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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2007, Seite 09

Das Prekariat

Neues revolutionäres Subjekt oder Unterschicht?

Über das Merkmal der Ausgrenzung vergisst man leicht die Klassenzugehörigkeit

von Thomas Goes

Die " neue" soziale Frage des 21.Jahrhunderts bleibt objektiv die alte: eine klassische Klassenfrage.
Ein Gespenst geht um. Während Kurt Beck die " neue deutsche Unterschicht" entdeckt, fasst eine Studie der SPD-nahen Ebert-Stiftung das "Prekariat" ins Auge. Der Spiegel beschäftigt sich mit der Generation Praktikum — junge Hochqualifizierte, denen der Einstieg ins Berufsleben und in die bürgerliche Mitte durch schlecht bezahlte und kaum weiterqualifizierende Praktika erschwert wird.
Die neue Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse wird zunehmend öffentlich diskutiert. Schnell werden die Unterschiede hervorgehoben, die prekär Beschäftigte von anderen Lohnabhängigen trennen. Sinnvoll ist das, wenn besondere Bedürfnis- und Problemlagen politisch aufgegriffen werden sollen, die mit prekären Beschäftigungsformen verbunden sind. Politisch problematisch wird es, wenn nicht die Auswirkung von Prekarisierung auf die Lohnabhängigen insgesamt, sondern nur auf eine Teilgruppe in der Beschäftigtenstatistik (z.B. Leiharbeiter) problematisiert wird.
Prekär bedeutet "auf Widerruf gewährt, unsicher, unbeständig". Das französische "précarité" lässt sich mit "Unsicherheit" und "ungeschützte Arbeitsverhältnisse" oder auch "geringfügige Beschäftigung" übersetzen. Unsichere und nichtexistenzsichernde Arbeitsverhältnisse folgen aus veränderten Produktions- und Absatzbedingungen sowie aus dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital.
Gerade dies aber wird in der Diskussion der SPD verschwiegen. Sie macht nicht Klassenkonflikt und Kapitalverwertung, sondern Bildungsdefizite der Arbeitskräfte und andere bei ihnen selbst liegende Mängel für ihre miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen verantwortlich; nicht Unternehmensstrategien, sondern das individuelle Verhalten der Arbeitskräfte muss folgerichtig (arbeitsmarkt-)politisch bearbeitet werden. Die Schlechten werden von den guten und produktiven Lohnabhängigen unterschieden.
Nicht besser steht es um einige Debatten innerhalb der autonomen radikalen Linken. Gerne werden prekär Beschäftigte hier hinterrücks als neues Kollektivsubjekt ausgemacht. Aus einer nachteiligen Arbeitsmarktlage wird so eine neue Art von Klasse. Prekär arbeitende Lohnabhänge, nicht die Lohnabhängigen insgesamt, geraten hier zum besonderen politisch-strategischen Bezugspunkt.
Nicht klassenautonome Politik sondern eine neue Form von einseitiger Randgruppenorientierung wird so erneuert. Damit wird — linksautonom gewendet — die spaltende sozialdemokratische Unterscheidung zwischen (guter oder schlechter) "Unterschicht" und (guten oder schlechten) Normalarbeitern reproduziert.

Die "neue soziale Frage" ist alt

Landläufig spricht man von der Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse. Das ist richtig und gut, solange tatsächlich Deklassierungs- und Verschlechterungsprozesse und deren Verarbeitung durch die betroffenen Arbeitskräfte thematisiert werden sollen. Irreführend wird es, wenn aus Prekarisierung ein "Prekariat" gemacht und an die Stelle der Lohnabhängigen- oder Arbeiterklasse gesetzt wird. Denn das lenkt vom entscheidenden Punkt, nämlich von der Fragmentierung und dem sozialstrukturellen Wandel innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen sowie deren kultureller und politischer Verarbeitung ab.
Dazu trägt aber nicht nur die Prekarisierung bei. Auch neue Arbeitsformen, Konzepte der Unternehmensorganisation und betriebliche Flexibilisierungsstrategien wirken individualisierend und fragmentierend.
Die "soziale Frage des 21.Jahrhunderts" bleibt objektiv eine klassische Klassenfrage. Prekarisierung verschlechtert die Reproduktionsbedingungen für die arbeitende Klasse insgesamt. Subjektiv wird Prekarisierung aber — aus unterschiedlichen Gründen — nicht uneingeschränkt als Kollektiv- oder gar als Klassenschicksal erlebt. Genau daran setzen wissenschaftliche Untersuchungen an, die Prekarisierung als Moment gesellschaftlicher Ausgrenzung auffassen.
Das ist politisch und wissenschaftlich wichtig, weil damit die individuellen und auch kollektiven Arten angesprochen werden können, wie die Erfahrungen von Existenzunsicherheit (auch politisch) verarbeitet werden. Denn auch das ist ein wichtiger Punkt: Ein großer Teil der gesellschaftlichen Teilhabe an Konsum usw. wird erst durch Lohnarbeit ermöglicht. Das ist der bekannte stumme Zwang, der der Prekarisierung ihre entsolidarisierende Sprengkraft gibt.
Ein materiell "utes Leben" innerhalb des Kapitalismus ist nur dann möglich, wenn man sich erfolgreich in den Ausbeutungsprozess einfügen kann — auch zum Preis verschärfter Konkurrenz und eines stärkeren Leistungsdrucks. Gelingt das nicht, gehen kulturelle und materielle Teilhabechancen ebenso wie ein Großteil gesellschaftlicher Anerkennung verloren. Prekär zu arbeiten wird so zu einer ausgrenzenden Erfahrung. Und diese strahlt auf die Lohnabhängigen insgesamt aus.
Prekarisierung verändert damit die Lebens- und Arbeitsverhältnisse abhängig Beschäftigter und deren politische Verarbeitung. Dabei darf aber nicht das Klassenverhältnis insgesamt aus den Augen verloren werden, innerhalb dessen sie wirkt. Denn die wichtigsten politischen Auswirkungen von Prekarisierung sind drohende Entsolidarisierung, Vereinzelung und neue Spaltungslinien innerhalb der Lohnabhängigenklasse.

Spaltung, Konkurrenz und Solidarität

Prekär Beschäftigte haben nichts zu verkaufen als ihre Arbeitskraft, müssen dies aber unter schlechteren Arbeitsmarktbedingungen tun als andere Kolleginnen und Kollegen. Das ist die einzige Gemeinsamkeit unter den vielen prekär Arbeitenden. Denn "prekäre Beschäftigung" bezeichnet sehr unterschiedliche Arbeitsverhältnisse. Der 400-Euro-Job ist damit ebenso gemeint wie Leiharbeit, befristete Beschäftigung oder Honorartätigkeiten.
Gemeinsam ist den prekär Beschäftigten die Schlechterstellung gegenüber unbefristet beschäftigten und besser bezahlten Kolleginnen und Kollegen. Diese Beschäftigungsverhältnisse bringen für die so Arbeitenden jedoch sehr unterschiedliche Probleme, Belastungen, aber auch "Vorteile" mit sich. Diese Unterschiedlichkeit muss erst einmal erkannt werden, bevor unzulässig verallgemeinert wird.
Hinzu kommt, dass die verschiedenen Segmente der lohnabhängigen Klasse — unterschieden nach Geschlecht, Alter, Ethnie und Qualifikation — in unterschiedlichem Maße Gefahr laufen, prekär arbeiten zu müssen. Was eine Putzfrau mit Migrationshintergrund, die auf 400-Euro-Basis arbeitet, mit einer hoch qualifizierten Projektarbeiterin verbindet, die als Honorarkraft in der Medienbranche arbeitet, ist die Unsicherheit ihres Jobs, ihre Benachteiligung als Geschlecht und die daraus folgende besonders nachteilige Position auf dem Arbeitsmarkt — sonst nichts.
Darüber hinaus gibt es weitreichende und trennende Unterschiede: hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, der Entlohnung, dem Bildungshintergrund, dem sozialen Umfeld usw. Die "feinen Unterschiede" in den Lebens- und Arbeitsverhältnissen, die es innerhalb der Lohnabhängigenklasse schon immer gab, werden durch die Erfahrung von Prekarisierung nicht weggewischt. Diese Unterschiede zu überwinden, bleibt eine alte und schwierige Aufgabe der Arbeiterbewegung.
Das ist politisch von großer Bedeutung. Denn eine Politik, der es gelingt, unsicher Beschäftigte gegen Normalarbeiter auszuspielen, schwächt die Bewegung der Lohnabhängigen insgesamt. Nicht das "Prekariat", sondern prekär beschäftigte Lohnabhängige arbeiten Seite an Seite mit nichtprekär beschäftigten Kolleginnen und Kollegen. Auf das Verhältnis zwischen beiden Gruppen kommt es an. Denn es drohen Entsolidarisierung und verschärfte Konkurrenz. Bspw. dann, wenn Gewerkschaften oder Betriebsräte die Beschäftigungssituation der Kernbelegschaften auf Kosten der prekär beschäftigten Kolleginnen und Kollegen zu verbessern suchen.
Denkbar sind durchaus branchen- oder betriebstypische Klassenbündnisse, von denen profitiert, wer sich für den betrieblichen Arbeitsprozess unentbehrlich machen kann — was nur einer Minderheit der Beschäftigten gelingen dürfte. Dass so etwas politisch möglich ist, zeigt ein Blick in die USA. Segmentierte Arbeitsmärkte und Klassenspaltung — unterfüttert durch Rassismus und Sexismus innerhalb des weißen Teils der Arbeiterklasse — haben hier eine längere und wahrnehmbarere Tradition als in Deutschland.
Weder nutzt es also, prekär Beschäftigten generell ein besonderes revolutionäres Potenzial zuzuschreiben, noch die besonderen Probleme, Hoffnungen und Interessen, die mit ihren Arbeitsverhältnissen zusammenhängen, zu ignorieren. Das also ist die Herausforderung: Die unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen und Interessen anzuerkennen und politisch aufzugreifen — bspw. durch eine langfristig angelegte gewerkschaftliche Organisierungspolitik, gleichzeitig aber im Klassenkampf Solidarität untereinander zu schaffen. Über die Kritik der Prekarisierung darf man die Kritik an den kapitalistischen (Klassen-)Verhältnissen insgesamt nicht aus dem Auge verlieren.


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