SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2007, Seite 18

Kolumbien: Studenten fordern Recht auf Bildung

Massenproteste gegen soziale Ausgrenzung

von Torben Somasundram

Ein Studentenprotest ohnegleichen hat Kolumbien in den letzten Wochen und Monaten erschüttert. Er ging aus von der Bildungs"reform" und richtete sich am Schluss gegen die Repressionspolitik der Regierung.

Das Sommersemester für die kolumbianischen Studierenden hatte turbulent begonnen. Schon in den ersten Märzwochen kam es zu vereinzelten Auseinandersetzungen zwischen Studierenden der Universidad Nacional de Colombia (UNAL) in Bogotá und einer Handvoll Wasserwerfern, verstärkt durch einige Dutzend Sicherheitskräfte. Der Campus, eigentlich eine grüne Oase in der sonst grauen Großstadt, glich einem Schlachtfeld.
Kurz darauf kam US-Präsident George W. Bush für ganze sieben Stunden in die kolumbianische Hauptstadt. Wie überall sonst auf der Welt wurde er von ein paar tausend Demonstrierenden empfangen, einige hundert entkamen der Einkesselung und dem exzessiven Einsatz von Tränengas seitens der Polizei und legten die Septima, eine der wichtigsten Geschäftstraßen der Stadt, über zwei bis drei Kilometer in Schutt, Asche und Scherben. Eine Horde aufgebrachter Jugendlicher demolierte Banken, Fastfoodketten, Möbel- und Autohäuser.
Dann kam der 1. Mai. Massen von Menschen zogen durch die Straßen. Es kam, wie es kommen musste: die Situation eskalierte. Im historischen Zentrum der Stadt, der Plaza de Simón Bolívar, kam es wieder zu Ausschreitungen zwischen Studierenden und schwer bewaffneten Polizeieinheiten. Die Veranstaltung wurde unter massivem Einsatz von Tränengas in wenigen Minuten aufgelöst und eine Kampagne der Stigmatisierung der Studierenden als "Terroristen" losgetreten.
In dieser Situation legten die Studierenden den Uni-Betrieb in Bogotá mit einem Streik lahm und riefen zur Teilnahme an der eingesetzten Asamblea General (Generalvollversammlung) auf. Der Streik sollte ursprünglich nur zwei Tage dauern. Die aktuelle politische Konjunktur des Landes bescherte dem studentischen Protest jedoch eine — bis dato unerwartete — Beteiligung.

Bildungsreform

Kurz zuvor hatte die kolumbianische Regierung nämlich unter dem Rechts-außen-Präsident Álvaro Uribe Vélez ein "Reform"programm aufgelegt, das sie in den darauffolgenden Tagen durch den Kongress bringen wollte. Das Programm sieht vor, die öffentliche Finanzierung des Bildungssektors einzuschränken und einen Teil der Kosten den Universitäten, Schulen und Spitäler selbst aufzubürden.
Das finanzielle Überleben der Universitäten wird mittels des Acuerdo de concurrencia ("Übereinkommen der Konkurrenz") einer strengen Marktlogik unterworfen. Reichen die staatlichen Subventionen nicht aus (und das tun sie längst nicht mehr), muss verstärkt auf andere Einkommensquellen wie Drittmittel geschielt werden: oder — und hierin wurzeln letztlich die aktuellen Proteste — die Studiengebühren werden deutlich erhöht.
Neben den problematischen sozialpolitischen Implikationen des verstärkten Ausschlusses breiter Bevölkerungsteile aus dem Bildungssektor bedroht die Reform einige akademische Institutionen des Landes ganz existenziell. Das zeigt das Beispiel der Universidad del Atlántico, die schon vor Jahren einem ähnlichen Reformprojekt zum Opfer fiel. Die Universität an der kolumbianischen Karibikküste erlitt Ende 2006 einen Finanzkollaps und ist seither bis auf weiteres geschlossen.
Im Kern ist es also der Konflikt zwischen frei zugänglicher Bildung und dem Verständnis von (Aus-)Bildung als Ware, der Kolumbiens Universitäten und Schulen seit über einem Monat in den Zustand der anormalidad académica versetzt. Diese Auseinandersetzung geht freilich über die meisten europäischen Studierendenproteste weit hinaus.

Uribes Macht

Die Proteste richten sich gegen die Stigmatisierung kritischer Stimmen; letztere wurde durch das Programm Demokratische Sicherheit auf die Spitze getrieben.
Mit diesem Programm war Álvaro Uribe 2002 an die Macht gekommen ist. Es handelt sich dabei um eine stark militarisierenden "Law-&- Order"-Politik, die Uribe — gestützt von massiven internationalen Geldspritzen — seither konsequent umgesetzt hat. Dabei konnte er sich darauf stützen, dass die Friedensverhandlungen mit den FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) unter seinem Vorgänger Andres Pastrana gescheitert waren; die kolumbianische Öffentlichkeit war dadurch für eine militärisch orientierte "Lösung" des bewaffneten Konflikts empfänglich geworden. Die weltpolitischen Umbrüche in Folge des 11. September gaben Uribes massiver Aufrüstungspolitik zusätzlichen Rückenwind.
Der Kampf gegen die Aufständischengruppen wurde nun zum berüchtigten "Krieg gegen den Terror" umgeschrieben. Die Parole "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" konnte 1:1 aus Washington übernommen werden. In Kolumbien wurde die Strategie vor allem nach innen gewandt — gegen die oppositionellen kolumbianischen Akteure. In den ersten Monaten seiner Amtszeit gab es bedeutende Repressionswellen (Massenverhaftungen, Militarisierung usw.). Diese stießen bei nationalen und internationalen Menschenrechtsgruppen auf heftige Kritik. Uribe erwiderte diese mit der Unterstellung, die NGOs würden mit den Guerillas zusammenarbeiten. Auf Uribes Liste vermeintlicher Terrorgehilfen hatte nun jede regierungskritische Organisation ihren festen Platz — darunter Amnesty International, Human Rights Watch, Ärzte ohne Grenzen sowie Gewerkschaften, Frauenrechtsgruppen, alternative Friedensinitativen und viele andere mehr.
Das ist der Hintergrund, vor dem Tausende Studierende im ganzen Land pauschal unter Terrorverdacht gestellt werden. Dabei ist die Weste des Präsidenten und seiner Regierung alles andere als rein. Während Uribes Gouverneurszeit in der wichtigen Provinz Antioquia schossen paramilitärsiche Todestrupps in bis dahin unerreichtem Tempo aus dem Boden. Es folgten die Verfolgung und Ermordung politischer Aktivisten und kritischer Stimmen und die Säuberung ganzer Stadtviertel und Landesteile. Medellín, die Hauptstadt der Provinz, schaffte unter Gouverneur Uribe Ende der 90er Jahre den Sprung auf Platz 1 der weltweiten Mordstatistiken.

Revolte gegen Repression

Trotzdem kann der Präsident im Land noch auf eine überraschend große Unterstützung der Bevölkerung zählen. Aktuelle Meinungsumfragen — die die führenden Massenmedien in Auftrag gegeben haben — behaupten eine Zustimmung für Uribes Politik von über 70%. Uribes autoritärer Kurs und seine Politik der harten Hand scheint für eine Mehrheit der kriegsmüden kolumbianischen Bevölkerung derzeit noch eine gewisse Attraktivität auszustrahlen — eine Art von Hingabe unter eine starke Führungsfigur. Historisch ist das Phänomen nicht unbekannt.
Für politische Oppositionelle ist es hingegen fatal. In der Amtszeit Uribes wurden sie wie nie zuvor Opfer von systematischer Gewalt: Verfolgung, Verleugnung, Bedrohung und nicht zuletzt Mord. Praktiziert von den offiziellen Sicherheitskräften und von den Paramilitärs.
Umso erstaunlicher ist die Dynamik, die die aktuelle Protestbewegung im Mai erlangen konnte. Die Studierenden, Professoren, Lehrer und Arbeiterinnen und Arbeiter schafften eine Mobilisierung, wie sie in diesem Ausmaß, dieser Reichweite und Kontinuität unter Uribe bislang nicht zustande gekommen war. Der Aufstand im Namen des freien Zugangs zu Bildung wurde zur Anklage gegen staatliche Repression, gegen die paramilitarisierte Regierung, die soziale Ungleichheit, die fortgesetzte Aufrüstung, den aktuell diskutierten Freihandelsvertrag mit den USA und schließlich unausweichlich gegen die Kriminalisierung des sozialen Protests als solchen. Zwischenzeitlich befanden sich beinahe alle öffentlichen Universitäten des Landes im Streik.
Am 23. Mai folgte ein Nationalstreik, an dem sich nach Schätzung der CUT, der größten Gewerkschaftsdachverbands Kolumbiens, bis zu einer Million Menschen beteiligten. Rund 69 Schulen schlossen sich den streikenden öffentlichen Universitäten an. Uribe sprach daraufhin von einer Vereinnahmung der Universitäten durch terroristische Gruppen und ließ die widerspenstigen Schulen und besetzten Universitäten Stück für Stück räumen. Die sozialen Zentren, die den Protest organisierten, mussten zerschlagen werden.
Am 30. Mai kam es zu einem neuen, vorerst letzten großen Aufgebot des kolumbianischen Widerstandsfrühlings. Bis zu 200000 Lehrer, Schüler, Studierende und Professoren haben einen mehrtägigen Sternmarsch auf Bogotá angetreten und schließlich auf der Plaza Simón Bolívar zusammengefunden. Am 2.Juni erfolgte die von den Protestierenden lang befürchtete Räumung des Campus der Universidad Nacional in Bogotá. Nach genau einem Monat mussten die Besetzer ihre Zelte mitten in der Nacht abbauen. Uribe hatte über das Fernsehen der Polizei die Erlaubnis zum Einrücken in die Universität gegeben. Und am 4. Juni wurde über eine Briefbombenattacke auf Gabriel Burgos, Vizeminister für Erziehung, berichtet. Er sei beim Öffnen eines als Geschenk getarnten Päckchens fast erblindet.
In der Folge wurde das aktuelle Studiensemester offiziell unterbrochen und alle Zweigstellen der "Universidad Nacional" vorläufig geschlossen. Die Studierenden wurden in Zwangsferien geschickt, das Betreten der Universitätsgelände bleibt ihnen bis auf weiteres untersagt. Die weitere Organisierung des Protests scheint ohne räumliche Versammlungsmöglichkeit schwierig.
"Wer sind wird? Studenten! Was wollen wir? Lösungen! Was bekommen wir? Repression, Repression und haufenweise Knpüppelschläge!" Das haben sich die Studierenden bei ihren unzähligen Märschen aus dem Leib geschrien. Ob der große Aufschrei unter den genannten Bedingungen weiter bestehen kann oder ob dieser am Ende abermals erstickt, wird sich in den nächsten Wochen erweisen.


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität




zum Anfang