SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2007, Seite 09

Vor 30 Jahren bei Lucas Aerospace

Ohne Bosse ist besser

Über dreißig Jahre ist es her, dass britische Gewerkschafter und Techniker das damals und auch heute kaum Denkbare taten: Sie legten einen Entwurf vor, der nicht nur die Industrie und ihre Produktionsformen, die Gesellschaft und ihre Machtverhältnisse, sondern auch den Umgang mit der Natur und den Ressourcen radikal in Frage stellte.
Das Besondere daran: Ihr Entwurf, den sie im Januar 1976 der Öffentlichkeit vorstellten, bestand nicht aus einem Papier, das eine neue Welt skizzierte. Die Beschäftigten des Luftfahrt- und Rüstungskonzerns Lucas Aerospace konnten mehr vorweisen. In mühsamer Kleinarbeit hatten sie eine Reihe von Produkten entworfen und zum Teil bis zur Serienreife durchkonstruiert, die in erster Linie dem Menschen dienen sollten.
"Wir haben damals auf einem kleinen Gebiet große Fragen aufgegriffen", erinnert sich Mike Cooley, in den 70er Jahren Entwicklungsingenieur bei Lucas Aerospace, "und sind damit auf ein enormes Interesse gestoßen. Dabei hatten wir nur die Konsequenzen aus einer Reihe von Widersprüchen gezogen."
Zu diesen Widersprüchen gehörte bspw. der Gegensatz zwischen Hochtechnologie und Armut, zwischen dem Potenzial industrieller Fertigung und der gesellschaftlichen Realität. "Wir haben damals bei Lucas Aerospace die raffiniertesten Maschinen produziert, Hochpräzisionsgeräte angefertigt, Nachbrenner für Düsentriebwerke gebaut und Bordcomputer für Militärjets entworfen. Wir hatten Versuchseinrichtungen und Klimakammern, in denen die Bedingungen des Weltraums simuliert werden konnten — und draußen, vor den Werkstoren, starben jeden Winter Tausende von alten Menschen an Unterkühlung, weil sie sich keine Heizung leisten konnten."
Ein weiterer Widerspruch, der die Beschäftigten umtrieb, betraf die Versprechungen, die die Automatisierung und Computerisierung der Produktionsprozesse begleitet hatten: "Mikroprozessoren, Automaten und Roboter würden den Arbeiter von mechanischen, entseelenden, selbstzerstörerischen Tätigkeiten befreien, hieß es damals", sagt Cooley. Herausgekommen sei jedoch das Gegenteil: degradierte Facharbeiter, deren Fantasie und Vorstellungskraft nicht mehr gefragt waren, entwürdigte Produzenten, die kaum mehr waren als Maschinenanhängsel.

Die Rationalisierungswelle

Lucas Industries Ltd. war bereits ein großes britisches Unternehmen, als es zu Beginn der 60er Jahre die Luft- und Raumfahrtsparte des noch größeren Elektrokonzerns General Electric Company (GEC) aufkaufte. Lucas belieferte viele Industriezweige, vor allem die damals noch existierende britische Automobilindustrie. 1970 beschäftigte der Gesamtkonzern rund 80000 Arbeitskräfte, für die Konzerntochter Lucas Aerospace arbeiteten rund 18000 Spezialisten in 17 Werken. Doch diese großteils hoch qualifizierten Arbeiter kamen immer mehr unter Druck.
Die Einführung nummerisch gesteuerter Maschinen führte überall in Großbritannien zu Rationalisierungen und Massenentlassungen. Auch Lucas Aerospace kündigte Entlassungen an. Anfang der 70er Jahre konnten die Beschäftigen und das von ihnen gegründete Combine Shop Stewards Committee, eine Art inoffizielle Gesamtpersonalvertretung aller 17 Werke, Kündigungen aber noch verhindern.
Als das Management von Lucas Aerospace 1974 erneut von 4000 Entlassungen sprach, begann das Combine Committee nach anderen Lösungen zu suchen — und wandte sich an die Labour Party. Die Partei, die gerade die Unterhauswahl gewonnen hatte, diskutierte zu jener Zeit darüber, wie sie ihre Wahlversprechen umsetzen sollte; eine ihrer Zusagen war gewesen, die Luftfahrtindustrie zu verstaatlichen. Also besuchte eine große Delegation von Shop Stewards (Vertrauensleuten) den Industrieminister Tony Benn.
Doch Benn lehnte eine Verstaatlichung von Lucas Aerospace ab; da würden die anderen Minister nie zustimmen. Aber er versprach den Shop Stewards, sie in ihrem Kampf zu unterstützen. Und so beschloss das Combine Committee im Januar 1975, in die Offensive zu gehen. Im ersten Schritt schrieb es 180 Wissenschaftler und Universitäten an: Wie können wir unsere Fähigkeiten und Kenntnisse für das Gemeinwohl einsetzen? Gerade mal vier universitäre Fachbereiche antworteten.
Das Desinteresse bringt Mike Cooley noch heute in Rage: "Diese arrogante Elite verwechselt immer noch Sprachfertigkeit mit Intelligenz. Dabei zeigt sich Intelligenz meist in ganz anderen Formen: wie man sich organisiert, wie man konkrete Probleme bewältigt, wie man eine Sache anpackt." Er habe es während der Entwicklung des Lucas-Plans unzählige Male erlebt, dass ungelernte Arbeiter aufgrund ihres unformulierten, aber latent vorhandenen Wissens Lösungen für Probleme vorschlugen, die weder eine Datenbank noch ein Akademiker gefunden hätte.

Der Alternativplan

"Nach der Umfrage bei den Universitäten", so Cooley, "taten wir das, was wir von vornherein hätten tun sollen: Wir fragten die Arbeiter." Und so entwarf das Combine Committee einen Fragebogen, der an die Shop Stewards aller Werke ging: Wie viele Leute mit welchen Qualifikationen habt ihr? Welche Maschinen stehen zu eurer Verfügung? Wie wichtig sind die Manager? Könnte die Belegschaft das Werk auch selbst betreiben? An welchen Produkten mangelt es in eurer Umgebung, in der Gesellschaft, in der Welt?
Innerhalb weniger Wochen trafen unzählige Vorschläge ein. In allen Werken kam es zu Belegschaftsversammlungen, überall setzten sich Ingenieure, Techniker, Facharbeiter zusammen, entwickelten neue Ideen und setzten sie um. Sie fertigten Komponenten während der Arbeitszeit, trafen sich zu Besprechungen in der Mittagspause oder Freitag nachmittags, skizzierten Pläne und tüftelten an Prototypen.
Nach rund einem Jahr hatte das Combine Committee insgesamt 150 Projekte beisammen, präsentierte der Konzernleitung im Januar 1976 das Konzept und legte es später der Öffentlichkeit vor.
"Das Management reagierte schockiert", erinnert sich Cooley. "Da trat ihnen plötzlich eine Belegschaft gegenüber, die ganz andere Güter herstellen wollte." Kein Einziger der zu diesem Zeitpunkt noch etwa 15000 Beschäftigten arbeitete bei Lucas Aerospace, weil er gerne im Rüstungsbereich tätig war.
Was die Konzernleitung verblüffte, war nicht nur die Frechheit ihrer Arbeitskräfte, die es wagten, andere Produkte zu verlangen. Die Shop Stewards forderten auch andere Produktionsformen: Wenn nicht mehr das Kapital und der Markt darüber bestimmen, was fabriziert wird, dann müssen die Beschäftigten auch die Kontrolle über die Arbeitsabläufe bekommen.
Der Lucas-Plan enthielt auch eine fundamentale Kritik der technologischen Entwicklung. Die technische Entwicklung, sagt Cooley, werde auch heute noch von den Militärs vorangetrieben, in deren Konzepten der Mensch nur als Opfer eine Rolle spiele, ansonsten aber ausgeschaltet werden muss. "Unser Plan fußte hingegen auf einem Konzept: Wir wollten die Menschen aus ihrer Passivität lösen, die ihnen das System aufgezwungen hat."

Die Reaktion

Die Konzernleitung von Lucas Aerospace ließ die Shop Stewards Monate nach dem ersten Gespräch wissen, dass sich das Unternehmen "auch künftig auf die traditionellen Geschäftsbereiche Luftfahrtsysteme und Komponenten für die Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie konzentrieren" wolle. Die Botschaft war eindeutig: Wer, wenn nicht wir, gibt hier eigentlich das Kommando?
Die Öffentlichkeit reagierte anders. Die seriösen Medien berichteten ausführlich über den Lucas-Plan. Die Financial Times nannte ihn den "radikalsten Plan, den Arbeiter jemals für ihre Firma vorgelegt haben", und in den folgenden Monaten griffen überall im Land Belegschaften die Idee auf. So beschlossen die Beschäftigten des Chrysler-Werks in Coventry angesichts der "weit verbreiteten ökologischen Kritik an dem sozial unverantwortlichen Transportmittel Auto", ebenfalls ein Alternativkonzept zu entwickeln, und 1978 befürwortete der Labour-Parteitag einhellig den Lucas-Plan.
Doch wie so oft ignorierte die Labour- Regierung den Beschluss der Parteitagsdelegierten. Auch war Tony Benn zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zuständig — er wechselte 1975 ins Energieministerium.
Dass der Lucas-Plan nie umgesetzt wurde, lag auch an den britischen Gewerkschaften. Das Unternehmen befand sich in der Defensive. Unabhängige Marktforschungen hatten ergeben, dass die von der Belegschaft entwickelte Wärmepumpe allein in der EU einen Umsatz von einer Milliarde Pfund bringen könnte — doch die eigenen Organisationen reagierten skeptisch bis ablehnend. Ohne die Hilfe der Gewerkschaften und die finanzielle Unterstützung der Labour-Regierung konnten die Lucas-Aerospace-Beschäftigten ihr Projekt aber nicht weiter verfolgen.
Dass diese das Projekt fallen ließen, hatte mehrere Ursachen. Zum einen stand die KP an der Spitze der Technikergewerkschaft TASS dem basisdemokratischen Ansatz der Lucas-Beschäftigten höchst skeptisch gegenüber. Die Lucas- Initiative passte auch nicht zum Ökonomismus, der in vielen Gewerkschaften verbreitet ist: "Viele hängen immer noch der Idee an, dass der Lohn alles wettmacht, wenn er nur hoch genug ist", sagt Cooley. 1981 schlug das Lucas-Management zurück: Es bot Mike Cooley einen Karrieresprung an, der ihn von der Basis abgehoben hätte. Andernfalls würde ihm gekündigt. Cooley lehnte ab: "Sonst hätten alle gedacht, ich habe die Seiten gewechselt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Margaret Thatcher die Regierungsmacht übernommen. Und Lucas Aerospace hatte — wegen der "ungünstigen Marktentwicklung" — nochmals Tausende entlassen.
Was blieb also übrig von der Vision? "Viele unserer Ideen wurden mittlerweile umgesetzt. Wir waren der Zeit einfach dreißig Jahre voraus", sagt Mike Cooley. Und allmählich dämmere immer mehr Menschen, dass nicht stimmt, woran viele lange Zeit glaubten — dass es für jedes Problem eine technische Lösung gibt.

Pit Wuhrer

Die Langfassung des Artikels erschien zuerst in der WoZ vom 15.2.2007.



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