SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2007, Seite 14

Ägypten - Massive Streikwelle und Repression

Proteste der Textilarbeiter greifen auf andere Sektoren über

von Harald Etzbach

Ägypten erlebt zur Zeit die intensivste Welle von Streiks und Arbeiterprotesten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die Menschenrechtsgruppe Egyptian Workers and Trade Union Watch berichtet von rund 70 Streiks allein im April und Mai dieses Jahres. Das Regime von Staatspräsident Mubarak, der das Land seit 28 Jahren autokratisch regiert, hat darauf mit scharfer Repression reagiert. Vorläufiger Höhepunkt sind die vor kurzem von der Regierung durchgepeitschten Verfassungsänderungen, die unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung auf eine Kriminalisierung der Opposition abzielen und Polizei und Militär stärken.
Begonnen hat die neue Welle der Arbeitskämpfe im Dezember 2004 in der Textilindustrie; sie waren eine Reaktion auf den Versuch der Regierung, in diesem Bereich umfangreiche Privatisierungen vorzunehmen. Dies ist das bislang letzte Kapitel in einer langen Geschichte staatlicher Misswirtschaft und Einflussnahme durch internationale Finanzorganisationen.
Ägyptens Textilindustrie war Anfang der 60er Jahre im Rahmen der Industrialisierungspolitik der Nasser-Regierung nationalisiert worden. Mit der zunehmenden Militarisierung Ägyptens unter Sadat änderten sich allerdings die Prioritäten, die Förderung der einheimischen Industrie geriet ins Hintertreffen. Spätestens seit den 80er Jahren steckt Ägyptens Textilindustrie in einer Dauerkrise, die Löhne der Beschäftigten sanken zwischen 1986 und 1994 um fast die Hälfte, der Maschinenpark ist veraltet, und die Produktivität liegt heute weit unter dem Niveau vergleichbarer Länder wie Türkei oder Tunesien.
Nach dem ersten Golfkrieg 1991 zwangen IWF und Weltbank der ägyptischen Regierung ein "Strukturanpassungsprogramm" und damit die Privatisierung des öffentlichen Sektors auf. Das Ergebnis war, dass Mitte der 90er Jahre 12% der ägyptischen Staatseinnahmen aus dem Verkauf ehemals nationalisierter Unternehmen stammten. Im Textilsektor stieg der Anteil von privaten Unternehmen zwischen 1992 und 2000 um 50%. Die Löhne der ägyptischen Textilarbeiter allerdings gehören mittlerweile zu den niedrigsten der Welt, sie liegen noch unter denen ihrer Kollegen in Pakistan oder Indien. Am unteren Ende der Lohnskala sind die Frauen beschäftigt. Im Gegensatz zu den Arbeitern im öffentlichen Sektor haben die in privaten Unternehmen weder Altersversorgung noch Krankenversicherung.
Als Ende 2004 Tausende von Ägyptern gegen eine weitere Kandidatur Mubaraks zu den Präsidentschaftswahlen demonstrierten, führte dies auch zu einem neuen Aufschwung der Arbeiterbewegung. Den Anfang machten etwa 400 Arbeiterinnen und Arbeiter in der Textilfabrik von Qalyub nördlich von Kairo. Von Februar bis Juni 2005 besetzten sie ihre Fabrik, um sich gegen die Übernahme durch einen privaten Investor zu wehren. Im Dezember 2006 streikten mehr als 20000 Arbeiterinnen und Arbeiter einer Textilfabrik in Mahalla-al-Kubra im Nildelta gegen eine Kürzung von Bonuszahlungen. Dieser ausgesprochen militante Streik hatte offenbar eine Vorbildwirkung: Bis zum März 2007 protestierten 30000 Textilarbeiterinnen und -arbeiter in zehn Fabriken im Nildelta und in Alexandria für bessere Löhne — in den meisten Fällen mit Erfolg.
Die Auseinandersetzungen blieben nicht auf den Textilsektor beschränkt. Im Dezember 2006 streikten die Arbeiter in den Zementwerken von Helwan und Tura und die Automobilarbeiter von Mahalla al-Kubra. Im Januar dieses Jahres streikten die Eisenbahner und drohten die Zugverbindung zwischen Kairo und Alexandria lahm zu legen. Wilde Streiks fanden u.a. auch bei den Lastwagen- und Busfahrern statt.

Kampf für unabhängige Gewerkschaften

Seit der Verabschiedung eines neuen Arbeitsrechts im Jahr 2003 sind Streiks in Ägypten formal erlaubt. Voraussetzung ist aber, dass die Vereinigung der ägyptischen Gewerkschaften hierzu aufruft. Diese offiziellen Gewerkschaften sind aber auf engste mit der regierenden Nationaldemokratischen Partei (NDP) verbunden. Entsprechend mussten die Streiks der letzten Jahre gegen die Staatsgewerkschaften durchgesetzt werden. Insbesondere nach den Textilarbeiterstreiks von Mahalla al-Kubra gab es deshalb intensive Versuche, eine unabhängige Gewerkschaft ins Leben zu rufen. Ende Januar hatten rund 12800 Arbeiter eine Petition an die Textilarbeitergewerkschaft unterschrieben, in der sie eine Absetzung der lokalen Gewerkschaftsleitung und Neuwahlen forderten. Die Gewerkschaftsführung in Kairo reagierte mit einer Hinhaltetaktik, was schließlich dazu führte, dass Ende März mehrere tausend Arbeiter aus Mahalla und anderen Städten den Verband verließen.
Die Schaffung einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung ist seit langem ein Anliegen von sozialen Bewegungen und Organisationen der politischen Linken in Ägypten. Diskussionen in diese Richtung gab es immer wieder in Teilen der Kommunistischen Partei, der Demokratiebewegung Kifayah (Es reicht) und in einigen Gruppen der extremen Linken. Letztere haben ihre Basis allerdings vor allem an den Hochschulen und nicht in der Arbeiterschaft. Eine besonders positive Rolle scheint das Center for Trade Union and Workers‘ Services (CTUWS) zu spielen, das seinen Ursprung in den "illegalen Streiks" der 90er Jahre hat. Ende April hat die Regierung mehrere Büros der CTUWS geschlossen.
Wie unsicher sich das Mubarak-Regime mittlerweile fühlt, zeigt sich daran, mit welcher Hast im März dieses Jahres Verfassungsänderungen nach einem offensichtlich manipulierten Referendum durchgesetzt wurden. Demnach können "Verdächtige" ohne Gerichtsbeschluss überwacht, inhaftiert und verhört werden. In der öffentlichen Wahrnehmung richten sich diese Maßnahmen vor allen Dingen gegen die Muslimbrüderschaft. Aber natürlich können die jetzt beschlossenen Repressionsgesetze genau so gegen die sich neu formierende Arbeiterbewegung eingesetzt werden.


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