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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2007, Seite 17

Europäische Wirtschaft

Neokoloniale Merkmale

Der Wachstumsschub in der EU verschärft die wachsenden wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Union

von Ingo Schmidt

Weder Feier- noch Proteststimmung wollte aufkommen, als anlässlich des EU-Gipfels im März der 50.Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge begangen wurde. Auf der einen Seite wurden die offiziellen Bekenntnisse zur europäischen Integration routiniert aber ohne Verve vorgetragen; auf der anderen Seite wurde Protest durch kritische Publizistik ersetzt. Seitdem Gemeinschaftswährung und Binnenmarkt zum Alltag gehören, die Europäische Verfassung gescheitert und eine gemeinsame Außenpolitik tagtäglich durch Querschläger aus den Hauptstädten der EU-Staaten ad absurdum geführt wird, haben Europaideen erheblich an visionärer Kraft verloren. Sie wecken kaum noch sozial- oder neoliberale Hoffnungen, lösen aber auch weniger Ängste aus, seit der Krieg gegen den Terror die neoliberale Globalisierung als Thema Nr.1 abgelöst hat.
Allerdings hat die EU ohnedies so ziemlich alles durchgesetzt, was sich neoliberale Marktmacher erträumen: Sie hat gewählten Regierungen fiskalische Zügel angelegt, ihren Spielraum, soziale und ökologische Standards zu setzen, beschnitten und sie beauftragt, nationale Sozialsysteme zurecht zu stutzen. Sofern sich der Tageskampf um Arbeits-, Einkommens- und Lebensbedingungen in den Betrieben und auf der Ebene nationalstaatlicher Politik abspielt — die von der EU allerdings massiv vorstrukturiert wird —, ist es durchaus nachvollziehbar, offizielle EU-Gipfel nicht durch Proteste sozialer Bewegungen aufzuwerten, sondern soziale und politische Kämpfe an den Heimatfronten der EU-Mitgliedstaaten zu führen.
Allerdings sollten linke Aktivisten das Thema EU nicht völlig aus den Augen verlieren. Nicht nur, weil viele EU-Staaten, in allerdings wenig abgestimmter Form, eine immer aggressivere Außen- und Kriegspolitik betreiben, sondern auch weil die europäische Wirtschaft erhebliche Ungleichgewichte und Spannungen aufweist, die insbesondere durch unterschiedliche Konjunkturverläufe in West- und Osteuropa bestimmt werden. Diese Spannungen könnten, wenn sie in einer Krise offen aufbrechen, die ohnedies bestehenden außenpolitischen Differenzen noch erheblich zuspitzen.
Angesichts der jüngsten Wirtschaftsentwicklung in der EU mögen solche Warnungen wenig zeitgemäß erscheinen. Jahrelang hinkten ihre Wachstumsraten hinter denen der USA her, doch im vergangenen Jahr konnte Europa in Bezug auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und das Produktivitätswachstum aufholen. An der Wachstumsfront ganz vorn stehen die osteuropäischen Neumitglieder, die mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten den Abstand zu Westeuropa im Pro-Kopf-Einkommen verringern. Im Gegensatz zu den USA ist die Leistungsbilanz der EU nahezu ausgeglichen, ihre öffentliche Neuverschuldung niedriger. Kurz und gut: Die Standortbedingungen in der EU sind günstig.
Folgerichtig haben der Euro und die europäischen Börsen gegenüber der amerikanischen Konkurrenz kräftig zugelegt. Zwar hat die Arbeiterklasse in Europa nicht von dieser Entwicklung profitiert, aber dies ist aus Sicht internationaler Investoren natürlich erst recht ein Pluspunkt. So bescheiden sind die Lohnabhängigen geworden, dass der Chef der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, sich vor kurzem öffentlich über die soziale Ungleichheit sorgen konnte ohne fürchten zu müssen, mit derartigen Statements Öl ins Feuer gewerkschaftlicher Kämpfe zu gießen.
Wo sind also die wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die soziale und außenpolitische Spannungen in der EU zuspitzen könnten?

Neokolonialismus im Osten...

Das überdurchschnittliche Wachstum in Osteuropa könnte zu einer Angleichung der Einkommensverhältnisse innerhalb der EU führen. Tatsächlich geht es erst einmal mit einer zunehmenden sozialen Polarisierung innerhalb der osteuropäischen Länder einher. Der Zufluss ausländischen Kapitals, mit dem der Import von Investitionsgütern finanziert wird, sowie die Konsumgüterimporte einer aufstrebenden Mittelklasse verursachen zudem teilweise erhebliche Leistungsbilanzdefizite. Infolge des Investitions- und Konsumgüterbooms sind hier zudem die Inflationsraten höher als in den meisten westeuropäischen Ländern.
Wirtschaftsboom, Leistungsbilanzdefizite und Inflation sind der Stoff, aus dem Finanzkrisen gemacht sind. Es bedarf wenig Fantasie, sich die wirtschaftspolitischen Rezepte vorzustellen, welche die EU-Institutionen im Krisenfall verschreiben werden. Spannend dürfte dagegen sein, wie osteuropäische Regierungschefs, die fest in die EU eingebunden sind, vors eigene Volk treten und euroliberale Strukturanpassungsmaßnahmen verkaufen werden. Die Begeisterung dafür wird sich in Grenzen halten.
Der Spielraum für weitere Privatisierung, Sozialabbau und Steuersenkungen ist zudem beschränkt, weil solche Maßnahmen bereits im Vorfeld der EU-Mitgliedschaft verlangt wurden. Vor diesem Hintergrund werden auch die mitunter schrillen Töne verständlich, die gegenwärtig öfters aus Warschau und Prag zu hören sind. In unsympathisch nationalistischer Form bringen sie das reale Problem der neokolonialen Eingliederung Osteuropas in die EU zum Ausdruck.
Weil nationale Selbstbestimmung nach Jahrzehnten unfreiwilliger Mitgliedschaft im Sowjetimperium einen hohen Stellenwert in Osteuropa besitzt und gleichzeitig die Erinnerung an das soziale Sicherungsniveau des ungeliebten Staatssozialismus noch wach ist, können Finanz- und Wirtschaftskrisen nicht nur zu scharfen Konflikten innerhalb einzelner Länder führen, sondern die EU insgesamt destabilisieren.

... und Überproduktion im Westen

In gewissem Umfang sind Leistungsbilanzdefizite und beschleunigte Inflation Begleiterscheinungen nachholender Wachstumsprozesse. Innerhalb der EU gewinnen sie jedoch besondere Brisanz, weil Deutschland als wirtschaftliches Schwergewicht seit der Konjunkturkrise 2001 eine extreme Politik der Lohnstückkostensenkung und Inflationsunterdrückung betrieben hat, um den eigenen Export zu fördern. Infolgedessen sind Arbeitsplätze verloren gegangen; der Mangel an Inlandsnachfrage wird durch Exportüberschüsse ausgeglichen, die ganz Europa belasten, insbesondere aber in Osteuropa die ohnehin bestehenden außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte verschärfen.
Inlandskonsum und -investitionen nehmen derzeit zwar im Verhältnis zur Exportnachfrage leicht zu, und erstmals seit Jahren können tariflich geschützte Beschäftigte leichte Reallohnzuwächse statt Minusrunden erwarten. Allerdings gehört zum bundesrepublikanischen Konjunkturmuster auch, dass eine Krise naht, sobald sich die Arbeiterklasse ihren Anteil am Aufschwung erkämpft.
Die internationalistische Diplomatie, in deren Gewand Osteuropas Märkte für das westeuropäische Kapital geöffnet wurden, wird im Krisenfall durch Beschimpfung der Gewerkschaften und wilden Nationalismus ersetzt werden. Erstere untergraben, so wird die deutsche Bourgeoisie verkünden, die Produktivkraft des Standorts Deutschland; die (ost-)europäischen Nachbarn hingegen könnten sich weigern, deutsche Produktionsüberschüsse abzunehmen.
Der wirren Ideologie liegt freilich ein reales Problem zugrunde. Nicht zuletzt unter deutschem Einfluss ist eine neoliberale EU entstanden, die ihren osteuropäischen Mitgliedern im Falle einer Finanzkrise die Zwangsjacke anlegen und damit auch deren Nachfrage nach Waren Made in Germany einschränken wird. Diesen Widerspruch der Arbeiterklasse in Deutschland zu erklären wird für die Bourgeoisie ebenso schwierig wie die Durchsetzung einer weiteren Dosis Neoliberalismus in Osteuropa. Es wäre gut, wenn sich Gewerkschafter und linke Aktivisten aus West- und Osteuropa schon vor der nächsten Krise über eine angemessene Antwort auf den Nationalismus von oben verständigen könnten.


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