SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2007, Seite 2

Sozialbericht NRW und Kinderarmut

Aus wenig Geld viel Gesundes zaubern

von Gisela Notz

Anfang Mai 2007 hat das Sozialministerium in Nordrhein-Westfalen einen neuen Sozialbericht vorgestellt. Er spiegelt die Situation "unterversorgter Personen" ebenso wie die Entwicklung von Reichtum und Vermögen wider. Das Datenmaterial zum Reichtum ist bereits sechs Jahre alt, neuere Zahlen lägen nicht vor. Aus dem Bericht geht hervor, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft. Rund 2,57 Millionen arme Menschen leben in NRW, darunter 815000 Kinder und Jugendliche. 720000 Menschen gelten als überschuldet. Auf der anderen Seite gab es 462730 Einkommensreiche, darunter 3192 Einkommensmillionäre, die ein Jahreseinkommen von durchschnittlich 1,51 Millionen Euro haben. 1,37 Millionen Haushalte gelten als vermögensreich, weil sie mindestens 222600 Euro besitzen.
Armut ist längst zur Verhandlungsmasse geworden und wird unterschiedlich definiert. Bis heute streiten sich die Gelehrten darum, ab welchem Grad der Unterausstattung bzw. Unterversorgung mit welchen Ressourcen Armut beginnt.
Nach dem neuen Bericht gilt ein Ehepaar mit zwei Kindern unter 14 Jahren als arm, wenn das Haushaltseinkommen unter 1661 Euro liegt. Alleinerziehende mit einem Kind unter 14 Jahren sind arm, wenn sie weniger als 923 Euro zur Verfügung haben. Damit geht der Bericht vom "Haushaltsansatz" aus, anstatt die einzelnen Individuen als Analyseeinheit zu berücksichtigen. Haushalt und Familie sind schon lange keine einheitlichen Gebilde, die von den dort zusammenlebenden Menschen gemeinsam gestaltet werden und ihnen gleiche Lebenschancen ermöglichen, die sich dann im Alter fortsetzen.
Die Notwendigkeit der gerechten Verteiligung wird im Bericht nicht diskutiert. Skandalisiert wird vor allem die Armut von Kindern und Jugendlichen. Ihr wird ein ganzes Kapitel gewidmet. Kein Wunder, kein Thema wird so emotionsgeladen diskutiert wie die Tatsache, dass Deutschland angeblich zu wenige Kinder hätte, und nun stellt sich heraus, dass von dieser (angeblich) aussterbenden Spezies jedes vierte von Armut betroffen ist. Diesen Kindern stehen rund 2,55 Euro täglich für (Über-)Lebensmittel zur Verfügung. was nicht annähernd für ein gesundes Essen ausreicht.
Dem Bericht kommt der Verdienst zu, dass nicht nur Erwerbslosigkeit als Armutsindikator angeführt wird, sondern auch die breiter werdenden Zone prekärer Erwerbsbeteiligungsmuster und der Arbeit im Niedriglohnsektor. Zudem geht es nicht mehr um rein materielle Armut, sondern es werden Analysen zur "Teilhaber-Armut", d.h. Zugang zu Bildung, Erwerbsbeteiligung, Gesundheit und Wohnen vorgestellt. Prekäre Erwerbsbeteiligung wird im Erwerbsverlauf analysiert und festgestellt, dass bei jedem 6.Vollzeitarbeitnehmer mit minderjährigen Kindern das Einkommen nicht ausreicht, um dem Armutsrisiko zu entgehen.
Der Bericht soll als wichtige Planungsgrundlage zur zielgenauen Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung dienen. Verbände der freien Wohlfahrtspflege stellen daher in einem eigenen Kapitel Forderungen auf: die ALG-II-Regelsätze "an die Lebenswirklichkeit anzupassen", Lehrmittelfreiheit oder "übergangsweise Zuschüsse" für Bücher und bezahlbares Essen in Ganztagsschulen einzuführen. Die Kommunen werden aufgefordert für einkommensarme Menschen "Bildungs- oder Teilhabepässe" für verbilligten Zugang zu Kultur, Spiel und Sport einzuführen. Verschiedene Volkshochschulen appellieren bereits an die Selbsthilfepotenziale vor allem der Mütter, denn sie sind es meist, die mit dem wenigen Geld wirtschaften (müssen). Sie bieten Kochkurse an, wie man aus ganz wenig Geld viel Gesundes zaubern kann.
Vertreter von Wohlfahrtsverbänden aller Richtungen und der Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) waren sich bei der Vorstellung scheinbar einig: Gegen die zunehmende Verarmung immer weiterer Bevölkerungskreise muss etwas getan werden. Was genau, wird nicht deutlich. Man kann also gespannt sein, welche Konsequenzen die Landesregierung aus dem Bericht ziehen wird. Dass die Reichen zur Kasse gebeten werden, ist offenbar nicht vorgesehen. Der Minister lehnte eine Wiedereinführung der Vermögensteuer ab, weil er nicht glaubt, dass man die Probleme der "kleinen Leute" mit einer "Neiddebatte" lösen könne. Das kostenlose Schülermittagessen ist gerade von der Landesregierung gestrichen worden, das sollen nun die Kommunen ausgleichen. Kölns Sozialdezernentin denkt über Hobbygutscheine nach, damit arme Kinder die gleichen Reitstunden, wie Kinder reicher Eltern bekommen können und das Geld nicht für irgendetwas Sinnloses (z.B. neue Fernseher) verbraten wird. Ob sich die Kinder dann reich und tüchtig vorkommen?


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