SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2007, Seite 04

Deutschland, einig Überwachungsland

Die Angst der Politiker vor dem Scheitern ihrer Politik

von CHRISTINE WICHT

Die Bundesregierung plant eine Änderung des Passgesetzes. Die Polizei kann künftig zur Verfolgung von Straftaten auf digitalisierte Passbilder zugreifen. Mit diesem Gesetz sollen die rechtlichen Grundlagen für die elektronischen Reisepässe mit biometrischen Daten geschaffen werden, die ab November ausgegeben werden. Seit Ende 2005 enthalten neue Reisepässe einen Chip, auf dem das Passbild in digitalisierter Form gespeichert ist. Ab November 2007 soll dieser Chip zusätzlich die digitalisierten Abdrücke der zwei Zeigefinger enthalten, die nach Schäubles Wunsch bei den Meldeämtern gesammelt werden sollen. Nach dem Passgesetz dürfen die biometrischen Daten nur auf dem Pass gespeichert und zur Identifizierung des Passinhabers verwendet werden. Die Passdaten müssen von den Ordnungs- und Sicherheitsbehörden bei den insgesamt rund 5300 Passregistern in Deutschland im Einzelfall abgefragt werden.
In einem nächsten Schritt könnte das mit der Videoüberwachung kombiniert werden. Das Bundeskriminalamt hat kürzlich ein System getestet, das Gesichter aus Menschenmengen herausfiltert und diese sofort mit Bildern aus einer Datenbank vergleicht.
Es wurden auch weitere Sicherheitspläne von Schäuble bekannt: Das Bundesverfassungsschutzgesetz soll geändert werden: Das nachrichtendienstliche Informationssystem (Nadis), welches das Bundesamt für Verfassungsschutz mit den 16 Landesverfassungsschutzämtern vernetzt, soll modernisiert werden, um den Datenaustausch zu verbessern. Ferner beabsichtigt Schäuble eine Änderung von Artikel 10 des Grundgesetzes, der das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis betrifft.
Ständig werden neue Vorhaben über weitere Datenspeicherungen gemeldet — so die Nutzung der Mautdaten zur Verbrechensbekämpfung, Telefonüberwachung und Onlinedurchsuchungen (künftig sollen Daten von Telefon- und Internetverbindungen zur besseren Verfolgung schwerer Straftaten sechs Monate lang gespeichert werden) — dies alles unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung. Deutschland wird zunehmend zu einem Überwachungsstaat nach der Vision des Buches 1984 von George Orwell.
Der Kampf gegen Terrorismus wird offenbar nur noch mit repressiven Mitteln geführt — mit Militäreinsätzen im Äußeren und mit Überwachungsmaßnahmen im Inneren. Der ganz überwiegende Anteil der politischen Energien beschränkt sich darauf. Eine Reflexion darüber, warum eine Bedrohung durch Terrorismus besteht oder gar Überlegungen, wie man den Terrorismus mit anderen politischen Mitteln eindämmen könnte, findet von politischer Seite kaum statt. Im Gegenteil, wer einen Zusammenhang zwischen der Lieferung der Tornado-
Kampfflugzeuge nach Afghanistan und einer weiteren Verstrickung Deutschlands in einen Krieg herstellt, wird politisch ins Abseits gedrängt.
Umso mehr werden unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung Gesetze vorangetrieben, die immer mehr auf eine totale Überwachung der Bürger hinauslaufen. Der Verfolgungswahn einiger Politiker, allen voran Wolfgang Schäuble, führt dazu, dass Gesetze eingeführt werden, die tief in die demokratischen Grund- und Freiheitsrechte jedes einzelnen Bürger eingreifen. Zur Legitimation der Vorhaben wird in der Bevölkerung Angst und Unsicherheit geschürt. Man gaukelt den Bürgern vor, dass sie sich mit immer neuen Maßnahmen in unserem Land sicher fühlen könnten. Dabei ist die innere Sicherheit eines Landes entschieden mehr gefährdet durch Armut, Arbeitslosigkeit, sinkende Bildungsmöglichkeiten, sinkende soziale Absicherung und die damit verbundene steigende Kriminalität, als durch Terrorismus. Nachhaltige Maßnahmen zur Lösung der bestehenden sozialen Probleme wären ein probateres Mittel, um die innere Sicherheit in unserem Land dauerhaft aufrecht zu erhalten.
In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob das Schüren von Ängsten bei den Bürgern, der Sicherheitswahn und die Überwachungsmanie einiger politischer Entscheidungsträger nicht eher dazu dienen, von den drängenden Problemen Arbeitslosigkeit und zunehmende Armut in unserem Land abzulenken, statt mehr Sicherheit vor Terrorismus zu schaffen. Vielleicht ist die totale Überwachung der Bürgerinnen und Bürger ja auch weniger ein Reflex auf Terrorismus, sondern vielmehr ein Produkt der Angst konservativer Politiker, dass das Scheitern ihrer Politik zu sozialen Konflikten in einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft führen könnte?
Die Autorin schreibt für www.nachdenkseiten.de.


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