SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2007, Seite 20

Isaac Deutscher (1907—1967)

Ein skeptischer Trotzkist

von Helmut Dahmer

Ähnlich wie Marx, Heine, Luxemburg, Freud, Max Horkheimer, Günther Anders und mancher andere "gottlose Jude" übernahm Deutscher, der Atheist und Internationalist, aus der jüdischen "Tradition des Antitraditionalismus" die Solidarität mit den Heimatlosen und Verfolgten, den Impuls zur Selbstbefreiung, das Verbot der Götzendienerei und die Treue zur einmal erkannten Wahrheit.
Isaac Deutscher wurde vor hundert Jahren als Sohn eines Druckers und Verlegers in Chrzanów (bei Krakau) geboren. Seine Vorfahren waren im 16.Jahrhundert vom bayrischen Fürth nach Galizien ausgewandert. Beide Eltern und zwei seiner Geschwister wurden im Zweiten Weltkrieg von den Nazis nach Auschwitz deportiert und kamen dort um. Er selbst starb im Alter von sechzig Jahren 1967 in Rom. Seine Lebensgefährtin und Mitarbeiterin Tamara überlebte ihn um dreizehn Jahre.
Der hoch begabte Junge sollte Rabbiner werden, wandte sich aber — auf den Spuren von Spinoza — schon in jungen Jahren vom religiösen Judentum ab. Seine literarische Karriere begann er mit Gedichten und Literaturkritiken in polnischer und jiddischer Sprache; bald kamen politische Artikel und Flugblätter hinzu. Sein Brot verdiente er bis 1939 vor allem als Korrektor. An den Universitäten Krakau und Warschau (1925) hörte er Vorlesungen, erwarb sich aber seine enormen historischen und theoretischen Kenntnisse vor allem im Selbststudium. 1926 schloss er sich der unter Pilsudskis Militärdiktatur in den Untergrund gedrängten Kommunistischen Partei Polens an, für die er auch während seiner Wehrpflicht in den Jahren 1929/30 agitierte. Bald kam er aber mit der für Polen wie für Deutschland gleichermaßen verhängnisvollen ultralinken Komintern-Politik in Konflikt und wurde im November 1932 wegen "Überschätzung der faschistischen Gefahr" ausgeschlossen. Seine um seine Zeitschrift Horizont gescharte Gruppe bildete den Kern der polnischen "Linken Opposition", die sich mit etwa 350 Mitgliedern als Sektion der trotzkistischen "Internationalen Linken Opposition" anschloss.
1935—1937 beteiligte sich Deutscher am Experiment des "Entrismus" in der polnischen Sozialdemokratie (PPS). 1936 schrieb er eine Broschüre, in der er den ersten Moskauer Schauprozess (gegen Sinowjew, Kamenew und andere) als Propagandaschwindel entlarvte. Der Formierung einer (antireformistischen und antistalinistischen) neuen internationalen Organisation stand er skeptisch gegenüber. Als Anfang September 1938 die IV.Internationale aus der Taufe gehoben wurde, stimmten die beiden polnischen Delegierten gegen die Neugründung. Deutscher verließ bald darauf die polnische trotzkistische Gruppe und schloss sich fortan keiner politischen Organisation mehr an.
Im April 1939 reiste er über Paris nach London, lernte in kürzester Zeit Englisch und begann, auch für englische Zeitungen zu schreiben. Nach einem Intermezzo als Freiwilliger bei der polnischen Exilarmee in Schottland arbeitete er in den Jahren 1942—1949 in der Redaktion des Economist, galt bald als Osteuropa-Experte und schrieb regelmäßig für den Observer, zu dessen Mitarbeitern auch Sebastian Haffner zählte. Die Frucht dieser Jahre waren mehr als tausend Artikel, von denen viele, oft unter Pseudonym, auch in anderen Zeitungen erschienen.
1949, also noch zu Lebzeiten des Kreml-Despoten, veröffentlichte Deutscher seine Stalin-Biografie, die sogleich heftig attackiert wurde, keineswegs nur von Stalinisten, die in Deutscher einen "Renegaten" und Häretiker sahen, sondern auch von westlichen Ex- und Antikommunisten und sogar von Trotzkisten, die das Buch für eine Art "Rechtfertigung" Stalins und seines Herrschaftssystems hielten. Die Stalin-Biografie wurde in zwölf Sprachen übersetzt.
In den folgenden fünfzehn Jahren bildeten Isaac und Tamara Deutscher so etwas wie ein privates Institut für Zeitgeschichte. Neben der großen Trotzki-Biografie, Deutschers Hauptwerk, erschienen eine ganze Reihe von Aufsatzsammlungen, deren zentrales Thema die Entwicklung der Sowjetunion und der anderen "sozialistischen" Staaten sowie der internationalen kommunistischen Bewegung nach Stalins Tod war. Mitte der 60er Jahre engagierte sich Deutscher, ähnlich wie Herbert Marcuse oder Günther Anders, auf der Seite der "Neuen Linken" gegen den Vietnamkrieg, beteiligte sich an der Arbeit des "Russell-Tribunals", das die US-Kriegsverbrechen anprangerte, und trat als Redner bei Antikriegsveranstaltungen auf. So schlug er eine Brücke zwischen dem revolutionären Marxismus der Zwischenkriegszeit und dem gleichermaßen gegen Faschismus und Stalinismus gerichteten "Antiautoritarismus" der Studenten- und Jugendprotestbewegung der 60er Jahre.
Im Hinblick auf Trotzkis Geschichte der russischen Revolution, die in den Jahren 1931 und 1932 erschienen war, schrieb Deutscher 1963: "Er ist in der Tat der einzige geniale Historiker, den die marxistische Schule bis jetzt hervorgebracht ... hat." Seine eigene Trotzki-Biografie, deren drei Bände 1954, 1959 und 1963 veröffentlicht wurden, gilt als ein Musterbeispiel marxistischer Historiografie, als ein grandioser Versuch, die Rolle des Vordenkers, Organisators und Verteidigers der Oktoberrevolution in der Geschichte des 20.Jahrhunderts zu bestimmen. Deutscher war ein brillanter Soziologe und ein bedeutender Erzähler. In seiner Trotzki-Trilogie schilderte er nicht nur das Leben und Denken des großen Revolutionärs, sondern beschwor die ganze Epoche der internationalistisch orientierten, revolutionären europäischen Arbeiterbewegung herauf, der Trotzki angehört hatte und die mit dem Zweiten Weltkrieg zu Ende ging. Die stalinistische Propaganda hatte versucht, die Erinnerung an diese Epoche und ihre großen Gestalten auszulöschen. Deutschers Rekonstruktionsarbeit glich der Arbeit der Archäologen, die das vom Vesuv unter Asche und Lavagestein begrabene antike Pompeji nach vielen Jahrhunderten wieder ausgruben. Er hat den Fälschern der Stalin-Schule das Handwerk gelegt und die Oktoberrevolution samt ihren Protagonisten den Rebellen und Revolutionären der nachstalinschen Generationen nahe gebracht. Erst 1991 wurde der dritte Band der Trotzki-Biografie in einer russischen Übersetzung veröffentlicht; eine komplette chinesische Ausgabe erschien 1999 in Peking.


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität




zum Anfang