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"Und doch brauchen wir heute mehr denn je eine Europäische Union,
die eine wirksame Menschenrechtspolitik verfolgt. Die anhaltenden Krisen im Nahen Osten und im Sudan
verlangen von Europa eine Rolle, die sich auf kollektive Stärke und auf die Überzeugung des
eigenen Wertekanons stützt, damit die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, die bereits
fortschreitende Menschenrechtskatastrophe aufzuhalten, überwunden werden kann. Eine weitere wichtige
Aufgabe der EU besteht darin zu verhindern, dass sich die Polarisierung des erst vor einem halben Jahr
eingerichteten UN-Menschenrechtsrats weiter verstärkt."
"Gerade jetzt, wo der EU von ihrem
eigenen Parlament mit einem vernichtenden Bericht bescheinigt wurde, dass Europa an gravierenden
Menschenrechtsverletzungen beteiligt war, wäre es ein Zeichen echter Führungsstärke, wenn
die deutsche Ratspräsidentschaft Verantwortung übernehmen und den Rat zur Bekräftigung
bewegen würde, dass die Union in der Tat die Pflicht hat, Entführungen, Folterungen,
Verschwindenlassen zu unterbinden und zu verhindern."
Starke Worte, treffliche Worte der
bundesdeutschen Sektion von Amnesty International, die Ende des letzten Jahres ein "Zehn-Punkte-
Programm ... für die deutsche Ratspräsidentschaft der Europäischen Union" vorgelegt
hat? Nein! Von hohlem Pathos getragene Worte! Sie dienen der Kontinuität europäischer (Selbst-
)Täuschung. Sie schallen umso lautleerer, je mehr man das verdienstvolle menschenrechtliche Engagement
von AI unterstützt. Die irrend wirrenden Annahmen überpurzeln sich. Als sei die EU alles in allem
nach innen und außen eine Bastion materiell verwirklichter Menschenrechte.
Das blaue Papier von AI hebt denn auch an:
"Die Menschenrechtspolitik der Europäischen Union (EU) ist volljährig geworden." Die
Zuckergusssprache, die unionseuropäische Reden ohnehin durchwaltet, der "goodspeak"
(Orwell), die Schummelsprache herrschender Politik, sie wird von AI noch überzuckert. Als
vermöchte die deutsche, auf ein halbes Jahr begrenzte Ratspräsidentschaft, selbst wenn sie wollte
aber kann sie denn wollen?! , die EU ins schmale, steilufrig umstellte Fahrwasser binnen- und
außereuropäisch wirksamer Menschenrechtspolitik zu steuern. Welch groteske Fehleinschätzung
allein der gegebenen institutionellen Möglichkeiten. Nicht davon zu reden, dass "die
Kanzlerin" "im Ungefähren bleibt", wie ihr Renate Künast in der insgesamt ebenso
flach-vagen Bundestagsdebatte zur deutschen Ratspräsidentschaft am 14.12.2006 vorgehalten hat. Was
könnte sie denn schon die "arme" Merkel?! "Führungsstärke"
demonstrieren, wie AI verlangt, indem es sich nahezu vollkommen auf die fehl leitende Arroganz etablierter
Politik, ihrer Institutionen und Funktionen einlässt?
Auch kritische Feststellungen Oskar
Lafontaines in besagter Debatte, die EU kennzeichneten "Lohndumping, Sozialdumping und
Steuerdumping", dienen allenfalls dazu, sich und einer Minderheit anderer rhetorisch selbst zu
genügen. Diese Kritik bis hin zur wohlfeilen Forderung, eine europäische Verfassung müsse
durch "Volksabstimmung" abgesegnet werden, durchbricht nicht den herrschenden Rahmen. Sie
unterstellt, es genüge ein runderneuerter Verfassungsentwurf und einige andersgewillte Politiker
und schon laute die Devise: Freie Fahrt für ein sozialpolitisch angemessen im Weltmeer
steuerndes Europa. Heißt linke Politik, Illusionen verbreiten, bis man selbst
herrschaftsgemäß von den Fleischtöpfen Ägyptens kosten kann?
Als bornierter Ideologe trifft Guido Westerwelle den europäischen Sachverhalt, und damit
unausgesprochen all seine Probleme besser: "Deswegen stellt der Binnenmarkt", so
wortquillt er in derselben Debatte, "gewissermaßen ein Fitnessprogramm auf diese
Herausforderungen dar". Gemeint ist vor allem der "weltweite Wettbewerb". Hier strahlt das
Interesse, das die EU-Staaten zusammenhält und ihre Expansion durchpulst. Hieraus verstehen sich die
"Maßverhältnisse", die den erneut im goodspeak formelhaft wiederholten "Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" bestimmen: den binneneuropäischen Wohlstand für die
mehrheitlichen Interessen ungleich und expansiv zu sichern. Darum all die enormen Anstrengungen, Europa
einzugrenzen und alles hart auszugrenzen, was diesen Interessen gefährlich werden könnte (siehe
als letzte Verlautbarung dieser Interessen die "Schlussfolgerung des Vorsitzes Europäischer Rat
vom 14. und 15.Dezember 2006").
Neben der puren, präventiv gekehrten
Repression steht beispielsweise das "Migrationsmanagement" im Zentrum. "Effektive
Identifizierung", verstärkte "Grenzkontrollen", auf
"Arbeitsmarktbedürfnisse" abgestimmte "zirkuläre und temporäre
Migration", der Ausbau der "europäischen Grenzschutzagentur" mit dem nicht
zufällig militaristisch klingenden Namen "Frontex" sollen vorabgetrieben werden. Dazu sind
ein "europäisches Überwachungssystem" ebenso erforderlich wie die "Aufstellung
schneller Grenzschutzteams". Diesen könnte, so wird erwogen, im Zusammenhang "der
humanitären Hilfe" eine "Modellfunktion" zukommen. Lager, in die
"Abschüblinge" gepfercht werden, sind darum innerhalb der hochzivilisierten
europäischen Staaten ebenso selbstverständlich wie Lager vor den Toren der EU. Beispielsweise im
neuen westlichen Musterstaat Libyen.
In konkurrenzstürmischen Zeiten ist
jedoch nicht nur das weltmarkt- und weltmilitärexpansive Europa gegen alle "unerwünschten
Ausländer" auf alle erdenklichen Arten vor- und nachzusichern was vor allem die neue
"Afrikapolitik" ausmacht. In solchen Zeiten muss auch im Innern, jeder Mitgliedstaat für
sich und in freundschaftlichem Wettbewerb mit dem anderen effizient, flexibel und mobil hochgerüstet
werden.
Dem entsprechen eine lerntödliche
Bildungspolitik, eine Ungleichheit und Verelendung fördernde Sozial- und Arbeitsmarktpolitik im
nationalstaatlich-unionseuropäischen Ballett. Sie entsprechen der monomanen "Lissabon-
Strategie", die EU zur ökonomischen Führungsmacht der Welt zu trimmen. Darum auch die
globale Militärpräsenz. Darum müssen die BRD wie die EU an allen Hindukuschs dieser Welt
tödlich, zerstörerisch, mit einigen Brisen verfehlter "Entwicklungshilfe" gesichert
werden. Dem dient der Aufbau einer unsäglichen "Verteidigungs- und
Sicherheitsidentität" als das wahre Markenzeichen der EU.
Wer die pazifistische Idee eines Europa, das in seiner Vielfalt um die besten demokratischen und
sozialistischen Gestaltungen in einem dissonanten Konzert vieler Instrumente ringt, noch nicht
"realpolitisch" der paradoxen Dynamik Multipler Sklerose geopfert hat, der ist heute individuell
und kollektiv mehr denn je gefordert. Der darf nicht an dem glücklicherweise in Frankreich und Holland
gescheiterten, 2003 vorgelegten "Verfassungsentwurf" ansetzen, um einem hybriden
Regulierungskomplex global kapitalistischer ökonomischer Machtungetüme einen zusätzlichen
Legitimationsschleier verpassen zu helfen. Als habe es sich bei diesem von wenigen Spitzenbürokraten
gezimmerten Entwurf von oben je um mehr als den Schein einer Verfassung gehandelt.
Selbst die schon vorab verabschiedete
"Charta der Grundrechte der Europäischen Union" zeichnet sich primär durch zwei
Eigenschaften aus: durch ihren Kern, die vier Grundfreiheiten der EU: Freiheit von Kapital,
Güterverkehr, Dienstleistung und im abhängigen Nachklapp von Arbeit; und durch ihre
nachdrückliche Unverbindlichkeit.
Die Riesenaufgabe besteht in einem
Doppelten: Zum einen müssen Verbindungen und Kooperationen zwischen europäischen wie
anderen Ländern "von unten" lebendig inszeniert werden. Hier sind oft sehr brauchbare
Ansätze vorhanden. Ihnen wird vom Schlagschatten des Brüsseler Monstrums das nötige Licht
geraubt.
Zum anderen muss konzeptionell und in
langsam abgestimmten Schritten ein demokratischer Verfassungsrahmen gebastelt werden, der die regionale,
die ethnische, auch gegebenenfalls die nationale Vielfalt bewahrt, zugleich aber Prozesse der Kooperation
und des Ausgleichs erlaubt, die im europäischen wie globalen Kontext erforderlich sind. Nur dann kann
gehofft werden, dass die enormen aggressiven Potenzen und Aktualitäten, die in der globalen
kapitalistischen Machtdynamik täglich weiter akkumuliert werden, von den europäischen
Ländern mit Widerlagern versehen werden und einem wahrhaft kosmopolitischen Gegenentwurf weichen.
Politische Fantasie, das rarste Gut, ist am
meisten gefragt. Dazu immer erneute Anstrengungen sie kommunal, regional zu gestalten. Den
lebensbedrohlichen Torheiten der innovationstollen und zugleich innovationsdummen EU und ihrer schon in
sich selbst alles andere als demokratisch menschenrechtlich funktionstüchtigen Mitgliedstaaten ist nur
mit wohlbedachter und begründeter Opposition zu begegnen. So man nicht in der riesigen
Täuschungssuppe mit nicht wenigen Fettaugen wurstsüchtig mitschwimmen will (und muss). Wer
möchte nicht, und sei der Himmel noch so verdunkelt, unter Brüsseler Geldregen stehen? Gerade
weil der so ungleich tropft.
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