SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2007, Seite 19

John L. Gaddis: Der Kalte Krieg, München: Siedler 2007

Das Elend des liberalen Geschichtsbilds

von Paul B. Kleiser

Die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg wurde nachhaltig vom Kalten Krieg geprägt. Zeitweilig wurden fast alle Lebensbereiche von seiner Logik erfasst. Die Literatur zum Thema Kalter Krieg ist vielfältig und beinahe unüberschaubar. Daher ist es zunächst einmal verdienstvoll, wenn der US-Politologe John Gaddis von der Yale University versucht, eine leicht lesbare Überblicksdarstellung zu geben. Sie ist gut gegliedert und veranschaulicht ihren Gegenstand durch zahlreiche Bilder und Grafiken. Grundlage seiner Analyse sind die Ideen der "demokratischen Revolution", der "wirtschaftlichen Freiheit" und der "kollektiven Sicherheit". An Gaddis‘ Analyse lassen sich Glanz und Elend des politischen Liberalismus exemplarisch verdeutlichen.
Zunächst geht es in der Literatur um die Frage nach den Ursachen des Kalten Krieges. Im Großen und Ganzen kann man hier zwei Denkrichtungen unterscheiden: Die eine, die auf George F. Kennan zurückgeht, — dem das Buch auch gewidmet ist —, macht die Sowjetunion mit ihrer Ideologie des Marxismus-Leninismus und ihrer angeblichen Praxis, die Weltrevolution voranzutreiben, für den Ausbruch des Kalten Krieges verantwortlich. Auch Gaddis spricht von zwei "Ideologien mit globalem Anspruch", die sich bekämpften und einer "Sowjetunion", die "sich dem Klassenkampf verschrieben hatte".
Die Gegenströmung, begründet vom US-Historiker William A. Williams und weiter entwickelt von dessen Schüler Gabriel Kolko sowie von Gar Alperowitz, stellt die Politik der "offenen Tür", also der weltweiten Durchsetzung der "freien Marktwirtschaft" mit Hilfe der "Pax americana" in den Mittelpunkt. So wurden die Hilfen des Marshall-Plans 1947, die zusammen mit Trumans "Eindämmungspolitik" sowohl für den westeuropäischen Aufschwung wie für die Teilung des Kontinents von entscheidender Bedeutung waren, auch den osteuropäischen Ländern angeboten — aber eben um den Preis der Öffnung ihrer unterentwickelten und darnieder liegenden Märkte für den ungebremsten Warenstrom aus den USA. Damals verfügten die USA über fast 50% des weltweiten Bruttosozialprodukts und hatten mit einer enormen Überproduktion wegen der Umstellung auf die "Friedenswirtschaft" zu kämpfen.
Die realen Ziele der Sowjetunion hingegen waren im Wesentlichen defensiv: Sie wollte verhindern, von feindlichen Staaten umgeben zu sein und sich die Westmächte durch eine neutrale Zone in Mitteleuropa (und Asien) möglichst auf Distanz halten. Ihr Anspruch, an der Kontrolle von Gesamtdeutschland mitzuwirken, ergab sich (abgesehen vom Potsdamer Abkommen) aus der Forderung nach 10 Milliarden Dollar Reparationen wegen der von der Wehrmacht verursachten gigantischen Zerstörungen; diese Summe konnte ihre Besatzungszone (die spätere DDR) allein nicht aufbringen.
Gaddis sitzt dem Mythos auf, die SU hätte (aufgrund ihrer Ideologie) die Eroberung von ganz Europa im Sinn gehabt, räumt aber an anderer Stelle ein, dass sie aufgrund der Kriegsfolgen dazu gar nicht in der Lage gewesen wäre.
Der Grundfehler des Buches liegt aber darin, dass die Bevölkerungen der jeweiligen Länder offenbar nur als "Verfügungsmasse" vorkommen. Die Bedeutung von Einzelpersonen wie Stalin, Thatcher, Reagan, Havel, Johannes Paul II., aber auch Gorbatschow wird überbetont und das gesellschaftliche Umfeld, in dem sie agierten, aus dem Blick verloren. Soziale Bewegungen kommen bei Gaddis praktisch nicht vor. Die Oktoberrevolution ist für ihn nur "ein Staatsstreich" gewesen. Er ignoriert auch, dass Kommunisten in vielen Ländern (besonders auf dem Balkan, in Frankreich und Italien) einen bedeutsamen Anteil an den Kämpfen gegen die deutsche Besatzung hatten und es nicht nur Elend und Verzweiflung waren, die "die Menschen dem Kommunismus in die Arme trieben".
Auch Gaddis‘ Behauptung, der Kalte Krieg sei durch die Beendigung der Entspannungspolitik und die SDI-Initiative Ronald Reagans beendet worden, kann nicht überzeugen. Zwar sieht er, wie neue technologische Revolutionen und eine unzufriedene Bevölkerung den Ostblock immer stärker in die Defensive brachten und schreibt auf einmal, bei der Sowjetunion habe es "Anzeichen für das Fehlen jeglicher Strategie" gegeben. Doch weil er kein Verständnis für die Widersprüche bürokratischer Herrschaft hat, versteht er auch nicht, warum Gorbatschows Politik einer bürokratischen Selbstreform scheitern musste.
Die Periode des Fortschreitens "der Demokratie" scheint derzeit ins Stocken geraten zu sein, nachdem Putin mit autoritären Methoden (und unter Verzicht auf die frühere Ideologie) die Stabilität des russischen Staates wiederhergestellt hat. Und da es Anzeichen einer Wiederauflage zumindest von Elementen des Kalten Krieges gibt (vgl. SoZ 3/07), fällt auch die überaus optimistische These vom "Triumph der Hoffnung" in sich zusammen.


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