SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2007, Seite 15

Tanya Reinhart, 1944—2007

"Es ist möglich, in diesem Land anders zu leben"

von Sophia Deeg



Es muss vor drei Jahren gewesen sein, auf einer Großveranstaltung in einer Pariser Messehalle. Es ging um Palästina — an einem Tisch im Gedränge Tanya Reinhart, eine zierliche, freundliche Frau, die ihre Bücher signierte. Weder ihr noch mir fiel der Titel des einzigen Buches ein, das von ihr auf Deutsch erschienen ist, Operation Dornenfeld, aber wir verständigten uns schnell über den gewaltfreien Widerstand gegen die Mauer, zu dem sich junge Palästinenser und Israelis zusammengefunden haben, und über den sie voller Bewunderung geschrieben hat.
Im Dezember des vergangenen Jahres erfuhr ich, dass sie Israel verlassen hat und an der University of New York lehrt.
Nun ist sie, wenige Monate nach ihrer Übersiedelung plötzlich gestorben.
Ich kann nicht umhin, an die Methoden zu denken, die Tanya Reinhart immer wieder beschrieben hat, die Methoden, wie bestimmte Informationen und Gedanken in einer Gesellschaft wie der israelischen, die grundsätzlich jede Kritik zulässt, dennoch marginalisiert, nicht beachtet oder diskreditiert werden.
Wie für ihren Doktorvater Noam Chomsky war es für Tanya Reinhart ein nahe liegender Schritt von der Linguistik zu Diskursanalyse und kritischer Medienrezeption und in der Konsequenz zu einer Kritik am Osloer Verhandlungsprozess, in dem sie nichts anderes sehen konnte, als ein großangelegtes Propagandaunternehmen. Unterdessen konnte weiter enteignet, liquidiert, zerstört und entrechtet werden, bis die Israel offen zum Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung und, als flankierende Maßnahme, zum Propagandakrieg überging. Wie das funktioniert, beschrieb Tanya Reinhart am Fall der Kriegsverbrechen, die die israelische Armee im Frühjahr 2002 in Jenin begangen hatte: "In Israel wird der Fall Jenin vor allem als ein Problem der öffentlichen Darstellung begriffen." Erstes Prinzip der Propagandakampagne: "Kein Foto und keine Information in Realzeit! Die israelischen Streitkräfte haben die Medien konsequent daran gehindert, während der Operationen nach Jenin zu gehen."
Die einzige Sorge, die sich eingestellte, war die, dass ruchbar werden könnte, was die Armee in Jenin angerichtet hatte. Nachdem einmal der Begriff "Massaker" in der Öffentlichkeit aufgetaucht war, wurde "eine Spezialeinheit für Öffentlichkeitsarbeit der israelischen Streitkräfte und des Außenministeriums" gebildet. Deren wichtigste Aufgabe bestand darin, eine bestimmte Interpretation des Begriffs "Massaker" zu lancieren, um behaupten zu können, dass ein solches nicht stattgefunden habe. Man beschäftigte sich von nun an in den Medien mit dem — vagen — Begriff und nicht mit dem, was geschehen war:
"Das Wort ‘Massaker‘ kann bedeuten", schrieb Reinhart, "dass Soldaten von Haus zu Haus gehen und auf alle Menschen schießen, die sie antreffen. Es stimmt, dass sich ein solches Massaker in Jenin nicht ereignet hat.
Mit dieser Zurückweisung einer bestimmten Benennung für das in Jenin Geschehene war der Boden für die Offensive jener Spezialeinheit für Öffentlichkeitsarbeit bereitet. So erwartete man von den Medien künftig, dass sie "die Aufmerksamkeit auf die israelischen Verluste durch terroristische Anschläge" lenkten.
Nun kam laut Reinhart das "zweite Prinzip" zum Einsatz, die sture Wiederholung, die sich als Selbstläufer einstellt, hat man erst einmal die Medien vollständig unter Kontrolle.
Tanya Reinhart sah aber auch Hoffnungsvolles in Israel-Palästina. "Entlang der Route der Separationsbarriere in der Westbank" schrieb sie 2004, "sprießt eine neue Kultur: Soldaten und Bulldozer einerseits, andererseits Israelis und Palästinenser, die das Land und die Bäume umarmen und beides zu retten versuchen. Dort findet sich das andere Israel-Palästina. Junge Israelis treffen in Bussen auf den Straßen ein, die zu den Siedlungen führen. Zu Fuß bzw. in palästinensischen Taxis schlagen sie sich anschließend von Checkpoint zu Checkpoint durch. Die Israelis, die in die Dörfer gehen, haben keine Angst vor der Hamas. Wenn sie überhaupt etwas fürchten, dann die israelische Armee. Was bringt junge Israelis dazu, sich gemeinsam mit Palästinensern der Armee entgegenzustellen? Es ist die Überzeugung, dass eine Grundlinie der Gerechtigkeit existiert, die nicht überschritten werden darf. Aber was bringt sie Tag für Tag zurück? Es ist der neue Bund, den die beiden Völker des Landes geschlossen haben, ein Pakt der Geschwisterlichkeit und der Freundschaft zwischen Israelis und Palästinensern. Sie wissen, es ist möglich, in diesem Land anders zu leben."
Tanya Reinhart schrieb nicht nur darüber, sie nahm selber an diesen "geschwisterlichen" Aktionen teil. Mir scheint, die beste Art, an sie zu erinnern, ist, es auch zu tun. Und bekannt zu machen, dass es den gemeinsamen gewaltfreien Widerstand gibt, in den sie so große Hoffnungen gesetzt hat.


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