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Die Analyse von Marx ist heute aktueller denn je. Der Kapitalismus kehrt zu
Ausbeutungsformen zurück, die es in der Epoche der freien Konkurrenz, also zu Marx Zeiten, schon
einmal gab; sie sind dem, was Marx kennengelernt hat, viel ähnlicher als die Herrschafts- und
Ausbeutungsformen, die wir in den Jahren des Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Das
"Kommunistische Manifest" nimmt das, was man heutzutage Globalisierung nennt, fast visionär
vorweg.
Marx hat den Kapitalismus als globales
Phänomen analysiert, er hat keine Handlungsanleitung für den Weg zur Revolution in einem
einzelnen Land ausgearbeitet. Er hatte auch einen weiten Begriff von Proletariat, nicht einen auf die
Industriearbeiterschaft verengten. Die kapitalistische Durchdringung auch noch des letzten Winkels der Welt
hat heute Ausmaße angenommen, die Marx sich nicht hätte träumen lassen, und die Klasse der
Lohnabhängigen ist heute so zahlreich wie noch nie. Insofern müssen wir an seiner Analyse keine
Abstriche machen. Das bedeutet natürlich nicht, dass überall auch die subjektiven Bedingungen
für die Abschaffung des privaten Eigentums an Produktionsmitteln gegeben wären.
Auch im Nahen Osten zeigt sich die
fundamentale Aktualität der marxistischen Kategorien. Man braucht nur zu sehen wie schwer hier die
"harten Interessen" wiegen, wie sehr der Kampf um das Öl und andere natürliche
Ressourcen die Politik unmittelbar bestimmen und das treibende Moment der imperialistischen Intervention
bildet.
Andererseits ist dies auch eine Region der
Welt, in der es zahlreiche gesellschaftliche Phänomene fortleben, die aus früheren
geschichtlichen Perioden überkommen sind die Bedeutung der Religion, das Fortleben von
Stammesgemeinschaften, usw. Diese passen nicht unmittelbar in das Schema der marxschen Analyse. Marx war
sich dessen durchaus bewusst, er erhob nicht den Anspruch, alles auf der Welt in sein Schema pressen zu
können, er hat ein Instrumentarium entwickelt, um die bürgerliche Gesellschaft zu beschreiben.
Mit der marxschen Analyse können wir
die Haupttriebkräfte der imperialistischen Intervention begreifen, die Interessen der einheimischen
herrschenden Klassen, wir verstehen, dass die materiellen Interessen eine Triebkraft gesellschaftlichen und
politischen Handelns sind, erkennen Klassenkonflikte, selbst wenn diese völlig verzerrte Formen
annehmen. Im Nahen Osten werden soziale Konflikte noch in Formen gelebt, die den Bauernkriegen der
Reformation näher kommen als dem, was Marx im 19.Jahrhundert in Europa erlebt hat. Es gibt in diesen
Gesellschaften spezifische Sozialstrukturen, Clans, Stämme u.a., für deren Verständnis die
Lektüre des arabischen Gelehrten Ibn Khaldun aus dem 14.Jahrhundert aufschlussreicher ist als die von
Marx. Der hat die Dynamik von Stammesgesellschaften, den Korpsgeist, der Massen in Bewegung setzen kann,
weil er sich auf Verwandtschaftsverhältnisse stützt, und den sich daraus ergebenden ideologischen
Zusammenhalt so brillant analysiert, dass sich heute noch alle Politikwissenschaftler und Soziologen aus
dieser Region auf ihn stützen.
Marx wird also nicht überholt von dem,
was heute passiert. Eher muss man es umgekehrt sehen. Es gibt im Nahen Osten immer noch gesellschaftliche
Mechanismen, die ihre Wurzeln in einer Epoche haben, die weit vor Marx lag. Bei allem, was
nichtkapitalistische Gesellschaften betraf, hat sich Marx aber sehr aufmerksam auf die wissenschaftlichen
Erkenntnisse anderer gestützt.
Im Nahen Osten erleben wir heute eine
lokale Version des Diktums "Sozialismus/Internationalismus oder Barbarei". Die Region wird von
ethnischen, nationalen, religiösen und Sekten-Konflikten buchstäblich zugrunde gerichtet. Diese
Kräfte sind in den letzten Jahrzehnten immer stärker geworden, weil die ökonomische und
soziale Entwicklung in der Region blockiert ist, weil sie durch Kolonialismus und Imperialismus in einem
Zustand gesellschaftlicher Rückständigkeit gehalten wird, weil vor allem der US-Imperialismus aus
Eigeninteresse hier die rückständigsten und reaktionärsten autokratischen Regime am Leben
hält man schaue nur nach Saudi-Arabien, dem wichtigsten Verbündeten der USA in der Region.
Ende der 60er Jahre wurde meiner Generation
bewusst, dass der arabische Nationalismus diktatorische Regime hervorgebracht hatte, es fehlte jede
Demokratie. Jeder Machtkonflikt drehte sich um die Interessen von Cliquen und Klassen. Dieser Nationalismus
hat aber keinen gesellschaftlichen Fortschritt, sondern eine gesellschaftliche Regression in Gang gesetzt,
die die ältesten und rückständigsten Konfliktformen wieder aufleben lässt und zu
barbarischen Verhältnissen führt. Heute würde man sich in die 60er Jahre zurücksehnen.
Diesen Zustand werden wir nicht
überwinden können, indem wir zu diesem Typus von Nationalismus zurückkehren. Denkbar sind
höchstens Formen des Caudillismus wie in Lateinamerika. Die soziale Dimension träte dann aber
viel stärker hervor. Die einzige Alternative scheint mir die Wiedergeburt einer sozialen Bewegung, die
quer durch die Gesellschaften geht, oben und unten scheidet und nicht entlang ethnischer, religiöser
oder nationaler Linien verläuft: eine Bewegung der Arbeiter, der Erwerbslosen und der in dieser Region
besonders unterdrückten Frauen, die den Bleideckel der lokalen Despotenregime sprengt.
Gilbert Achcar
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