SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2007, Seite 03

Kinder fordern ein Recht zu arbeiten

Das Für und Wider des Verbots der Kinderarbeit

von Manfred Liebel

Mit der zunehmenden Verarmung insbesondere von Kindern geht auch der "stumme Zwang" einher, sie von der Schule wegzunehmen und arbeiten zu schicken, damit sie zum Unterhalt der Familie beitragen. Häufig genug werden sie als Lohndrücker gegen die Erwachsenen eingesetzt. Diese reagieren darauf mit Entsetzen und fordern vielfach das Verbot der Kinderarbeit. Kinder sehen dies anders.
Seit nunmehr dreißig Jahren entstehen in den Ländern des globalen Südens soziale Bewegungen arbeitender Kinder, die inzwischen sogar weltweit vernetzt sind. Auf ihrem jüngsten interkontinentalen Treffen, das im Oktober 2006 in Siena, Italien, stattfand (www.pronats.de), forderten sie zum wiederholten Mal das Recht, in Würde zu arbeiten. Da diese Forderung, die sich gegen Verbote und Bevormundungen richtet, oft missverstanden wird, soll sie hier erläutert werden.

Warum wollen Kinder arbeiten?

Eines der wichtigsten Credos der Bewegungen arbeitender Kinder besteht darin, dass es nicht die Arbeit ist, die ihnen zu schaffen macht, sondern die Bedingungen, unter denen sie diese vielfach verrichten müssten. Sie wissen, dass sie in einer weniger von Armut und dem "Diktat des Geldes" geprägten Situation mehr Möglichkeiten hätten, sich eine Arbeit auszusuchen, die ihnen gefällt und ihnen was bringt. Doch kaum ein arbeitendes Kind will sich zurückversetzen lassen in ein Kindheitsreservat, in dem es nichts zählt und auf Gedeih und Verderb den Erwachsenen ausgeliefert ist. Und kaum ein arbeitendes Kind hält es für hilfreich, den Kindern die Arbeit zu verbieten. Wenn schon Gesetze, dann erwarten diese Kinder, dass sie ihnen ebenso wie den Erwachsenen das Recht einräumen zu arbeiten und dafür sorgen, dass sie bei ihrer Arbeit besser geschützt werden und mehr zu sagen haben.
Auch in Deutschland und anderen Ländern Europas arbeiten heute wieder viele Kinder. Ihre Arbeit zeigt große Unterschiede zur Arbeit von Kindern in den Ländern des Südens auf. Sie wird in der Regel nicht um des Überlebens willen ausgeübt, und sie gefährdet und belastet die Kinder bei weitem nicht so stark. Doch über die Unterschiede hinweg fällt auf, dass das Denken der Kinder über ihre Arbeit viele Ähnlichkeiten aufweist. Es fällt auf, dass die wenigsten Kinder ihre Arbeit als aufgezwungen oder unangenehm erleben, sondern eher als eine Gelegenheit, etwas Ernsthaftes und Nützliches zu machen, auf das sie stolz sein können: stolz, eigenes Geld zu verdienen, über das sie selbst verfügen können, stolz, auf eigenen Füßen zu stehen und etwas zu lernen, das sie gebrauchen können.
Wenn arbeitende Kinder des Südens für sich ausdrücklich das Recht zu arbeiten einfordern, betonen sie meist, dass es ihnen um eine "Arbeit in Würde" oder eine "Arbeit ohne Ausbeutung" geht. Sie tun dies nicht, um Bedenken der Erwachsenen zu zerstreuen oder das in nahezu allen Ländern der Welt bestehende Verbot der Kinderarbeit zu umgehen, sondern weil sie in der Arbeit eine Möglichkeit sehen, interessante und neuartige Erfahrungen zu machen und auf ihre Weise die Welt zu entdecken und mitzugestalten. Auch wenn in diesem Zusammenhang gelegentlich davon die Rede ist, dass die Arbeit ihnen als Kindern gesellschaftliche Anerkennung verschaffe, wird die Arbeit nicht als Voraussetzung, sondern als Bestandteil und Ausdruck ihrer neuen, gleichberechtigten Stellung und Rolle verstanden.
Die Rede von der "Arbeit in Würde" enthält eine andere Vision sowohl von Gesellschaft als auch von Kindheit. Sie kann als integraler Bestandteil einer "Solidarischen Ökonomie" verstanden werden, die das auf Gewinnmaximierung fixierte kapitalistische Wirtschaftssystem allmählich ersetzt und neue soziale Beziehungen zwischen gleichberechtigten Subjekten impliziert.

Arbeitsverbot oder Recht zu arbeiten?

Unter Sozialwissenschaftlern besteht heute weitgehend Einigkeit, dass ein generelles Verbot der Kinderarbeit bzw. die Festlegung eines Mindestalters für den Arbeitsbeginn eher Nachteile als Vorteile für die Kinder mit sich bringt. Dies gilt auch für Boykottmaßnahmen im internationalen Handel gegen Produkte, "in denen illegale Kinderarbeit steckt". Gegen Mindestaltersregelungen, wie sie heute in den meisten nationalen Kinderschutzgesetzen fixiert sind und von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gefordert werden, wird eingewandt, dass sie die Kinder nicht in der erwarteten Weise vor Risiken bei der Arbeit schützen, sehr wohl aber häufig unerwartete Effekte haben, die die Risiken für die betroffenen Kinder erhöhen und sie noch verletzlicher machen.
Der pauschale Ausschluss von Kindern aus der Arbeit berücksichtigt nicht die spezifischen Lebensumstände der Kinder und ihrer Familien und kann dort, wo das Arbeitseinkommen der Kinder für das Überleben unverzichtbar ist, die Familien in noch größere Not stürzen. Weder berührt es die Gründe, die Kinder veranlassen zu arbeiten, noch respektiert es deren Willen, ihrer Familie beizustehen. Er versetzt die Kinder, die weiter einer Arbeit nachgehen, in eine Situation der Illegalität und macht sie noch rechtloser und wehrloser.
Ein pauschales Verbot der Kinderarbeit lässt es nicht zu, die Arbeitsverhältnisse der Kinder differenziert zu betrachten und die Möglichkeiten einer Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen auszuloten. Es erschwert auch die immer wieder unternommenen Versuche, den Kindern Bildungsmöglichkeiten zu bieten, ohne sie zu zwingen, ihren Arbeitsverdienst aufzugeben, oder neue Arbeitsgelegenheiten für Kinder zu schaffen, die nicht auf Ausbeutung beruhen und sich mit dem Erwerb lebenswichtiger Kompetenzen verbinden lassen. Den Mindestaltersregelungen liegt ein schematisches Verständnis des Verhältnisses von Arbeit und Kindheit zugrunde, das sich Arbeit nur ohne Kinder und Kinder nur ohne Arbeit vorstellen kann — bis an einer magisch wirkenden Altersgrenze plötzlich alles umgekehrt sein soll.
Kinder bis zu einem bestimmten Alter von der Arbeitswelt fernzuhalten wird zudem immer mehr zur Fiktion. Viele Kinder betrachten die Arbeit heute nicht nur als ein Mittel zum Lebensunterhalt, sondern auch als Gelegenheit, mehr Selbstständigkeit zu erlangen und neue Erfahrungen zu machen, die z.B. in der Schule nicht möglich sind. Kinder von solchen Erfahrungen fernzuhalten, nur weil sie ein bestimmtes Alter noch nicht erreicht haben, zwingt sie in ein infantiles Ghetto und hindert sie daran, sich in die "Welt der Erwachsenen" einzumischen. Interessanterweise häufen sich heute in vielen Gesellschaften die Bestrebungen, bereits Kindern "wirtschaftliche Erfahrungen" zu vermitteln, aber es wird peinlich vermieden, in diesem Zusammenhang von "Kinderarbeit" zu sprechen. Mitunter werden auf diese Weise unter der Hand — von pädagogischen Argumente verdeckt — die Kinder sogar instrumentalisiert und neuen Formen von Ausbeutung unterworfen.

Wasser auf die Mühlen des Neoliberalismus?

Gegen die Aufhebung des Kinderarbeitsverbots wird gelegentlich eingewandt, dass damit die Kinder des staatlichen Schutzes beraubt würden und ihrem Missbrauch und ihrer Ausbeutung Tür und Tor geöffnet werde. Dies sei gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, der Prekarisierung der Arbeit und wachsender Armut der Fall und erhöhe die Gefahr, dass die "billige Arbeitskraft" der Kinder die "teure" der Erwachsenen ersetze oder dass die Kinder für den Lebensunterhalt der Familien verantwortlich und zu Lückenbüßern für den neoliberalen Abbau des Sozialstaats gemacht würden. Mitunter wird auch befürchtet, dass verantwortungslose Eltern sich nun skrupellos ihrer Kinder bedienen könnten.
Es sei nicht bestritten, dass sich mit der wachsenden Armut und dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen auch die Lebensrisiken für Kinder erhöhen. Aber das Verbot der Kinderarbeit ist ein untaugliches Mittel, um die Kinder vor solchen Risiken zu schützen, weil es weder der Armut entgegenwirkt noch den Sozialstaat "zurückbringt". In keiner Region der Welt hat das Verbot der Kinderarbeit in den letzten Jahrzehnten bewirkt, die Zahl der arbeitenden Kinder zu verringern und deren Ausbeutung zurückzudrängen. Es hat, wie oben gezeigt, die arbeitenden Kinder eher rechtlos und wehrlos gemacht und damit ihren Schutz beeinträchtigt.
Mit dem Recht zu arbeiten wird nicht einfach die Abschaffung eines Verbots, sondern ein neues Recht gefordert, mit dem andere Rechte einhergehen, die einerseits einem besseren Schutz bei der Arbeit, andererseits einer Stärkung der gesellschaftlichen Stellung der Kinder dienen. Wenn Kinder z.B. das Recht haben, für die gleiche Arbeit die gleiche Bezahlung zu erhalten, und die Möglichkeit, dieses Recht durch sozialen Zusammenschluss zu untersteichen, können sie nicht mehr ohne weiteres als billige Alternative zu den Erwachsenen missbraucht werden. Damit müsste freilich auch ein Bewusstseinswandel bei den Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen einhergehen in dem Sinne, dass die arbeitenden Kinder als "legitime" und gleichberechtigte Kolleginnen und Kollegen anerkannt und gegebenenfalls solidarisch unterstützt werden.

Der Autor ist Berater der Bewegungen arbeitender Kinder in Lateinamerika und Afrika.



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