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Am 14.April demonstrierten bis zu einer Million Menschen in Ankara, am 29.April fast zwei Millionen in
Istanbul und am 13.Mai eine Million in Izmir gegen eine weitere Islamisierung der Türkei. Hintergrund
war die Absicht der AKP, die den Ministerpräsidenten stellt, nun auch das Amt des
Staatspräsidenten zu übernehmen. Das türkische Parlament hat eine Verfassungsänderung
beschlossen, durch die das Staatsoberhaupt künftig in einer Direktwahl bestimmt wird. Am 22.Juli
finden in der Türkei Parlamentswahlen statt. ULF PETERSEN führte das nachstehende Interview mit
einer türkischen Feministin anlässlich der Reise einer internationalen Delegation nach Istanbul.
Haben die Leute wirklich Angst davor, dass die Türkei zu einer Art Iran wird?
Ja, sie haben Angst davor und gehen deshalb auf die Straße. Und ich glaube dass ein großer
Teil der Bevölkerung mit einer islamistischen Herrschaft glücklich wäre. Aber wir sollten
uns die Menge mit den Millionen türkischer Flaggen genauer ansehen, denn sie war in keiner Weise
homogen. Obwohl natürlich die Armee, die Medien und die von ihnen mobilisierten und offen
manipulierten "zivilen Massen" es so haben aussehen lassen.
Es waren viele Jugendliche da, auch mit
Piercings und Punk-Look, die nach dem Militärputsch von 1980 geboren wurden und in den fast drei
Jahrzehnten dessen, was man das "Regime von 1980" nennen könnte, aufgewachsen sind. Die
haben keine Ahnung von der Tatsache, dass es die Armee selbst war, die nach 1980 religiöse
Gefühle gefördert und benutzt hat, die den Koranunterricht in den Schulen verbreitet, das
Auftreten von sunnitischen Sekten auf der politischen Bühne gefördert und in den 90er Jahren die
türkischen Hizbollah massiv im Kampf gegen die PKK eingesetzt hat. Sie wissen nicht, dass das
Militär damit den islamistischen Terrorismus im Südosten gestärkt hat, wodurch Tausende von
Frauen in dieser Region gleichzeitig ein Hauptziel für den Terror der Islamisten, der PKK und der
türkischen Armee wurden; dass der Führer des Putsches, General Kenan Evren, damals keine Rede
ohne Zitate aus dem Koran begonnen hat, und dass es direkt nach dem Putsch eine Welle von Moscheebauten im
ganzen Land gab.
Diese "jungen" oder auch
älteren Menschen haben deshalb auch keine ethischen Bedenken, an diesen furchterregenden
nationalistischen Aufmärschen teilzunehmen, weil sie sich nicht vorstellen können, mehr als eine
Sache gleichzeitig zu tun: dass sie Angst vor einer islamistischen Herrschaft haben (wie ich sicherlich
auch, aber ich sehe sie nicht völlig in der AKP-Regierung verkörpert), aber deswegen nicht jeden
Moslem hassen, und sich gleichzeitig der furchtbaren Folgen einer Militärherrschaft bewusst sind und
Wege finden, sich ihr entgegenzustellen. Sie können sich nicht vorstellen, dass es noch andere
Möglichkeiten gibt als zwischen zwei Feinden zu wählen.
Es findet eine verdummende Polarisierung
statt zwischen dem sunnitischen Islam auf der einen und dem nationalistischem Säkularismus, der auch
etwas wie eine Religion geworden ist, auf der anderen Seite. Ich kann einige von den "Islamisten"
verstehen, weil ich den Staat und die völlig diktatorische Herangehensweise der Kemalisten an ihre
Lebensweise, wie sie sich kleiden sollen usw., ablehne. In dieser Hinsicht ist die Türkei schon sehr
wie der Iran! Dort bestrafen sie das halboffene Kopftuch und hier gibt es die Tendenz, kopftuchtragende
Frauen aus dem "säkularen" öffentlichen Raum zu verbannen! Eine nette Ähnlichkeit,
nicht?
Auch unter den nationalistischen
Säkularisten gibt es einige Leute, deren Unwillen, einer neuen Art von Unterdrückung zu begegnen,
man nachfühlen kann. Aber der Rest lauf um dein Leben, das sind militante Nationalisten, die
bereit sind dich loszuwerden!
Die Politiker mit ihren verrotteten Medien
vernebeln den Leuten die Hirne, sie präsentieren ihnen erstickende Dualismen und halten sie damit
davon ab, eine Vielfalt anderer Möglichkeiten zu entdecken: eine andere Art, die Geschichte zu lesen,
sich Dinge anzuschauen und sich zu organisieren. So entsteht ein furchtbares Vakuum. Wie ein
türkisches Sprichwort sagt: "Wer ins Meer fällt, greift nach der Schlange"!
Eine schlimme Tradition von geschichtlicher
Amnesie und willentlicher Ignoranz erleichtert die Bemühungen der türkischen Machtzentren (die
Armee, islamistische Faschisten, islamistisch-nationalistische Faschisten und nationalistisch-säkulare
Faschisten und was sonst nicht noch alles!), diese gefährliche Polarisierung zu schaffen. Und
und! das Militär gründet seine stark auf die Sozialdemokratie gestützte
Legitimität auf die Angst vor der Einführung der Scharia ein bequemes Spiel, muss ich
sagen!
Es ist keine Irreführung oder
Übertreibung, die derzeitige Lage in der Türkei in vielerlei Hinsicht mit den 30er Jahren in
Deutschland zu vergleichen, es tut mir sehr leid, das sagen zu müssen.
Einige Kommentatoren sprachen angesichts des großen Frauenanteils von einer
"Frauenrevolution" gegen die regierenden Islamisten. War es also nicht ein großer Protest
für Frauenrechte?
Das alles basiert auf dem Geburtsmythos dieser Republik: Ein edler Ritter (blauäugig und blond
noch dazu!) stürzte die bösen Osmanen und Imperialisten und sagte: "Wechselt eure Kleider
und Hüte und werdet modern." Den Frauen wurde das Recht zugestanden zu wählen und sich zu
entschleiern. Man mag denken, dass das nicht schlecht war im Vergleich zu den islamischen Traditionen der
osmanischen Zeit ja, vielleicht. Aber mein Problem ist, dass dies immer noch Teil der Mythologie
ist, welche die Grundlage dafür legte, dass die äußere Erscheinung viel wichtiger ist als
das, was sie verdeckt. Unter den modernen Kleidern blieb ein "träges" Denken erhalten, das
weitgehend von einer Autorität abhängig ist, die für sie handelt was diese ohne zu
zögern machte und macht.
Es gab osmanische Feministinnen,
moslemische, armenische und andere, aber keine Frau in der neuen Republik von 1923 erfuhr von ihrer
Existenz oder was sie zu sagen hatten, weil sie das alte arabische Alphabet nicht mehr lesen konnten
wer brauchte schon die Vergangenheit in der futuristischen kemalistischen Republik?! Dieser Bruch
trägt zur geschichtlichen Amnesie bei und die hat Tradition.
Der Feminismus kam erst in den 80er Jahren
zurück. Nicht zufällig war dies eine der wichtigsten Wiedererweckungen nach dem Putsch. Frauen,
die zum großen Teil an den vom Militär nieder geschlagenen revolutionären Bewegungen der
70er Jahre beteiligt waren, brauchten eine neue Betrachtung der Geschichte sowohl der gerade
beendeten revolutionären Periode und ihrer eigenen randständigen Rolle darin wie auch
darüber hinaus. Trotz vielfältiger Strömungen hat unsere "Bewegung" vor allem die
grundlegende feministische Idee der Körperpolitik betont: den Anspruch auf unseren Körper und das
Recht, über ihn zu bestimmen. Ich kann sagen, dass sich damals viele Frauen darüber geärgert
haben (ganz zu Schweigen von Männern aller politischen Richtungen, inklusive unserer früheren
"Genossen", die sich schon als "befreit" betrachteten) dank der in Erziehung,
Familie und allen Bereichen des sozialen Lebens verankerten kemalistischen Illusionen, einschließlich
der Illusionen über die Armee mit ihrer Rettermythologie! Indem sich die republikanischen Frauen als
Teil patriarchalischer Strukturen fühlen, täuschen sie sich wahrscheinlich über die Art
ihrer "Freiheit".
Aber eine feministische Kritik des
Patriarchats in allen Lebensbereichen (inklusive der Oppositionsbewegungen selbst, wo Männer so wenig
ihren Machismo und andere "schlechte Gewohnheiten" in Frage stellen!) ist für uns Frauen
entscheidend, um die Einschränkungen der Freiheit wirklich zurückzudrängen und die
Initiative nicht einigen Patriarchen zu überlassen. Und ich meine: Nicht nur der kemalistische Staat,
sondern auch die islamistischen Unterdrücker und alle Arten männlicher Chauvinisten sollen die
Hände von unseren Körpern lassen!
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