SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2007, Seite 08

Autoindustrie

Auf dem absteigenden Ast

Weil zu viele Autos produziert werden, werden immer mehr Menschen vor die Tür gesetzt

Sieben Wochen streikten Ende letzten Jahres die belgischen VW-Arbeiter im Brüsseler Werk Vorst gegen die angekündigte Entlassung von 4000 Mitarbeitern. Am Ende konnten sie durchsetzen, dass "nur" 3200 entlassen und die Entlassenen mit 25000 bis 144000 Euro abgefunden werden. Die Produktion des Polo wurde von 10000 auf 46000 Autos aufgestockt — was Standorte in Pamplona und Bratislava gefährdet. Überproduktion und Globalisierung stellen den wichtigsten Industriezweig der westlichen Welt in Frage.

Die Autoindustrie ist ein Schlüsselsektor des Kapitalismus. Seit Beginn des 20.Jahrhunderts gibt dieser Sektor den Ton an. Neue technologische Entwicklungen, Managementkonzepte, Formen der Arbeitsorganisation wurden oft erst im Automobilbau getestet, bevor sie anderswo verbreitet wurden. Vom Fließband und dem wissenschaftlichen Arbeitsmanagement von Ford und Taylor bis zu den japanischen Experimenten mit dem Ohnismus (Toyotismus) und der Lean Production — immer wies der Automobilsektor den Weg. Auch heute sehen wir in einem Unternehmen wie VW neue Managementtechniken am Werk: den Einsatz von Subunternehmern, Flexibilisierung, die Konkurrenz zwischen verschiedenen Filialen desselben multinationalen Unternehmens... Auch die Wellenbewegung der ökonomischen Krisen kann am Automobilsektor abgelesen werden, er bildet auch diesbezüglich die Vorhut.
Der Automobilsektor verdient noch aus einem anderen Grund besondere Aufmerksamkeit: Die enorme Konzentration von Beschäftigten in Mammutfabriken machte den Automobilsektor im 20.Jahrhundert zu einer Speerspitze des Arbeiterkampfs. Einen Höhepunkt bildeten die Arbeitskämpfe in der gewaltigen Autoindustrie von Detroit. In Belgien ist das VW-Werk in Vorst (Brüssel) für seine Tradition von militantem Arbeiterwiderstand bekannt.

Vergangener Ruhm?

Belgien galt lange als ein Zentrum der Autoproduktion. Hier wurde die größte Anzahl Autos pro Kopf der Bevölkerung hergestellt. Mit der Schließung von Renault-Vilvoorde, den Umstrukturierungen bei Ford, Opel und jetzt VW droht sich das Bild zu ändern. Bis Mitte der 60er Jahre war die Produktion stark national verankert. Die hohen Importzölle für Fertigwagen und die niedrigen Importzölle für Zubehörteile bewirkten, dass die führenden Autobauer nahezu gezwungen waren, in jedem einzelnen Land eine Produktion zu unterhalten, die auf den lokalen Markt ausgerichtet war. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es deshalb in Belgien Fabriken von BMW, Mercedes, Fiat und Peugeot.
Der Aufbau der Europäischen Gemeinschaft zerstörte dieses System. Sie setzte ein Verbot hoher Importzölle durch und ermöglichte damit eine Zentralisation der Automobilproduktion auf europäischer Ebene. Nun war es nicht mehr erforderlich, dass jedes Unternehmen auf dem lokalen Markt anwesend war. Stattdessen entstanden Mammutunternehmen, die an einzelnen zentralisierten Standorten für den gesamten europäischen und den Weltmarkt produzierten. Belgien wurde zu einer Drehscheibe der Automobilproduktion in Europa.
Der belgische Automobilsektor erfuhr dadurch eine enorme Expansion: Von 200000 Autos zu Beginn der 60er Jahre stieg die Produktion auf 850000 am Ende des Jahrzehnts, davon waren nur 10% für den heimischen Markt bestimmt. Fünf Großkonzerne (Renault, VW, Ford, Volvo und Opel) ließen in Belgien produzieren. Doch seit gut zehn Jahren stößt dieser Produktionsanstieg mehr und mehr an seine Grenze. Der Sektor kämpft mit ernsthaften Problemen der Überproduktion. Durch die Einführung neuer Modelle konnten kurzfristig noch Produktionssteigerungen erreicht werden, aber mit dem Ende des "Lebenszyklus" eines solchen Modells sank die Produktion erneut.
Seit einigen Jahren wächst der Automobilmarkt in Westeuropa kaum noch. Es wird im Wesentlichen nur noch für den Ersatz älterer Wagen produziert. Das hängt sicher mit der demografischen Entwicklung zusammen, in erster Linie aber auch mit der Krise der neoliberalen Politik, die bewirkt, dass das Gros der Haushalte in den letzten zwanzig Jahren kaum eine Steigerung des Realeinkommen gekannt hat. Dadurch schwankt die Nachfrage nach Autos stark: In einer Phase rückläufiger Konjunktur fährt man den alten Wagen länger, springt die Konjunktur wieder an, steigt die Nachfrage nach Autos spürbar. Die Sättigung des Marktes verstärkt die Konkurrenz unter den Autobauern, sie drückt sich in immer schnelleren technologischen Entwicklungen und in der Herausgabe neuer Modelle aus. Die Dynamik dieser Konkurrenz ist dafür verantwortlich, dass ständig neues konstantes Kapital in diesem Sektor erforderlich ist. Damit kann nach neuen Technologien und neuen Modellen geforscht werden, während ein Teil der Arbeitskräfte in die industrielle Reservearmee abgeschoben wird und vorübergehend Surplusgewinne eingestrichen werden. Bis die Konkurrenten die letzten Neuheiten kopieren oder gleichartige Modelle lancieren.
Das enorme Bedürfnis nach Zunahme von konstantem Kapital droht natürlich die Profitrate zu schmälern. Eine Form, dem entgegenzuwirken, ist der Druck auf die Arbeitskraft. Seit den 60er Jahren hat sich die Lage in den Betrieben deshalb drastisch verändert. Die guten Arbeitsbedingungen wurden untergraben. War in den 60er Jahren noch die Rede von einem Nine-to-five-Job (von 9—17 Uhr), ohne Schichtarbeit, führten in den 70er Jahren einige Unternehmen das Zweischichtensystem ein; derzeit arbeiten beinahe alle Fabriken mit drei Schichten, manche auch mit einer vierten Wochenendschicht. Dadurch hat sich die Kapazität enorm ausgeweitet, was das Problem der Überproduktion natürlich verstärkt. Bei VW beträgt sie mehr als 20%.
Die Umstrukturierung bei VW ist eine neue Strophe in einem Lied, das wir bereits seit einiger Zeit kennen: Die Multis spielen die Beschäftigten der verschiedenen Filialen bei der Zuteilung neuer Modelle gegeneinander aus und versuchen so, die Arbeitsbedingungen weiter zu untergraben. Die Fabrik, in der die Beschäftigten die meisten Zugeständnisse machen, darf dann das neue Modell produzieren. Damit wird ihre Beschäftigung garantiert — allerdings nur vorläufig.

Grenzenlose Konkurrenz

Auch die Gewerkschaften werden auf diese Weise geschickt gegeneinander ausgespielt. Das Management führt die hohen Arbeitskosten an: Pro Stunde betragen sie in Portugal ein Viertel derjenigen in Deutschland, in China gar nur ein Fünfzigstel! Diese Zahlen beziehen sich jedoch die Arbeitskosten pro Produkteinheit, sie berücksichtigen damit die Produktivität, die das einzig gültige Kriterium ist. VW-Vorst kann sich einer recht hohen Produktivität rühmen. Doch der Druck aus dem Ausland macht sich bemerkbar. Seit kurzem ist China zum ersten Mal ein Nettoexporteur von Autos geworden. Für VW haben Investitionen in China und Russland Priorität.
In Belgien wirft man der IG Metall Nationalismus vor, weil sie dafür gestimmt hat, auf Kosten von VW-Vorst für denselben Lohn länger zu arbeiten, um die Beschäftigung zu sichern. Dass die deutsche Gewerkschaft durch das System der Mitbestimmung in die Organisierung der Umstrukturierung einbezogen ist, ist in Belgien natürlich nicht unbekannt. Gleichwohl fallen auch in Deutschland viele tausend Jobs bei VW weg: Insgesamt sollen 20000 von 103000 Arbeitsplätzen gestrichen werden. Als diese Pläne angekündigt wurden, kletterten die Aktienkurse sofort um 15% nach oben.
Wegen der Überkapazität im Automobilsektor werden eine ganze Reihe von Fabriken geschlossen. Menschen werden ins Elend gestoßen, weil zu viele Autos produziert werden, das ist das Paradox. In den letzten zehn Jahren hat die Autoindustrie dennoch, oder genau deswegen, satte Gewinne erzielt. So notierte VW 2005 einen Gewinn von 1,12 Milliarden Euro, im ersten Halbjahr 2006 bereits über 2 Milliarden Euro — das ist ein Anstieg von 56%. Seit der Ankündigung von Massenentlassungen im Jahr 2004 stieg der Gewinn um 89,5%, an der Börse boomte die Aktie mit einem Anstieg von 30 Euro auf heute 81,25 Euro. VW, die Nummer 1 in Europa, konnte seinen Marktanteil auf dem Kontinent kürzlich auf 19,2% steigern. Die Gewinne der VW- Gruppe sind vor allem Audi zu verdanken. Die Marke VW selbst verlor im Jahr 2005 eine Milliarde Dollar beim Export in die USA, unter anderem wegen des starken Euro.
Diese Probleme hat die Autoindustrie auch andernorts. Nicht zuletzt in Detroit, der Wiege der Autoindustrie in den USA, regnet es Entlassungen und Umstrukturierungen in den großen Niederlassungen von General Motors, dem Marktführer in den USA. Oft sind es auch Manöver, um den Gewerkschaften Zugeständnisse abzuringen.
Menschen vom Schlag des belgischen Ministerpräsidenten Verhofstadt mögen noch so sehr ihr Mitgefühl mit den VW- Beschäftigten beteuern und über die Konzerne klagen. Sie haben selbst ihre Macht aus der Hand gegeben, um das neoliberale Projekt der Marktliberalisierung zu befördern. Die EU lässt die Konzerne gewähren. Sie schaut genau hin, ob auch ja der Wettbewerb nicht verfälscht wird. Ob Tausende dabei ihren Job verlieren, danach kräht kein Hahn.
Aber nicht nur auf dem sozialen, auch auf ökologischem Gebiet legt die EU der Autoindustrie kaum Steine in den Weg. So haben die Autobauer ihr Versprechen, den CO2-Ausstoß in Europa bis 2008 um 25% zu senken, schlicht ad acta gelegt.

Matthias Lievens

Aus: Rood (Brüssel), Dezember 2006/Januar 2007 (Übersetzung: Hans-Günter Mull).



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