SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2007, Seite 17

Venezuela: Den Armen eine Stimme

Die internationale Kampagne gegen die Medienpolitik von Chávez beruht auf Lügen

von Stuart Munckton

Am 27.Mai lief für den Fernsehsender RCTV des Multimillionärs Marcel Granier die 20 Jahre lang gewährte Konzession aus, TV-Sendungen über den staatlichen Kanal 2 auszustrahlen. Die Regierung Chávez entschied, in Einklang mit Gesetzen aus der Vor-Chávez- Ära, die Konzession für RCTV nicht zu erneuern und den Kanal stattdessen für eine neue öffentliche TV-Station, TVes, zu verwenden.
Der neue Sender, der seinen Betrieb am 27.Mai aufnahm, wurde durch eine Anleihe einer staatlichen Bank errichtet. Die Regierung wird über den Inhalt der Sendungen nicht bestimmen können, da der Sender Programme kauft, die von unabhängigen Produzenten produziert werden.
RCTV wird über Satellit oder Kabel weiter ausstrahlen können, und die Leitung des Senders hat bereits signalisiert, dies zu tun. Für den Fall dass der Sender die Nichtverlängerung der Konzession zum Vorwand für die Entlassung von Beschäftigten nimmt, hat die venezolanische Regierung allen Beschäftigten von RCTV Jobs beim neuen Sender garantiert.
Die Regierung hat erklärt, dass ihre Entscheidung das direkte Ergebnis wiederholter Gesetzesverstöße durch RCTV ist. RCTV ist verantwortlich für mehr als 600 Verletzungen des venezolanischen Rundfunkgesetzes, darunter die regelmäßige Ausstrahlung von Pornografie, und hat die Zahlung von deshalb verhängten Geldbußen verweigert. Der Sender wurde auch beschuldigt, keine Steuern zu zahlen, und dafür kritisiert, dass in seinem Programm Venezolaner indigener oder afrikanischer Herkunft selten zu Wort kommen, obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerung stellen.
Entscheidender Beweggrund für die Nichterneuerung der Konzession war die Rolle von RCTV beim Militärputsch vom April 2002. Damals stürzten von den USA unterstützte Militärs die Regierung Chávez, die anschließend durch einen Aufstand der armen Volksmassen wieder eingesetzt wurde. Während ihrer kurzen Zeit an der Macht dankten die Putschisten dem Sender RCTV öffentlich für seine Hilfe.

Internationale Hetzkampagne

Diese Tatsachen wurden in einer internationalen Kampagne der bürgerlichen Medien zur Unkenntlichkeit verdreht. Sie behaupten, die Regierung Chávez steuere auf eine Diktatur zu, obwohl Pro-Chávez-Kräfte elf landesweite Wahlen hintereinander gewonnen haben und Chávez im Dezember mit einem Rekordergebnis in der Geschichte Venezuelas wiedergewählt wurde.
Die Kampagne basierte auf systematischen Lügen und Tatsachenverdrehungen. Darunter ist vor allem die Behauptung , RCTV sei "dicht gemacht" worden, obwohl der Sender weiter ausstrahlen darf. Am 21. Mai behauptete CNN, dass RCTV "geschlossen wird und nicht mehr ausstrahlen kann, weil Präsident Hugo Chávez kein großer Fan von ihm ist".
Die bürgerlichen Medien haben die Tatsache ignoriert, dass 79 von 81 Fernsehstationen und 706 von 708 Radiostationen in Privatbesitz sind und dass die Mehrheit der privaten Medien entschieden gegen Chávez eingestellt ist. Seit Chávez 1998 gewählt wurde, wurden nur zwei TV-Sender geschlossen: der staatliche Kanal 8 während des Putsches von den Putschisten und der kommunale Fernsehsender Catia TV im Juli 2002 vom damaligen Bürgermeister von Caracas und Putschanführer Alfredo Peņa.
Die Redefreiheit wurde unter der Regierung Chávez ausgedehnt. Unmittelbar nach Chávez‘ Machtantritt wurde ein Gesetz verabschiedet, das der gesamten Bevölkerung das Recht gibt, die Frequenzen des Landes zu benutzen. Dies legalisierte eine große Zahl vorher illegaler "Piratenradiosender" — die Art von Sendern, die in den USA immer noch illegal sind. Die Regierung hat kommunale Medien, insbesondere Radios, die in den letzten Jahren aufgeblüht sind, aktiv gefördert. Der neue Sender TVes soll der wachsenden Bewegung unabhängiger Medienproduzenten ein Betätigungsfeld schaffen.
Keiner der Kritiker konnte die Frage beantworten: Welche andere Regierung auf der Welt würde die Lizenz eines Senders erneuern, der aktiv an einem Putsch gegen die legitime Regierung beteiligt war? Die Toleranz der Chávez-Regierung gegenüber den am Putsch beteiligten privaten Medien ist bemerkenswert. Die Regierung hat nicht versucht, RCTV zu schließen oder seine Besitzer einzusperren, oder auch nur seine Lizenz zu annullieren, obwohl sie eine legale Handhabe dazu gehabt hätte. Stattdessen erlaubte sie, dass die Konzession fristgemäß auslief und entschied sich dann, sie anderweitig zu vergeben. Fairness and Accuracy in Reporting (FAIR, eine US-amerikanische Organisation, die die Medien beobachtet) veröffentlichte eine Stellungnahme, die die Medienkonzerne heftig kritisiert und feststellt: "Es ist wahrhaft verblüffend, dass dieser Gesellschaft [RCTV] nach dem Putsch fünf Jahre lang erlaubt wurde zu senden."
Die Regierung sagt, dass sie die Medien "demokratisieren" will, sodass diejenigen, die vorher von ihnen ausgeschlossen waren, eine Stimme haben. 80% der in Venezuela produzierten Botschaften, Informationen und Medieninhalte werden entweder von Marcel Granier oder vom Milliardär Gustavo Cisneros, dem Venevision gehört, kontrolliert. Beide sind mit Enkelinnen von William H. Phelps Jr. verheiratet, dem Gründer der Unternehmensgruppe 1BC, die RCTV betreibt. Cisneros ist auch einer der reichsten Männer Lateinamerikas und Besitzer mehrerer Firmen in Venezuela und in der Region.
Im Mittelpunkt der Kampagne über die Medien in Venezuela steht die von der Regierung Chávez angeführte bolivarianische Revolution, die den Reichtum der Nation umverteilt und die ökonomische und politische Macht der Oligarchie bricht. Der revolutionäre Prozess ermächtigt zunehmend die werktätige Bevölkerung und die Armen mittels der Beteiligungsdemokratie. Die Demokratisierung der Medien ist ein wichtiger Teil dieser Kampagne. Im Einklang mit ihrer zutiefst demokratischen Natur ist die Revolution bestrebt, das Medienmonopol zu brechen — nicht durch die Knebelung der reichen Minderheit, die das Monopol ausübt, sondern dadurch, dass diesem Monopol eine Explosion neuer Medien entgegengesetzt wird, die von denen betrieben werden, die vorher keine Stimme hatten.
Alle Versuche, diese friedliche und demokratische Revolution zu stoppen, sind gescheitert, und die Opposition ist zunehmend verzweifelt. An der Demonstration gegen die Nichtverlängerung der Lizenz für RCTV am 26. Mai nahmen weniger als 10000 Menschen teil, was die bürgerlichen Medien nicht daran hinderte, von mehreren Zehntausend zu sprechen. Die weitaus größeren Demonstrationen für die Entscheidung der Regierung, die oft spontan organisiert waren, wurden von den internationalen Medien ignoriert.
Nachdem die Opposition eine größere Massenmobilisierung nicht zustande brachte, nahm sie Zuflucht zur Gewalt: Studenten der wohlhabenden Universitäten, die Bastionen der Elite sind, gingen auf die Straße, verbrannten Reifen und Müll, um die Straßen zu blockieren, und griffen Polizisten mit Steinen an. Das unvermeidliche Bild von Polizisten, die gewaltsam die Straße räumen, rissen die bürgerlichen Medien aus dem Zusammenhang und suggerierten ein zunehmend autoritäres Regime in Venezuela. Dieselben Medien ignorierten, dass die Studierenden der von der Regierung Chávez gegründeten Bolivarianischen Universität, die geschaffen wurde, um den von den alten Universitäten ausgeschlossenen Armen eine kostenlose Ausbildung zu ermöglichen, am 29. Mai für die Entscheidung der Regierung auf die Straße gingen. Aporrea.org berichtete am 2. Juni, die Avenida Bolívar in Caracas sei von einem "roten Menschenmeer" aus dem ganzen Land gefüllt gewesen, die gegen die Gewalt der Opposition und für die Haltung der Regierung demonstrierten.
Die Regierung glaubt, hinter der RCTV- Kampagne stehe eine neue Verschwörung zur Destabilisierung des Landes, um die Regierung zu untergraben, sie international zu isolieren und die Grundlage für ihren Sturz und die Aufhebung der Errungenschaften der Revolution zu legen. Am 30.5. erschien eine Stellungnahme von über 600 Organisationen, darunter Gemeinderäte, politische Bewegungen, kommunale Medien und Kooperativen, die die Entscheidung der Regierung in Bezug auf RCTV begrüßte und die Proteste der Opposition als Bestandteil einer "imperialen Strategie" bezeichnet.
Angesichts der Medienkampagne hat die Regierung angekündigt, die Generalstaatsanwaltschaft werde eine Untersuchung über die Berichterstattung von CNN und den venezolanischen Sender Globovision einleiten. Die Regierung ist empört, dass eine spanische CNN-Sendung Proteste in Mexiko als Proteste in Venezuela gegen die RCTV- Entscheidung ausgab und CNN jüngst ein Bild von Chávez neben dem Bild eines ermordeten Al-Qaeda- Führers zeigte. Nach Auffassung der Regierung wollte Globovision zu Chávez‘ Ermordung anstacheln, als der Sender nach einem Interview mit Granier Bilder von dem gescheiterten Attentat auf Papst Johannes Paul II. brachte, während gleichzeitig ein Song mit dem Text "Glaub daran, es ist hier noch nicht zu Ende" gespielt wurde.
Venezuela ist Heimat der größten Ölvorkommen der Welt im Orinoko-Gebiet. Am 1.Mai verstaatlichte die Regierung Investitionen von sechs US-amerikanischen und europäischen Ölgesellschaften. Wie das Beispiel Irak zeigt, scheinen die Medienkonzerne, wenn es um die Profite aus dem Öl geht, bereit, jeden Unsinn zu schlucken, den ihr die Bush-Administration und ihre Verbündeten vorsetzen. Der "Angriff auf die Meinungsfreiheit", der angeblich in Venezuela stattfindet, spielt sich in Wirklichkeit am selben Ort ab wie die angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins — in den Köpfen des US State Department.

Gekürzt aus: Green Left Weekly (Sydney), Nr.712, 6.6.2007 (www.greenleft.org.au) (Übersetzung: Hans-Günter Mull).



Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität




zum Anfang