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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2007, Seite 05

Zwischen Abschiebung und Saisonarbeit

Albrecht Kieser über die Lage der Illegalisierten in der EU

Albrecht Kieser ist Journalist beim Rheinischen Journalistenbüro und aktives Mitglied des Kölner Netzwerks von "kein mensch ist illegal". Mit ihm sprach Angela Huemer über sinkende Flüchtlingszahlen, Illegalisierte in Deutschland, die Haltung der Gewerkschaften und die Vorbereitungen für den G8-Gipfel in Heiligendamm.

Die Flüchtlingszahlen in den Industrieländern gingen in den letzten Jahren drastisch zurück. Verschwindet also das Problem Migration?

Natürlich nicht. Die Leute kommen, aber auf anderen Wegen. Das eine ist die Armenroute über das Meer, wo viele ertrinken, 3000 im zweiten Halbjahr 2006, das ist meine letzte Zahl. Viele kommen aber mit legalen Visa hierher, um dann länger zu bleiben. Die letzte OECD-Schätzung lautet, dass 500000 irreguläre Migranten pro Jahr nach Europa kommen, der kleinste Teil davon kommt über das Meer.

Wieviele Illegalisierte leben derzeit in Deutschland?

Zwischen 500000 und 1 Million, genaues weiß niemand. Es gibt präzisere Schätzungen für Städte, wie z.B. Berlin, wo es laut Caritas rund 200000 Illegalisierte gibt.

Gibt es, ähnlich wie in Frankreich, irgendeine Art der Selbstorganisation der Illegalisierten?

Nein, überhaupt nicht. Es gibt Flüchtlingsorganisationen, die sich auch für Menschen ohne Papiere einsetzen, aber dies nicht zu ihrer Hauptaufgabe machen. Eine Selbstorganisation von Illegalen, die sich ausdrücklich dazu bekennt, Illegale zu vertreten, gibt es nicht, bis auf eine einzige Ausnahme in Bonn, das ist eine Gruppe, die sich Bürgerinitiative für die Würde und die Rechte für die Menschen ohne Papiere nennt. Die treten auch nach außen auf. Öffentlich auftreten tun in der Regel die Unterstützer.

Den größten Schwerpunkt auf Illegalisierte legt wohl das Netzwerk "kein mensch ist illegal"?

Als ausdrücklich bekennende Organisation im politischen Raum, ja. Es gibt auch kirchliche Gruppen, besonders in der katholischen Kirche, wie das Forum Illegalität, aber auch einzelne Gemeinden in der evangelischen Kirche. Zudem gibt es das ökumenische Netzwerk "Asyl in der Kirche" in NRW. Das sind klassische Lobbyorganisationen, die sich im politischen und parlamentarischen Raum stark machen für die Rechte von Menschen ohne Papiere.

Auf welche Art ist kmii aktiv?

Wir sind immer mal wieder auch im Lobby-Bereich aktiv, oft jedoch im berühmten außerparlamentarischen Bereich auf der Straße, durch eigene Aktivitäten, Flugblätter, Informationen, usw. Daneben sind wir in den Kommunen aktiv, weil es da noch am ehesten Möglichkeiten gibt, Verhandlungen mit städtischen Vertretern zu führen, um das eine oder andere durchzusetzen, z.B. gesundheitliche Mindestversorgung oder Schulversorgung für Kinder von Menschen ohne Papiere.

Ihr habt euch in den letzten Jahren vor allem für die sozialen Rechte von Illegalisierten stark gemacht. Was heißt das konkret?

Das heißt konkret ganz wenig, aber auch ganz viel. Wir unterstützen Illegalisierte an ihrem Arbeitsplatz. Die kommen zu Gruppen wie kmii, wenn sie um ihren Lohn betrogen worden sind, oder wenn ein Arbeitsunfall passiert ist. Dann gibt es die Möglichkeit, über Anwälte oder vor dem Arbeitsgericht, ihre Interessen zu vertreten. Völlig rechtlos sind also auch Menschen ohne Papiere nicht. Das Problem ist immer nur, was ist der Preis? Wie sehr müssen sich Illegaliserte als solche offenbaren. Wenn das nötig ist, zucken die Leute zurück und nehmen dann auch die minimalen Rechte nicht wahr, die durchaus vorhanden sind. Vor dem Arbeitsgericht z.B. muss es nicht sein, dass jemand seine Privatadresse angibt, es reicht die "ladungsfähige Anschrift" oder ein Anwalt, der ihn vertritt. Der Betroffene muss auch nicht persönlich anwesend sein. In manchen Arbeitsgerichtsprozessen ist auch schon Lohnzahlung erzwungen worden; manchmal reicht ein Brief an den Arbeitgeber, der natürlich auch weiß, was er da macht.
Das ist so der ganz kleine Maßstab. Der ganz große ist ein propagandistischer. Es gibt die UNO-Wanderarbeiterkonvention von 1996. Diese sichert allen Migranten, egal welchen Status sie haben, Mindestrechte zu, also ausdrücklich auch den Migranten ohne Papiere. Die Konvention verweigert jedoch auch nicht den Staaten, in denen die Migranten leben, das Recht, Leute auszuweisen, aber das individuelle Recht der Migranten steht häufig höher. Ein Beispiel: Wenn du hier als irregulärer Migrant deinen Lohn einklagst und die Polizei erwischt dich, wirst du abgeschoben, dann musst du deinen nicht gezahlten Lohn von deinem Heimatland aus einklagen. Die UNO-Wanderarbeiterkonvention gesteht immerhin einem das Recht zu, so lange hierzubleiben, bis die Dinge geregelt wurden.

Hat Deutschland diese Konvention ratifiziert?

Nein, diese UNO-Wanderarbeiterkonvention ist zwar schon in Kraft, aber nur für die Staaten, die sie ratifiziert haben. Die Kohl- Regierung hat die Ratifizierung ausdrücklich abgelehnt wie auch einige Jahre später die Schröder-Fischer-Regierung, und zwar mit der wortgleichen Begründung: Sie würde eine Sogwirkung für irreguläre Migration entfachen. Alle wesentlichen Industriestaaten und Zielländer irregulärer Migration haben die Konvention nicht unterzeichnet; es gibt aber immerhin über 30 Staaten, die sie ratifiziert haben.

Sind darunter auch europäische Staaten?

Nein, kein einziger. Es gibt aber eine europäische Kampagne für die Unterzeichung dieser Konvention, an der auch der DGB beteiligt ist. Die Gewerkschaft BAU (Bau, Agrar und Umwelt) hat darüber hinaus eine Europäische Wanderarbeitergewerkschaft aufgebaut, die in Frankfurt/M. angesiedelt ist. Sie vertritt aktiv solche irreguläre Migranten.

Die Gewerkschaften taten sich eine Weile mit dem Thema irreguläre Migration etwas schwer, weil das auch Konkurrenz für hiesige Arbeiter bedeutet. Ist das mittlerweile überwunden?

Nein. Es ist objektiv so, dass jede Verschärfung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, die nicht durch gewerkschaftlichen Organisierung aufgefangen werden kann, die Arbeitsbedingungen verschlechtert. Natürlich ist die Angst der Bauarbeitergewerkschaft groß, dass ihre Mitglieder den Arbeitsplatz verlieren und die Arbeit von Irregulären gemacht wird. Das Problem besteht aber hier mehr in der Entsendung von Billiglöhnern aus europäischen Ländern auf deutsche Baustellen. Die Herausforderung ist groß; die Hoffnung, dass man sich durch Abschottung oder sogar Razzien gegen irreguläre Arbeit wehren kann, ist ungebrochen. In derselben Gewerkschaft, gibt es aber auch die, die sagen, nein, Schluss mit diesem Weg. Wenn Razzia, dann gegen die Arbeitgeber, die diese Leute einstellen. Die gleichzeitige Solidarität mit Irregulären ist aber ein Spagat.

Was passiert, wenn eine Razzia stattfindet? Haben die Irregulären eine Chance hierzubleiben? Oder bekommt der Arbeitgeber eine Strafe und die Arbeiter werden abgeschoben?

Ja, das ist faktisch so. Dieser Spagat geht auf Kosten der Beschäftigten, grade wenn die Gewerkschaft kollektiv eine Razzia unterstützt.

Was passiert im Vorfeld zum G8-Gipfel?

Es gibt eine Erklärung zu G8, zum Thema Migration und G8, Migration und Weltwirtschaft, Migration und Globalisierung. Diese Erklärung wird von Labournet und von Einzelnen aus Gruppen wie kein mensch ist illegal oder das No-Border-Netzwerk, unterstützt. Sie ist eine Aufforderung an die kritische Öffentlichkeit, Globalisierung immer auch im Zusammenhang mit Migration zu sehen.
Seit zwei Jahren gibt es den Versuch eines verstärkten Austauschs zwischen Gewerkschaften und den Aktiven in der Flüchtlings- und Migrationsbewegung. Das war ja bislang sehr getrennt. Dieser Dialog geht in die Richtung gemeinsamer gewerkschaftlicher Organisierung, gemeinsamer Kämpfe. Sie ist eine Mahnung an die Gewerkschafter zu bedenken, warum die Irregulären überhaupt hier sind und sich an den Grundsatz der internationalen Solidarität zu erinnern. Ziel ist, das zusammenzuführen, was lange nebeneinander und teilweise krass gegeneinander diskutiert wurde.

Wurde die Erklärung gemeinschaftlich verfasst?

Ja.

Wer hat die Initiative ergriffen?

Das Bündnis Arbeit und Migration, das zusammen mit der Euro-May-Day-Initiative seit ein paar Jahren hier in Deutschland zum 1. Mai das Thema Migration in den Vordergrund rückt.

Seid ihr auch in Heiligendamm?

Ja, das ist zumindest die Absicht. Es gibt einen eigenen Block bei der großen Demonstration und am 4. Juni einen Aktionstag Migration.

Der EU-Kommissar für Entwicklungs- und humanitäre Hilfe, Louis Michel, der ausdrücklich die Verknüpfung von Entwicklungshilfe und eigener wirtschaftlicher Interessen der EU vertritt, hat kürzlich angekündigt, dass es Job-Center in Afrika geben wird: Vermitteln die Gastarbeiter nach Europa?

Ich glaube schon, dass diese Anwerbung mit der der Gastarbeiter in den 60er Jahren verglichen werden kann. Das ist ein klassischer Kompromiss in den herrschenden Fraktionen zwischen den eher rassistisch orientierten Ordungspolitikern, die die Schotten dicht machen wollen, und den eher in Arbeitskräftebedarf denkenden Ökonomen und Pragmatikern, sie stehen unter doppeltem Druck: Dem Druck der Migration und dem Bedarf nach billiger Arbeit. Diese Jobcenter, sollen ab Herbst in Mali potenzielle Migranten prüfen, ihre Zähne, ihre Ausbildung und was sie wollen, dann werden ihnen befristete Visa ausgestellt. Dieser Versuch, Migration als befristeten Vorgang mit Drehtüreffekt zu regulieren, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Ist in Deutschland eine Legalisierungskampagne absehbar?

Ja, vielleicht. Vor fünf Jahren oder vor sechs Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass das Parlament über das Thema Illegalität diskutiert, dass eine Stadt wie Köln eine Untersuchung zur Situation der Illegalen in Auftrag gibt und dann versucht, Mindestbedingungen zu schaffen. Vor zehn Jahren, bei der Gründung von kmii war das unvorstellbar. Bisher gab es in der BRD solche Legalisierungen nicht. Das hängt mit zwei Faktoren zusammen: Migration war lange Zeit legale Migration, bis 1973 die Gastarbeiter, dann der Familienzuzug und die Spätaussiedler. Das sind Millionen. Der Arbeitskräftebedarf wurde darüber über Jahrzehnte befriedigt, im Unterschied zu anderen Ländern, Italien, Spanien, Frankreich. Da hat es diese legale Anwerbung nie gegeben.


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