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Ägypten erlebt zur Zeit die intensivste Welle von Streiks und
Arbeiterprotesten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die Menschenrechtsgruppe Egyptian Workers
and Trade Union Watch berichtet von rund 70 Streiks allein im April und Mai dieses Jahres. Das Regime von
Staatspräsident Mubarak, der das Land seit 28 Jahren autokratisch regiert, hat darauf mit scharfer
Repression reagiert. Vorläufiger Höhepunkt sind die vor kurzem von der Regierung
durchgepeitschten Verfassungsänderungen, die unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung auf eine
Kriminalisierung der Opposition abzielen und Polizei und Militär stärken.
Begonnen hat die neue Welle der
Arbeitskämpfe im Dezember 2004 in der Textilindustrie; sie waren eine Reaktion auf den Versuch der
Regierung, in diesem Bereich umfangreiche Privatisierungen vorzunehmen. Dies ist das bislang letzte Kapitel
in einer langen Geschichte staatlicher Misswirtschaft und Einflussnahme durch internationale
Finanzorganisationen.
Ägyptens Textilindustrie war Anfang
der 60er Jahre im Rahmen der Industrialisierungspolitik der Nasser-Regierung nationalisiert worden. Mit der
zunehmenden Militarisierung Ägyptens unter Sadat änderten sich allerdings die Prioritäten,
die Förderung der einheimischen Industrie geriet ins Hintertreffen. Spätestens seit den 80er
Jahren steckt Ägyptens Textilindustrie in einer Dauerkrise, die Löhne der Beschäftigten
sanken zwischen 1986 und 1994 um fast die Hälfte, der Maschinenpark ist veraltet, und die
Produktivität liegt heute weit unter dem Niveau vergleichbarer Länder wie Türkei oder
Tunesien.
Nach dem ersten Golfkrieg 1991 zwangen IWF
und Weltbank der ägyptischen Regierung ein "Strukturanpassungsprogramm" und damit die
Privatisierung des öffentlichen Sektors auf. Das Ergebnis war, dass Mitte der 90er Jahre 12% der
ägyptischen Staatseinnahmen aus dem Verkauf ehemals nationalisierter Unternehmen stammten. Im
Textilsektor stieg der Anteil von privaten Unternehmen zwischen 1992 und 2000 um 50%. Die Löhne der
ägyptischen Textilarbeiter allerdings gehören mittlerweile zu den niedrigsten der Welt, sie
liegen noch unter denen ihrer Kollegen in Pakistan oder Indien. Am unteren Ende der Lohnskala sind die
Frauen beschäftigt. Im Gegensatz zu den Arbeitern im öffentlichen Sektor haben die in privaten
Unternehmen weder Altersversorgung noch Krankenversicherung.
Als Ende 2004 Tausende von Ägyptern
gegen eine weitere Kandidatur Mubaraks zu den Präsidentschaftswahlen demonstrierten, führte dies
auch zu einem neuen Aufschwung der Arbeiterbewegung. Den Anfang machten etwa 400 Arbeiterinnen und Arbeiter
in der Textilfabrik von Qalyub nördlich von Kairo. Von Februar bis Juni 2005 besetzten sie ihre
Fabrik, um sich gegen die Übernahme durch einen privaten Investor zu wehren. Im Dezember 2006
streikten mehr als 20000 Arbeiterinnen und Arbeiter einer Textilfabrik in Mahalla-al-Kubra im Nildelta
gegen eine Kürzung von Bonuszahlungen. Dieser ausgesprochen militante Streik hatte offenbar eine
Vorbildwirkung: Bis zum März 2007 protestierten 30000 Textilarbeiterinnen und -arbeiter in zehn
Fabriken im Nildelta und in Alexandria für bessere Löhne in den meisten Fällen mit
Erfolg.
Die Auseinandersetzungen blieben nicht auf
den Textilsektor beschränkt. Im Dezember 2006 streikten die Arbeiter in den Zementwerken von Helwan
und Tura und die Automobilarbeiter von Mahalla al-Kubra. Im Januar dieses Jahres streikten die Eisenbahner
und drohten die Zugverbindung zwischen Kairo und Alexandria lahm zu legen. Wilde Streiks fanden u.a. auch
bei den Lastwagen- und Busfahrern statt.
Seit der Verabschiedung eines neuen Arbeitsrechts im Jahr 2003 sind Streiks in Ägypten formal
erlaubt. Voraussetzung ist aber, dass die Vereinigung der ägyptischen Gewerkschaften hierzu aufruft.
Diese offiziellen Gewerkschaften sind aber auf engste mit der regierenden Nationaldemokratischen Partei
(NDP) verbunden. Entsprechend mussten die Streiks der letzten Jahre gegen die Staatsgewerkschaften
durchgesetzt werden. Insbesondere nach den Textilarbeiterstreiks von Mahalla al-Kubra gab es deshalb
intensive Versuche, eine unabhängige Gewerkschaft ins Leben zu rufen. Ende Januar hatten rund 12800
Arbeiter eine Petition an die Textilarbeitergewerkschaft unterschrieben, in der sie eine Absetzung der
lokalen Gewerkschaftsleitung und Neuwahlen forderten. Die Gewerkschaftsführung in Kairo reagierte mit
einer Hinhaltetaktik, was schließlich dazu führte, dass Ende März mehrere tausend Arbeiter
aus Mahalla und anderen Städten den Verband verließen.
Die Schaffung einer unabhängigen
Gewerkschaftsbewegung ist seit langem ein Anliegen von sozialen Bewegungen und Organisationen der
politischen Linken in Ägypten. Diskussionen in diese Richtung gab es immer wieder in Teilen der
Kommunistischen Partei, der Demokratiebewegung Kifayah (Es reicht) und in einigen Gruppen der extremen
Linken. Letztere haben ihre Basis allerdings vor allem an den Hochschulen und nicht in der Arbeiterschaft.
Eine besonders positive Rolle scheint das Center for Trade Union and Workers Services (CTUWS) zu
spielen, das seinen Ursprung in den "illegalen Streiks" der 90er Jahre hat. Ende April hat die
Regierung mehrere Büros der CTUWS geschlossen.
Wie unsicher sich das Mubarak-Regime
mittlerweile fühlt, zeigt sich daran, mit welcher Hast im März dieses Jahres
Verfassungsänderungen nach einem offensichtlich manipulierten Referendum durchgesetzt wurden. Demnach
können "Verdächtige" ohne Gerichtsbeschluss überwacht, inhaftiert und verhört
werden. In der öffentlichen Wahrnehmung richten sich diese Maßnahmen vor allen Dingen gegen die
Muslimbrüderschaft. Aber natürlich können die jetzt beschlossenen Repressionsgesetze genau
so gegen die sich neu formierende Arbeiterbewegung eingesetzt werden.
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