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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2007, Seite 08

ERA - Vom Wunschtraum zum Albtraum

Zwei Jahre nach der Einführung des Entgeltrahmenabkommens sieht sich die IG Metall mit massiven Abgruppierungen konfrontiert

von Thies Gleiss

Bei der Metallern brodelt es: Arbeiter und Angestellte wehren sich gegen massenweise drohende Abgruppierungen. Große und kleine Betriebe treten in den Streik. Verantwortlich dafür ist ERA — ein Vertragswerk, das die IG Metall vor zwei Jahren noch als Wunderwerk verkaufte. Im Mai 2005 veröffentlichte die SoZ eine Analyse des Kölner IG-Metall-Betriebsrats Thies Gleiss zur Einführung des neuen Entgeltrahmenabkommens (ERA). Im Folgenden drucken wir diesen Artikel nach — nicht weil der Redaktion nichts Besseres einfiele, sondern weil die Entwicklung der geäußerten Kritik in allen Punkten Recht gegeben hat.

Mittlerweile ist ERA für die IG Metall zu einem wahren Albtraum geworden. In allen Tarifbezirken, in denen das Vertragswerk in der jeweiligen regionalen Version eingeführt wird, bekommen vor allem die unermüdlichen Sekretäre vor Ort und die Betriebsräte schlaflose Nächte. In Großbetrieben wie DaimlerChrysler, Ford, Opel, vor allem aber in den Tausenden Klein- und Mittelbetrieben entpuppt sich ERA als ein willkommenes Instrument für die Unternehmer, jahrzehntelang gewachsene Bewertungs- und Eingruppierungsstrukturen der Belegschaften mit der Sense zu rasieren. Fast jeder Betriebsrat kann heute vom Schock erzählen, der die Kollegen traf, als sie mit der von den Unternehmern vorgeschlagenen Erstbewertung konfrontiert wurden. Alle Betriebe scheinen nur noch aus bisher zu hoch bezahlten "Überschreitern" zu bestehen. Ironischerweise leiden gerade diejenigen darunter, die in der Strategiediskussion der IG Metall seit Jahren einen Kurs der Verbetrieblichung der Gewerkschaftsarbeit verfolgen. Gerade denen droht das ERA- Vertragswerk mächtig auf die Füße zu fallen.
Die Taktik der IG Metall hat sich seit der Einführung von ERA glücklicherweise ein wenig geändert. In ihren ERA-Seminaren ist nicht mehr von "objektiver" und personenunabhängiger Bewertung die Rede, die automatisch zu Gerechtigkeit und Zufriedenheit bei den Kolleginnen und Kollegen führe. Stattdessen wird mehr oder weniger deutlich ein politischer und äußerst subjektiver Rat erteilt: Ziel bei der Einführung von ERA muss sein, mit der neuen Bewertung wenigstens den betrieblichen Ist-Zustand bei Löhnen und Gehältern abzubilden. Das klappt fast immer nur mit kollektiven Regelungsabsprachen mit der Geschäftsleitung, die von vorn herein festlegen, dass die bisherige Eingruppierung Grundlage bleiben soll oder dass niemand unter der Entgeltgruppe 7 eingruppiert werden darf o.ä.
"Subjektivität" ist auch das Stichwort bei der individuellen Bewertung. Die Betriebsräte müssen sich, wenn sie innerhalb der ERA-Vorgaben erfolgreich sein wollen, für jeden Kollegen und jede Kollegin als echte "Arbeitskraftmanager" verhalten und ihr Klientel gnadenlos hochverhandeln. Ob das alles objektiv "richtig" ist, darf keine Rolle spielen. Letztlich wäre die IG Metall gut beraten, ihren Mitgliedern zügig einen eigenen Kommentar zum Tarifwerk an die Hand zu geben, der wichtige Begriffe gewerkschaftspolitisch und "taktisch" erläutert.
Ein Beispiel dafür ist der ERA-Fachbegriff "Abstimmung", der nicht unerheblich die Punktzahl bei der Bewertung beeinflusst. Beschäftigte, die in ihrer Tätigkeit mit anderen Beschäftigten zusammenwirken müssen, um ihren Job zu machen, müssen sich laut ERA-Jargon "abstimmen". Doch in den Augen der Unternehmer gibt es so etwas in fast keinem Betrieb, ihrer Meinung nach kommunizieren Kollegen nicht miteinander. Diese blödsinnige Haltung ist — wie immer — den Arbeitgebern nur kollektiv auszutreiben.

Im Mai 2005 schrieben wir:



Die Erwartungen an das neue Entgeltrahmenabkommen waren sehr hoch, und nicht wenige Tarifrunden und sonstige Aktivitäten der IG Metall wurden unter Hinweis auf ERA noch eine Spur ruhiger und versöhnlerischer als sonst schon in der nordrhein-westfälischen Metallindustrie abgewickelt. Mit ERA sollte das alte Modell der Trennung zwischen Angestellten und Arbeitern aufgehoben und sämtliche Beschäftigten detailliert nach ihrer tatsächlichen Arbeit und der dafür notwendigen Qualifikation neu bewertet werden. Dass dies sinnvoll und überfällig war, ist unbestritten. Die modernen Betriebsabläufe und Computer gesteuerten Produktionsmittel haben schon lange die mittelalterliche Trennung zwischen Angestellten und ProduktionsarbeiterInnen überholt. Die in der Regel deutlich höhere Bewertung von Angestellten hatte — wenn das überhaupt jemals der Fall war — keinerlei Berechtigung mehr. Deshalb wollten sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberverbände gleichermaßen den neuen Tarifvertrag.

Das neue Punktesystem

Das neue Abkommen sieht eine Einzelbeschreibung der konkreten Tätigkeiten vor. Dazu wurden 121 Beispielarbeitsplätze — vom einfachen Hilfsarbeiter in der Produktion bis zum Verfahrensingenieur, von der Schreibkraft bis zum Bilanzbuchhalter und EDV-Administrator — analysiert. Aus diesen so genannten Niveaubeispielen wurde ein Punktesystem abgeleitet, das in den vier Kategorien "Können", "Handlungs- und Entscheidungsspielraum", "Kooperation" und "Mitarbeiterführung" die tatsächlichen Arbeitsaufgaben aufzuschlüsseln und abgestuft zu bewerten versucht. Jeder damit erreichten Punktzahl wurde dann eine von 14 Entgeltstufen zugeordnet.
Das neue Punktesystem versprach mehrere entscheidende Verbesserungen. Erstens sollte es die Arbeitsaufgaben generell genauer, "objektiver" und realistischer erfassen. Zweitens wurde als wichtigste Neuerung in der Kategorie "Können" — die mit Abstand das größte Gewicht in der Gesamtpunktebewertung hat — die höchste abgeforderte Qualifikation zu Grunde gelegt, auch wenn sie nur kurzzeitig benötigt wird. Diese Sichtweise löste die alte Methode ab, von einer prägenden oder vorrangigen Tätigkeit auszugehen, bei der kurzzeitige höher qualifizierte Tätigkeiten stillschweigend bei der Bezahlung unberücksichtigt blieben.
Drittens ist ERA erheblich dynamischer und flexibler als das alte Lohnrahmensystem. Die Beschäftigten können damit schneller und geplanter in höhere Entgeltstufen aufrücken. Schließlich wurde ERA in ein dichtes System der Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Einstufung und bei individuellen Reklamationsmöglichkeiten der einzelnen Beschäftigten nach der Ersteinstufung eingebettet. Zu guter Letzt wurde vereinbart, dass zur Finanzierung der ERA-Einführung bei den vorausgehenden Lohntarifrunden spezielle Abstriche vorgenommen und Rücklagefonds gebildet würden.
Und — natürlich: Niemand sollte durch die Neubewertung durch ERA in der Bezahlung schlechter gestellt werden. Eventuelle "Überschreiter" — die nach der alten Bewertung mehr verdienen als nach der neuen — haben langfristigen Bestandsschutz und verlieren in kleinen Schritten lediglich Teile der kommenden Zuwächse durch Tariferhöhungen. Die "Unterschreiter" hingegen erhalten in viel kürzerer Zeit die Aufstockung der Gehaltszahlung gemäß der neuen, besseren Entgeltgruppe. Also ein modernes, sozialpartnerschaftliches "Win-win"-Vertragswerk, bei dem die Unternehmer durch "wissenschaftliche" Plangenauigkeit und zufriedene Mitarbeiter belohnt, die Beschäftigten mit dynamischer Gehaltsentwicklung nach oben beruhigt und die Gewerkschaften durch neue Mitglieder entschädigt werden. Ein Wunderwerk der Klassengesellschaft... oder nicht?

Alles Überschreiter, oder was?

Die Unternehmer hatten es nach anfänglicher Verzögerungstaktik plötzlich sehr eilig mit der Einführung. Sie witterten eine Chance, dass bei der allgemeinen Dauerpropaganda der Medien, "die Arbeit sei zu teuer", bei den Beschäftigten eine neue Bescheidenheit und Bereitschaft zu niedrigerer Einstufung entstanden sein könnte. Das würde sich spätestens nach Auslauf der bestandsgeschützten Arbeitsverträge und bei Neueinstellungen in einer deutlichen Senkung der Lohnsumme bemerkbar machen.
Jetzt zeigte sich der erste dicke Pferdefuß von ERA: Den Löwenanteil der Umsetzung, nämlich die genaue betriebliche Analyse und Einstufung der Beschäftigten, mussten die sog. "Betriebsparteien" vornehmen. Eine gewaltige Verlagerung der Tarifpolitik in den Einzelbetrieb, wie sie sich die selbst ernannten Modernisierer in- und außerhalb des DGB kaum haben erträumen können. Die IG Metall ermuntert darüber hinaus ihre Funktionäre und Betriebsräte ausdrücklich, auf einem Sonderpunkt des Einführungsverfahrens von ERA, der sog. "Paritätischen Kommission" (Artikel 7 Einführungstarifvertrag) zu beharren, was die Verbetrieblichung noch mehr fördert.
Das ERA gab sich vor allem objektiv und wissenschaftlich — allein zur Lektüre und zum Verständnis des Vertrags, spezieller Einführungs- und Übergangsverträge und der Niveaubeispiele ist eine mittlere wissenschaftliche Ausbildung vonnöten; die Bewertung der Arbeitsaufgaben sollte völlig losgelöst von der konkreten Person, die sie ausführt, vorgenommen werden.
Wer sich daran hält, wird sehr unangenehm überrascht: Ein durchschnittlicher Betrieb besteht danach fast nur aus Überschreitern. Die objektiven Bewertungsgrundlagen sind entweder falsch mit Entgeltbeträgen verkoppelt worden oder generell zu niedrig angesetzt. Insbesondere Angestellte aber auch viele durchschnittliche Facharbeiter in den alten Lohngruppen 8 und 9 erlebten einen Schock. Die neue ERA-Bewertung teilt ihnen schonungslos mit, dass sie seit Jahren zu hoch bezahlt werden. Bei mittleren Angestellten geht das bis zu 1400 Euro pro Monat.
In Tausenden von Mittelbetrieben — und es traf vor allem die mit einer engagierten Belegschaft und gewerkschaftlichen Stärke — waren die Beschäftigten in der Vergangenheit systematisch in hohe Lohn- und Gehaltsgruppen gedrückt worden. Das war einerseits Ergebnis guter Betriebsratsarbeit, andererseits aber auch ein Ausgleich für fehlende Sozialleistungen und übertarifliche Zuwendungen, die in Großbetrieben gewährt wurden.
Jetzt werden diese Betriebe, und natürlich die engagierten IG-Metall-Vertreter darin, besonders bestraft. Frühere Erfolge der Gewerkschaft bei der Einstufung werden durch das neue, angeblich objektive ERA-Verfahren als große Fehlleistung entlarvt. Es ist abzusehen, dass dafür allein die IG Metall mit massenhaften Austritten vor allem bei den sowieso nur schwer zu organisierenden Angestellten bestraft werden wird. Die neue ERA-Bewertung "entwertet" und entwürdigt massenhaft die Kolleginnen und Kollegen. Da hilft der Hinweis, dass sie ja immerhin noch eine Weile das gleiche Geld bekommen, überhaupt nichts.
Aus diesem Dilemma können sich die ERA-Unterhändler in den Betrieben nur dadurch lösen, dass sie sich insbesondere bei den höheren und Angestelltentätigkeiten genau andersherum verhalten, als ihnen in den ERA- Schulungen der IG Metall beigebracht wurde. Sie müssen ausdrücklich nicht nur das "Was" der Tätigkeit in die Bewertung einbeziehen, sondern vor allem das "Wer" und das "Wie", nämlich die konkrete Person, die die Aufgabe bewältigt, und ihr Arbeitsumfeld. Frei nach dem immer richtigen Motto: "Lohnfragen sind Machtfragen", müssen sie mit der Haltung verhandeln, die konkrete Person könne alles, verfüge über jegliche Erfahrung und mache alles super selbstständig. Nur in diesen nicht mehr "objektiv" und wissenschaftlich nachzuzeichnenden Bereichen können die notwendigen Punkte gesammelt werden, um wenigstens in die Nähe der alten Bezüge zu kommen.
Vorausgesetzt die Betriebsräte setzen sich für die unteren Lohngruppen überdurchschnittlich ein, was leider in vielen Betrieben nicht Alltag ist, kann mit der empfohlenen "objektiven" Bewertungsmethode wenigstens für diese etwas herausgeholt werden. Der Hilfsarbeiter, der nur einmal im Monat oder in der Ferienzeit kompliziertere Tätigkeiten verrichtet, ist relativ häufig anzutreffen.
Nach den ersten Erfahrungen der ERA-Einführung in den NRW-Betrieben wird deutlich, dass die stillen Hoffnungen der IG Metall, hier würde relativ geräuschlos ein Erfolgsselbstgänger ins Leben gerufen, der neue Mitglieder im Schlaf bringt, komplett fehl am Platze sind. Im Gegenteil, wenn ERA nicht zu einer flächendeckenden Entwertung der Arbeit führen soll, dann muss ein erbitterter und rücksichtsloser Kampf in jedem einzelnen Betrieb geführt werden. Andernfalls werden die Mitglieder der IG Metall scharenweise die rote Karte zeigen. Und mit was? Mit Recht.


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