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Groß war die Erleichterung, als Daimler-Chef Zetsche im Mai den
Verkauf von Chrysler an den Finanzinvestor Cerberus bekannt gab. Management, Anteilseigner, Betriebsrat und
Belegschaft waren froh, aus Jürgen Schrempps verlustbringendem Traum von der Welt-AG aufgewacht und in
der realen Welt schwäbischer und sozialpartnerschaftlich organisierter Qualitätsarbeit angekommen
zu sein.
Bei allen Turbulenzen, die der Konzern
durch den Kauf und Verkauf von Chrysler und einer erheblichen Zahl weiterer Automobil- und anderer Firmen
in den letzten zwei Jahrzehnten durchgemacht hat, war das Kerngeschäft von Mercedes-Benz stets das
produktive und zumeist auch absatzstarke und gewinnbringende Rückgrat. Gut, scheinen nun viele zu
denken, dass Zetsche sich ganz auf dieses Kerngeschäft konzentriert, statt überspannten
Technologiekonzern- oder Welt-AG-Ideen nachzulaufen wie seine Vorgänger Reuter und Schrempp. Diese
Ideen stellten den Versuch dar, auf die in den 80er Jahren erstmals massiv aufgebrochene Krise im
Automobilsektor zu reagieren.
Aus diesen gescheiterten
Versuchen werden die Daimler-Beschäftigten lernen müssen, sobald sich das aus den Zeiten des
Wirtschaftswunders stammende Gespenst der Sozialpartnerschaft endgültig in die Mottenkiste
geflüchtet hat.
Genau dies war in der 70er Jahren bereits
einmal geschehen. Massive Ölpreissteigerungen, Überkapazitäten und verstopfte
Innenstädte ließen Zweifel an der Zukunftsfähigkeit eines auf Auto und Eigenheim basierenden
Lebensstils aufkommen und veranlassten die Unternehmen, Einkommenssteigerungen, die viele
Beschäftigten als Gewohnheitsrecht erachteten, brüsk zurückzuweisen. Als guter
Sozialdemokrat versuchte der 1987 zum Vorstandsvorsitzenden aufgerückte Edzard Reuter den Klassenkampf
von oben abzumildern, indem er dem Konzern neue Geschäftspotenziale in den Bereichen Luftfahrt,
Schienenverkehr und Elektronik erschloss. Ein in mehreren Sektoren operierender und insgesamt wachsender
Konzern, so die Überlegung, würde mehr Spielraum für sozialpartnerschaftliche Kompromisse
lassen als der Versuch, sich als deutscher Autobauer gegenüber Toyota, Hyundai und anderen
ostasiatischen Aufsteigern zu behaupten.
Die Rechnung war ohne den Wirt gemacht:
auch in anderen Sektoren bestanden Überkapazitäten. Der Flugzeugbauer Fokker und die Elektrofirma
AEG konnten deshalb günstig erworben werden, aber Daimler wurde dadurch nicht zum prosperierenden
Technologiekonzern. Stattdessen halfen die Übernahmen den starken Unternehmen der genannten Branchen
Siemens und Bombardier , ihre jeweiligen Märkte zu bereinigen. Auf dem
kostenträchtigen Kapazitätsabbau und den damit verbundenen Entlassungen blieb Daimler sitzen. Die
Daimler-Aktionäre waren über die fälligen Schulden und Sozialplanverpflichtungen wenig
begeistert. Jürgen Schrempp konnte Reuter 1995 ablösen, weil er eine Neuausrichtung des Konzerns
am Shareholder Value versprach.
Damit wurde Daimler in die postmoderne Welt
des Finanzmarktkapitalismus eingeführt, blieb seinen ureigensten Wurzeln aber dennoch treu.
Gegenüber der Schöpfung fiktiven Kapitals und dessen inflationärer Aufblähung durch
abgeleitete Finanzmarktprodukte blieb der ehemalige Kfz-Mechaniker und Ingenieur Schrempp trotz verbaler
Bekenntnisse zum Shareholder Value skeptisch. Er blieb bei der Aussaugung lebendiger Arbeitskraft als
Voraussetzung aller Wertschöpfung und hierauf beruhender Dividendenzahlungen. Als Mann vom Fach
verstand er allerdings auch, dass bereits mehr Produktionsmittel im Automobilsektor aufgehäuft waren,
als zur Befriedigung des zahlungskräftigen Bedarfs nötig. Marktbereinigungen, zu denen sein
Vorgänger Reuter in anderen Sektoren entgegen seiner ursprünglichen Absichten gezwungen wurde,
wurden von vornherein ein Ziel der Schremppschen Strategie im Automobilsektor.
Durch Beteiligung an bzw. Übernahme
von Hyundai, Mitsubishi und Chrysler wollte er einen globalen und vor allem hinreichend großen Konzern
schaffen, der andere Konkurrenten zu geeigneter Zeit aus dem Markt hätte drängen können.
Obwohl er alles anders machen wollte als Reuter, sah sich Schrempp mit demselben Problem konfrontiert, an
dem der Vorgänger schließlich gescheitert war. Zur Übernahme von Branchengiganten wie
Toyota, GM oder Volkswagen reichten die Mittel nicht. Sofern man sich an starken Konzernen, wie im Falle
Hyundai, beteiligen konnte, blieb der Einfluss beschränkt; wo wie im Fall Chrysler ein Konkurrent
übernommen wurde, war es ein Verlustbringer.
Es hilft nichts: Aus Profiten der
Vorperiode finanzierte Investitionen führen ab einem gewissen Punkt stets zu
Überkapazitäten, ganz gleich ob die zusätzlichen Produktionsanlagen im Automobil-,
Luftfahrt-, Elektrotechnik- oder in einem anderen Sektor aufgebaut werden. Nicht ausgelastete
Kapazitäten aber bedeuten Verlust statt weiteren Profit. Um diese zu vermeiden, werden
Investitionsströme auf den Finanzmarkt umgelenkt. Aber nur um schließlich festzustellen, dass die
Entwicklung von industrieller Wertschöpfung und Mehrwertproduktion der Börseneuphorie Grenzen
setzt, über die sich die Fantasie von Finanzinvestoren nur vorübergehend hinwegsetzen kann.
Früher oder später, wenn die Aktienkurse purzeln, werden ganz phantasielos höhere Dividenden
verlangt, und es bleibt dem Management der Industriekonzerne überlassen, die hierfür notwendigen
Gelder durch Lohndruck und Abstoßen unprofitabler Geschäftsbereiche freizuschaufeln.
Es schlägt die Stunde der
Heuschrecken. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil handelt es sich dabei nicht um eine aus Amerika
stammende Spezies, die europäischer Produktivkraft den Lebenssaft aussaugen will. Schrempps
Proklamation des Shareholder Value, die moderne englische Übersetzung von Heuschrecke, war nichts
anderes als die Mobilisierung der Privateigentümer gegen die an das Kapitalverhältnis gefesselte
Belegschaft. Diese Eigentümer stammen aus aller Herren Länder, sind Kleinanleger oder Konzerne
bzw. institutionelle Anleger, eine Truppe vaterlandsloser Gesellen, die über Arbeiter in allen
Ländern herfallen und, sofern es sich um Großanleger handelt, über beste Beziehungen zu
Regierungen überall auf der Welt verfügen.
Dass sich dabei nicht amerikanische
Heuschrecke und europäische Produktivkraft gegenüberstehen, zeigt der Verkauf von Chrysler an
Cerberus deutlich genug. Chrysler-Arbeiter in den USA und Kanada bereiten sich auf schwere Konflikte mit
dem amerikanischen Finanzunternehmen vor, an dessen Spitze der ehemalige US-Finanzminister John Snow steht.
Trotzdem handelt es sich nicht um eine ausschließlich inneramerikanische Angelegenheit. Deutsche
Daimler-Aktionäre, die ihre Dividende in einem Aktienfonds anlegen, sollten sich nicht wundern, wenn
dieser von Cerberus verwaltet wird. In diesem Fall stehen europäische Profitansprüche
amerikanischer Produktivkraft gegenüber.
Leider haben Arbeiter generell mehr
Probleme mit dem Vaterland als die über Finanzmarkt und Industriekonzerne herrschenden
Privateigentümer. Letzteren ist es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, einen weltumspannenden
ungehinderten Kapitalfluss zu schaffen, nationale Regierungen zu Schutzmächten ihres Eigentums zu
machen und die Herausbildung einer internationalen Arbeiterklasse durch Staatsbürgerrecht,
Immigrationshindernisse und an den Nationalstaat gebundene Sozialsysteme zu verhindern. Dies sind die
Ausgangsbedingungen künftiger Kämpfe.
Was daraus gemacht wird, hängt
allerdings von den Organisationsbemühungen und Mobilisierungsstrategien der Arbeiter in verschiedenen
Ländern ab. Der Vorsitzende der amerikanischen Automobilarbeitergewerkschaft (UAW) Ron Gettelfinger
hat der Übernahme von Chrysler durch Cerberus zähneknirschend zugestimmt, während der
Daimler-Betriebsratsvorsitzende Erich Klemm sich erleichtert gezeigt hat. In Stuttgart wird es wohl noch
einige Zeit dauern, bis man sich an die Kostensenkungspläne erinnern wird, die 2004 zu einer scharfen,
von der Betriebsratsspitze nicht zu überbrückenden Konfrontation zwischen Belegschaft und
Unternehmensführung geführt hat.
In Detroit hat die UAW dem Deal mit
Chrysler in schlecht sozialpartnerschaftlicher Tradition zwar zugestimmt, aber kurz danach die
Zusammenarbeit mit Automobilarbeitergewerkschaften anderer Länder institutionalisiert. Wenn dabei mehr
als Gipfeltreffen von Gewerkschaftsführern herauskommen soll, müssen die Belegschaften in den
beteiligten Ländern aktiv werden, auch in Stuttgart.
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