SoZ - Sozialistische Zeitung |
Ein Studentenprotest ohnegleichen hat Kolumbien in den letzten Wochen und
Monaten erschüttert. Er ging aus von der Bildungs"reform" und richtete sich am Schluss gegen
die Repressionspolitik der Regierung.
Das Sommersemester für die kolumbianischen Studierenden hatte turbulent begonnen. Schon in den
ersten Märzwochen kam es zu vereinzelten Auseinandersetzungen zwischen Studierenden der Universidad
Nacional de Colombia (UNAL) in Bogotá und einer Handvoll Wasserwerfern, verstärkt durch einige
Dutzend Sicherheitskräfte. Der Campus, eigentlich eine grüne Oase in der sonst grauen
Großstadt, glich einem Schlachtfeld.
Kurz darauf kam US-Präsident George W.
Bush für ganze sieben Stunden in die kolumbianische Hauptstadt. Wie überall sonst auf der Welt
wurde er von ein paar tausend Demonstrierenden empfangen, einige hundert entkamen der Einkesselung und dem
exzessiven Einsatz von Tränengas seitens der Polizei und legten die Septima, eine der wichtigsten
Geschäftstraßen der Stadt, über zwei bis drei Kilometer in Schutt, Asche und Scherben. Eine
Horde aufgebrachter Jugendlicher demolierte Banken, Fastfoodketten, Möbel- und Autohäuser.
Dann kam der 1. Mai. Massen von Menschen
zogen durch die Straßen. Es kam, wie es kommen musste: die Situation eskalierte. Im historischen
Zentrum der Stadt, der Plaza de Simón Bolívar, kam es wieder zu Ausschreitungen zwischen
Studierenden und schwer bewaffneten Polizeieinheiten. Die Veranstaltung wurde unter massivem Einsatz von
Tränengas in wenigen Minuten aufgelöst und eine Kampagne der Stigmatisierung der Studierenden als
"Terroristen" losgetreten.
In dieser Situation legten die Studierenden
den Uni-Betrieb in Bogotá mit einem Streik lahm und riefen zur Teilnahme an der eingesetzten Asamblea
General (Generalvollversammlung) auf. Der Streik sollte ursprünglich nur zwei Tage dauern. Die
aktuelle politische Konjunktur des Landes bescherte dem studentischen Protest jedoch eine bis dato
unerwartete Beteiligung.
Kurz zuvor hatte die kolumbianische Regierung nämlich unter dem Rechts-außen-Präsident
Álvaro Uribe Vélez ein "Reform"programm aufgelegt, das sie in den darauffolgenden Tagen
durch den Kongress bringen wollte. Das Programm sieht vor, die öffentliche Finanzierung des
Bildungssektors einzuschränken und einen Teil der Kosten den Universitäten, Schulen und
Spitäler selbst aufzubürden.
Das finanzielle Überleben der
Universitäten wird mittels des Acuerdo de concurrencia ("Übereinkommen der Konkurrenz")
einer strengen Marktlogik unterworfen. Reichen die staatlichen Subventionen nicht aus (und das tun sie
längst nicht mehr), muss verstärkt auf andere Einkommensquellen wie Drittmittel geschielt werden:
oder und hierin wurzeln letztlich die aktuellen Proteste die Studiengebühren werden
deutlich erhöht.
Neben den problematischen sozialpolitischen
Implikationen des verstärkten Ausschlusses breiter Bevölkerungsteile aus dem Bildungssektor
bedroht die Reform einige akademische Institutionen des Landes ganz existenziell. Das zeigt das Beispiel
der Universidad del Atlántico, die schon vor Jahren einem ähnlichen Reformprojekt zum Opfer fiel.
Die Universität an der kolumbianischen Karibikküste erlitt Ende 2006 einen Finanzkollaps und ist
seither bis auf weiteres geschlossen.
Im Kern ist es also der Konflikt zwischen
frei zugänglicher Bildung und dem Verständnis von (Aus-)Bildung als Ware, der Kolumbiens
Universitäten und Schulen seit über einem Monat in den Zustand der anormalidad académica
versetzt. Diese Auseinandersetzung geht freilich über die meisten europäischen
Studierendenproteste weit hinaus.
Die Proteste richten sich gegen die Stigmatisierung kritischer Stimmen; letztere wurde durch das
Programm Demokratische Sicherheit auf die Spitze getrieben.
Mit diesem Programm war Álvaro Uribe 2002
an die Macht gekommen ist. Es handelt sich dabei um eine stark militarisierenden "Law-&-
Order"-Politik, die Uribe gestützt von massiven internationalen Geldspritzen
seither konsequent umgesetzt hat. Dabei konnte er sich darauf stützen, dass die Friedensverhandlungen
mit den FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) unter seinem Vorgänger Andres Pastrana
gescheitert waren; die kolumbianische Öffentlichkeit war dadurch für eine militärisch
orientierte "Lösung" des bewaffneten Konflikts empfänglich geworden. Die
weltpolitischen Umbrüche in Folge des 11. September gaben Uribes massiver Aufrüstungspolitik
zusätzlichen Rückenwind.
Der Kampf gegen die
Aufständischengruppen wurde nun zum berüchtigten "Krieg gegen den Terror"
umgeschrieben. Die Parole "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" konnte 1:1 aus Washington
übernommen werden. In Kolumbien wurde die Strategie vor allem nach innen gewandt gegen die
oppositionellen kolumbianischen Akteure. In den ersten Monaten seiner Amtszeit gab es bedeutende
Repressionswellen (Massenverhaftungen, Militarisierung usw.). Diese stießen bei nationalen und
internationalen Menschenrechtsgruppen auf heftige Kritik. Uribe erwiderte diese mit der Unterstellung, die
NGOs würden mit den Guerillas zusammenarbeiten. Auf Uribes Liste vermeintlicher Terrorgehilfen hatte
nun jede regierungskritische Organisation ihren festen Platz darunter Amnesty International, Human
Rights Watch, Ärzte ohne Grenzen sowie Gewerkschaften, Frauenrechtsgruppen, alternative
Friedensinitativen und viele andere mehr.
Das ist der Hintergrund, vor dem Tausende
Studierende im ganzen Land pauschal unter Terrorverdacht gestellt werden. Dabei ist die Weste des
Präsidenten und seiner Regierung alles andere als rein. Während Uribes Gouverneurszeit in der
wichtigen Provinz Antioquia schossen paramilitärsiche Todestrupps in bis dahin unerreichtem Tempo aus
dem Boden. Es folgten die Verfolgung und Ermordung politischer Aktivisten und kritischer Stimmen und die
Säuberung ganzer Stadtviertel und Landesteile. Medellín, die Hauptstadt der Provinz, schaffte
unter Gouverneur Uribe Ende der 90er Jahre den Sprung auf Platz 1 der weltweiten Mordstatistiken.
Trotzdem kann der Präsident im Land noch auf eine überraschend große Unterstützung
der Bevölkerung zählen. Aktuelle Meinungsumfragen die die führenden Massenmedien in
Auftrag gegeben haben behaupten eine Zustimmung für Uribes Politik von über 70%. Uribes
autoritärer Kurs und seine Politik der harten Hand scheint für eine Mehrheit der kriegsmüden
kolumbianischen Bevölkerung derzeit noch eine gewisse Attraktivität auszustrahlen eine Art
von Hingabe unter eine starke Führungsfigur. Historisch ist das Phänomen nicht unbekannt.
Für politische Oppositionelle ist es
hingegen fatal. In der Amtszeit Uribes wurden sie wie nie zuvor Opfer von systematischer Gewalt:
Verfolgung, Verleugnung, Bedrohung und nicht zuletzt Mord. Praktiziert von den offiziellen
Sicherheitskräften und von den Paramilitärs.
Umso erstaunlicher ist die Dynamik, die die
aktuelle Protestbewegung im Mai erlangen konnte. Die Studierenden, Professoren, Lehrer und Arbeiterinnen
und Arbeiter schafften eine Mobilisierung, wie sie in diesem Ausmaß, dieser Reichweite und
Kontinuität unter Uribe bislang nicht zustande gekommen war. Der Aufstand im Namen des freien Zugangs
zu Bildung wurde zur Anklage gegen staatliche Repression, gegen die paramilitarisierte Regierung, die
soziale Ungleichheit, die fortgesetzte Aufrüstung, den aktuell diskutierten Freihandelsvertrag mit den
USA und schließlich unausweichlich gegen die Kriminalisierung des sozialen Protests als solchen.
Zwischenzeitlich befanden sich beinahe alle öffentlichen Universitäten des Landes im Streik.
Am 23. Mai folgte ein Nationalstreik, an
dem sich nach Schätzung der CUT, der größten Gewerkschaftsdachverbands Kolumbiens, bis zu
einer Million Menschen beteiligten. Rund 69 Schulen schlossen sich den streikenden öffentlichen
Universitäten an. Uribe sprach daraufhin von einer Vereinnahmung der Universitäten durch
terroristische Gruppen und ließ die widerspenstigen Schulen und besetzten Universitäten
Stück für Stück räumen. Die sozialen Zentren, die den Protest organisierten, mussten
zerschlagen werden.
Am 30. Mai kam es zu einem neuen, vorerst
letzten großen Aufgebot des kolumbianischen Widerstandsfrühlings. Bis zu 200000 Lehrer,
Schüler, Studierende und Professoren haben einen mehrtägigen Sternmarsch auf Bogotá
angetreten und schließlich auf der Plaza Simón Bolívar zusammengefunden. Am 2.Juni erfolgte
die von den Protestierenden lang befürchtete Räumung des Campus der Universidad Nacional in
Bogotá. Nach genau einem Monat mussten die Besetzer ihre Zelte mitten in der Nacht abbauen. Uribe
hatte über das Fernsehen der Polizei die Erlaubnis zum Einrücken in die Universität gegeben.
Und am 4. Juni wurde über eine Briefbombenattacke auf Gabriel Burgos, Vizeminister für Erziehung,
berichtet. Er sei beim Öffnen eines als Geschenk getarnten Päckchens fast erblindet.
In der Folge wurde das aktuelle
Studiensemester offiziell unterbrochen und alle Zweigstellen der "Universidad Nacional"
vorläufig geschlossen. Die Studierenden wurden in Zwangsferien geschickt, das Betreten der
Universitätsgelände bleibt ihnen bis auf weiteres untersagt. Die weitere Organisierung des
Protests scheint ohne räumliche Versammlungsmöglichkeit schwierig.
"Wer sind wird? Studenten! Was wollen
wir? Lösungen! Was bekommen wir? Repression, Repression und haufenweise
Knpüppelschläge!" Das haben sich die Studierenden bei ihren unzähligen Märschen
aus dem Leib geschrien. Ob der große Aufschrei unter den genannten Bedingungen weiter bestehen kann
oder ob dieser am Ende abermals erstickt, wird sich in den nächsten Wochen erweisen.
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