus und versuchen so, die
Arbeitsbedingungen weiter zu untergraben. Die Fabrik, in der die Beschäftigten die meisten
Zugeständnisse machen, darf dann das neue Modell produzieren. Damit wird ihre Beschäftigung
garantiert allerdings nur vorläufig.
Auch die Gewerkschaften werden auf diese Weise geschickt gegeneinander ausgespielt. Das Management
führt die hohen Arbeitskosten an: Pro Stunde betragen sie in Portugal ein Viertel derjenigen in
Deutschland, in China gar nur ein Fünfzigstel! Diese Zahlen beziehen sich jedoch die Arbeitskosten pro
Produkteinheit, sie berücksichtigen damit die Produktivität, die das einzig gültige
Kriterium ist. VW-Vorst kann sich einer recht hohen Produktivität rühmen. Doch der Druck aus dem
Ausland macht sich bemerkbar. Seit kurzem ist China zum ersten Mal ein Nettoexporteur von Autos geworden.
Für VW haben Investitionen in China und Russland Priorität.
In Belgien wirft man der IG Metall
Nationalismus vor, weil sie dafür gestimmt hat, auf Kosten von VW-Vorst für denselben Lohn
länger zu arbeiten, um die Beschäftigung zu sichern. Dass die deutsche Gewerkschaft durch das
System der Mitbestimmung in die Organisierung der Umstrukturierung einbezogen ist, ist in Belgien
natürlich nicht unbekannt. Gleichwohl fallen auch in Deutschland viele tausend Jobs bei VW weg:
Insgesamt sollen 20000 von 103000 Arbeitsplätzen gestrichen werden. Als diese Pläne
angekündigt wurden, kletterten die Aktienkurse sofort um 15% nach oben.
Wegen der Überkapazität im
Automobilsektor werden eine ganze Reihe von Fabriken geschlossen. Menschen werden ins Elend gestoßen,
weil zu viele Autos produziert werden, das ist das Paradox. In den letzten zehn Jahren hat die
Autoindustrie dennoch, oder genau deswegen, satte Gewinne erzielt. So notierte VW 2005 einen Gewinn von
1,12 Milliarden Euro, im ersten Halbjahr 2006 bereits über 2 Milliarden Euro das ist ein
Anstieg von 56%. Seit der Ankündigung von Massenentlassungen im Jahr 2004 stieg der Gewinn um 89,5%,
an der Börse boomte die Aktie mit einem Anstieg von 30 Euro auf heute 81,25 Euro. VW, die Nummer 1 in
Europa, konnte seinen Marktanteil auf dem Kontinent kürzlich auf 19,2% steigern. Die Gewinne der VW-
Gruppe sind vor allem Audi zu verdanken. Die Marke VW selbst verlor im Jahr 2005 eine Milliarde Dollar beim
Export in die USA, unter anderem wegen des starken Euro.
Diese Probleme hat die Autoindustrie auch
andernorts. Nicht zuletzt in Detroit, der Wiege der Autoindustrie in den USA, regnet es Entlassungen und
Umstrukturierungen in den großen Niederlassungen von General Motors, dem Marktführer in den USA.
Oft sind es auch Manöver, um den Gewerkschaften Zugeständnisse abzuringen.
Menschen vom Schlag des belgischen
Ministerpräsidenten Verhofstadt mögen noch so sehr ihr Mitgefühl mit den VW-
Beschäftigten beteuern und über die Konzerne klagen. Sie haben selbst ihre Macht aus der Hand
gegeben, um das neoliberale Projekt der Marktliberalisierung zu befördern. Die EU lässt die
Konzerne gewähren. Sie schaut genau hin, ob auch ja der Wettbewerb nicht verfälscht wird. Ob
Tausende dabei ihren Job verlieren, danach kräht kein Hahn.
Aber nicht nur auf dem sozialen, auch auf
ökologischem Gebiet legt die EU der Autoindustrie kaum Steine in den Weg. So haben die Autobauer ihr
Versprechen, den CO2-Ausstoß in Europa bis 2008 um 25% zu senken, schlicht ad acta gelegt.
Matthias Lievens
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04