SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2007, Seite 05

"Es geht darum, kritische Bürger einzuschüchtern"

Ulla Jelpke über Strategien der Spannung

ULLA JELPKE ist Journalistin und MdB für Die Linke, deren innenpolitische Sprecherin sie ist. Ihre Schwerpunkte sind Migrations- und Flüchtlingspolitik, Sicherheitsgesetze und Verteidigung von Grundrechten sowie Antifaschismus und Menschenrechtsfragen. Mit ihr sprach Angela Klein über die Einschränkungen von Grundfreiheiten, Gesetzesänderungen und die Razzien gegen die G8-Gipfelgegner.



Die Bundesanwaltschaft ordnet Hausdurchsuchungen unter Verweis auf die Bildung einer terroristischen Vereinigung an — und bekennt gleichzeitig, dass sie keine konkreten Hinweise auf Anschläge hat. Wenige Tage später wird das Versammlungsrecht um Heiligendamm außer Kraft gesetzt. Dazu heißt es in der Allgemeinverfügung, es komme auf konkrete Anhaltspunkte für einen geplanten Anschlag gar nicht an. Kann man jetzt jede Demonstration präventiv auseinander nehmen?

Natürlich nicht. Ich glaube auch nicht, dass die Allgemeinverfügung Bestand haben wird. Das Bundesverfassungsgericht und etliche Ländergerichte haben schon oft genug geurteilt, dass solche Großveranstaltungen wie der G8-Gipfel sich öffentliche und wahrnehmbare Kritik gefallen lassen müssen. Es reicht nicht aus, die Ankündigung von Blockaden zur Grundlage zu nehmen, um tagelang das Demonstrieren zu verbieten.
Die ernstere Gefährdung sehe ich darin, dass die Demonstrationsfreiheit scheibchenweise zurückgedrängt wird. Schon beim Bush- Besuch wurde eine demokratiefreie Zone eingerichtet, wo den Anwohnern praktisch vorgeschrieben wurde, wie sie ihre Blumentöpfe auszurichten hatten. Dieser Hochsicherheitsbereich ist jetzt ausgeweitet worden.

Es scheint, dass selbst die Demonstration am 2.6. in Rostock davon betroffen sein wird. Auf was müssen sich die Gipfelgegner einstellen?

Vermutlich weiß die Polizei in Rostock selbst, dass ihr Verbot in dieser Form nicht durchkommen wird. Ich sehe da einen Zusammenhang mit den Razzien bei linken Projekten und Wohnungen: Auch hier wird die Generalbundesanwältin nicht wirklich geglaubt haben, brauchbare Ergebnisse zu erhalten. Es geht vielmehr darum, die Szene zu verunsichern und kritische Bürgerinnen und Bürger einzuschüchtern. Die Hoffnung der Staatsgewalt, dass Kriminalisierung und das Schüren von Gewaltängsten zu einer Schwächung der Proteste führt, könnte sich allerdings als trügerisch erweisen. Es war absolut ermutigend, wie direkt am Abend nach den Razzien spontan Tausende in Berlin und anderen Städten demonstriert haben.
In der Allgemeinverfügung ist sogar die Rede von einer Gefahr durch Präzisionswaffen und Raketen. Das ist so abenteuerlich, dass nicht einmal die Rostocker Polizei daran glauben kann. Wahrscheinlich denken die, dass sie ein möglichst großes Schreckensszenario aufbauen müssen, um vor Gericht durchzukommen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass ihnen die Gerichte auf den Leim gehen.

Das Polizeigesetz von Mecklenburg-Vorpommern ist als das schärfste in Deutschland berüchtigt. Inwiefern? Aus welchem Anlass wurde es erlassen? In welchem Zusammenhang steht es?

Tatsächlich wurde das im bundesweiten Vergleich relativ liberale "Sicherheits- und Ordnungsgesetz" (SOG) von Mecklenburg-Vorpommern im Juni 2006 durch Novellierung in eines der schärfsten Polizeigesetze transformiert. Die damalige SPD-PDS-Landesregierung bezog sich in ihrer Begründung ganz offen auch auf den G8-Gipfel in Heiligendamm. Auch der Zeitpunkt der Verabschiedung lässt nur den Schluss zu, dass es in erster Linie darum ging, geeignete Repressionsinstrumente für die Proteste gegen den Gipfel zu schaffen: Die Novelle wurde kurz vor Ende der Legislaturperiode, aber einen Monat vor dem Bush-Besuch in Merkels Heimatwahlkreis im Juli 2006 sowie ein Jahr vor dem G8- Gipfel verabschiedet.
Das novellierte SOG weitet die Überwachungsbefugnisse der Polizei erheblich aus. So erlaubt es Videoüberwachungen öffentlicher Plätze, Videoaufzeichnungen in Polizeifahrzeugen zwecks "Eigensicherung", das automatische Ablesen von KFZ-Kennzeichen, "präventive" Telekommunikationsüberwachung und die Ausweitung der Rasterfahndung. Dass die PDS in Mecklenburg- Vorpommern in Eintracht mit der CDU und der SPD diese Novelle mit verabschiedet hat, ist eine Katastrophe. Sie reiht sich hier ein in die Große Koalition der Demokratie- und Bürgerrechtsbeschneider.

Man gewinnt den Eindruck, dass Schäuble ein wenig Genua spielen will: also an einer Strategie der Spannung arbeitet, bei der im Vorfeld Anschläge herbeigeredet werden, damit sie umso leichter möglich werden — und wenn die Staatsmacht sie selber verursachen muss. Sind wir schon so weit? Und wie könnten wir uns da schützen?

Die Razzien gegen die Gipfelgegner zeigen durchaus Parallelen zu Genua. Schäuble redet Gefahren herbei, die so einfach nicht existieren, um politische Alternativen zu stigmatisieren. Interessanterweise wird er immer sehr schwammig, wenn es um konkrete "Bedrohungsszenarien" geht. Schäuble versucht auch ganz offensichtlich, die Bewegung entlang der Militanzfrage zu spalten und die guten, demokratisch Protestierenden zu einer Distanzierung von den bösen, gewaltbereiten "Chaoten" aufzufordern. Es kommt auf alle Teile der Bewegung an, sich hier nicht gegeneinander ausspielen zu lassen.
Andererseits ist der Vergleich zu Genua auch etwas zu hoch gegriffen. Leider ist das Protestpotenzial in Deutschland vergleichsweise geringer. Niemand geht zur Zeit ernsthaft davon aus, dass es einem Demonstrationszug gelingen könnte, die "Rote Zone", innerhalb des Zaunes zu betreten. Gleichzeitig hat die Repression (noch) nicht das Ausmaß von Genua erreicht. Damals wurden im Vorfeld zum Beispiel gezielt Berichte in die Presse lanciert, die Regierung habe 200 Leichensäcke nach Genua geordert. Neben dem ungeheuren Ausmaß der Polizeigewalt, die sich in Genua entlud, muss jedoch auch hervorgehoben wurden, dass dort in räumlicher Nähe zum Ort des Geschehens selbst demonstriert werden durfte, was zumindest momentan in Heiligendamm verboten ist.

Irgendwie passt das gut zur derzeit geplanten Ausweitung des Überwachungsstaats: Online- Durchsuchungen, elektronische Fingerabdrücke, allgemeiner Datenabgleich usw. Siehst du da einen Zusammenhang?

Die Ausweitung des Überwachungsstaats ist aus meiner Sicht ein langfristig geplantes Anliegen von Schäuble und Co. Großereignisse wie die Fußball-WM oder der G8-Gipfel haben hier in erster Linie eine Legitimationsfunktion, um gegenüber der Öffentlichkeit neue Beschneidungen von Bürgerrechten zu rechtfertigen. Aber ich betone: auch ohne diese Ereignisse würde der Ausbau des Überwachungsstaats voranschreiten, weil dies die herrschende politische Agenda ist, denn die Regierung hat allem Anschein nach Angst vor einer breiten Protestbewegung gegen die Folgen ihrer neoliberalen Politik. Wie sich in den letzten Wochen gezeigt hat, liegt ihr viel daran, die Überwachungsbefugnisse explizit gegen fortschrittliche Bewegungen auszuweiten.

Die Große Koalition will den Bundeswehreinsatz im Innern per Grundgesetzänderung ermöglichen. Was bedeutet das für die Demokratie in diesem Land?

Union und SPD spielen seit ihrem Regierungsantritt das Spiel guter Bulle, böser Bulle. Innenminister Schäuble fordert mindestens einmal pro Woche, die Bundeswehr vor Bahnhöfen und auf öffentlichen Plätzen zum Objektschutz einzusetzen, und Justizministerin Zypries gibt sich als Bedenkenträgerin, verweist auf die Grundrechte und will alles "sorgfältig prüfen". Dabei ist schon seit Monaten klar, dass auch die SPD das Grundgesetz ändern will. Während Schäuble am liebsten jeden mutmaßlichen Terroranschlag mit dem Kriegsrecht beantworten würde, gibt sich die SPD vorerst mit einem kleineren Schritt zufrieden und will Artikel 35 ändern. Dazu muss man sagen, dass das Luftsicherheitsgesetz, das ja den Abschuss verdächtiger Passagierflugzeuge vorgesehen hatte, unter anderem deswegen vor dem Verfassungsgericht gescheitert ist, weil nach geltender Rechtslage die Bundeswehr im Inland keine "militärtypischen" Waffen einsetzen darf. Das soll jetzt geändert werden. Zur "Abwehr eines besonders schweren Unglücksfalls", also bereits präventiv, könnte dann die Bundeswehr ihr schweres Kriegsgerät auffahren.
Was von der Bundesregierung dabei nicht thematisiert wird, ist der Aspekt der Menschenwürde. Das zentrale Motiv der Karlsruher Entscheidung war nämlich die Aussage, dass man nicht Leben gegen Leben aufrechnen könne. Es sei "schlechterdings unvorstellbar", hatten die Richter erklärt, dass der Staat unschuldige Menschen vorsätzlich töten dürfe. Die Menschenwürde gehört zum Garantiebestand des Grundgesetzes, da hilft der Regierung also keine Verfassungsänderung.
Hinzu kommt die historische Erfahrung: Wann immer in der deutschen Geschichte das Militär polizeiliche Aufgaben im Inland wahrnahm, stand dies im Zeichen demokratiefeindlicher Ziele. "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten", hieß es bereits 1848. In der Weimarer Republik tolerierte das Militär den monarchistischen Kapp-Putsch 1920 und zwang 1923 im Auftrag der Reichsregierung die SPD/KPD-Koalitionsregierungen in Sachsen und Thüringen zum Rücktritt. Unter dem Faschismus bildeten militärische Verbände und die Polizei unter Führung des Reichsführers SS Heinrich Himmler einen im In- wie Ausland wirkenden Terrorapparat. Eine Folge dieser Erfahrungen war die im Grundgesetz festgeschriebene Trennung polizeilicher und militärischer Zuständigkeiten.


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