SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2007, Seite 22

Falsche Freude über den Verkauf von Chrysler

Daimler, Chrysler und die Heuschrecken

von Ingo Schmidt

Groß war die Erleichterung, als Daimler-Chef Zetsche im Mai den Verkauf von Chrysler an den Finanzinvestor Cerberus bekannt gab. Management, Anteilseigner, Betriebsrat und Belegschaft waren froh, aus Jürgen Schrempps verlustbringendem Traum von der Welt-AG aufgewacht und in der realen Welt schwäbischer und sozialpartnerschaftlich organisierter Qualitätsarbeit angekommen zu sein.
Bei allen Turbulenzen, die der Konzern durch den Kauf und Verkauf von Chrysler und einer erheblichen Zahl weiterer Automobil- und anderer Firmen in den letzten zwei Jahrzehnten durchgemacht hat, war das Kerngeschäft von Mercedes-Benz stets das produktive und zumeist auch absatzstarke und gewinnbringende Rückgrat. Gut, scheinen nun viele zu denken, dass Zetsche sich ganz auf dieses Kerngeschäft konzentriert, statt überspannten Technologiekonzern- oder Welt-AG-Ideen nachzulaufen wie seine Vorgänger Reuter und Schrempp. Diese Ideen stellten den Versuch dar, auf die in den 80er Jahren erstmals massiv aufgebrochene Krise im Automobilsektor zu reagieren.
Aus diesen — gescheiterten — Versuchen werden die Daimler-Beschäftigten lernen müssen, sobald sich das aus den Zeiten des Wirtschaftswunders stammende Gespenst der Sozialpartnerschaft endgültig in die Mottenkiste geflüchtet hat.
Genau dies war in der 70er Jahren bereits einmal geschehen. Massive Ölpreissteigerungen, Überkapazitäten und verstopfte Innenstädte ließen Zweifel an der Zukunftsfähigkeit eines auf Auto und Eigenheim basierenden Lebensstils aufkommen und veranlassten die Unternehmen, Einkommenssteigerungen, die viele Beschäftigten als Gewohnheitsrecht erachteten, brüsk zurückzuweisen. Als guter Sozialdemokrat versuchte der 1987 zum Vorstandsvorsitzenden aufgerückte Edzard Reuter den Klassenkampf von oben abzumildern, indem er dem Konzern neue Geschäftspotenziale in den Bereichen Luftfahrt, Schienenverkehr und Elektronik erschloss. Ein in mehreren Sektoren operierender und insgesamt wachsender Konzern, so die Überlegung, würde mehr Spielraum für sozialpartnerschaftliche Kompromisse lassen als der Versuch, sich als deutscher Autobauer gegenüber Toyota, Hyundai und anderen ostasiatischen Aufsteigern zu behaupten.
Die Rechnung war ohne den Wirt gemacht: auch in anderen Sektoren bestanden Überkapazitäten. Der Flugzeugbauer Fokker und die Elektrofirma AEG konnten deshalb günstig erworben werden, aber Daimler wurde dadurch nicht zum prosperierenden Technologiekonzern. Stattdessen halfen die Übernahmen den starken Unternehmen der genannten Branchen — Siemens und Bombardier —, ihre jeweiligen Märkte zu bereinigen. Auf dem kostenträchtigen Kapazitätsabbau und den damit verbundenen Entlassungen blieb Daimler sitzen. Die Daimler-Aktionäre waren über die fälligen Schulden und Sozialplanverpflichtungen wenig begeistert. Jürgen Schrempp konnte Reuter 1995 ablösen, weil er eine Neuausrichtung des Konzerns am Shareholder Value versprach.
Damit wurde Daimler in die postmoderne Welt des Finanzmarktkapitalismus eingeführt, blieb seinen ureigensten Wurzeln aber dennoch treu. Gegenüber der Schöpfung fiktiven Kapitals und dessen inflationärer Aufblähung durch abgeleitete Finanzmarktprodukte blieb der ehemalige Kfz-Mechaniker und Ingenieur Schrempp trotz verbaler Bekenntnisse zum Shareholder Value skeptisch. Er blieb bei der Aussaugung lebendiger Arbeitskraft als Voraussetzung aller Wertschöpfung und hierauf beruhender Dividendenzahlungen. Als Mann vom Fach verstand er allerdings auch, dass bereits mehr Produktionsmittel im Automobilsektor aufgehäuft waren, als zur Befriedigung des zahlungskräftigen Bedarfs nötig. Marktbereinigungen, zu denen sein Vorgänger Reuter in anderen Sektoren entgegen seiner ursprünglichen Absichten gezwungen wurde, wurden von vornherein ein Ziel der Schrempp‘schen Strategie im Automobilsektor.
Durch Beteiligung an bzw. Übernahme von Hyundai, Mitsubishi und Chrysler wollte er einen globalen und vor allem hinreichend großen Konzern schaffen, der andere Konkurrenten zu geeigneter Zeit aus dem Markt hätte drängen können. Obwohl er alles anders machen wollte als Reuter, sah sich Schrempp mit demselben Problem konfrontiert, an dem der Vorgänger schließlich gescheitert war. Zur Übernahme von Branchengiganten wie Toyota, GM oder Volkswagen reichten die Mittel nicht. Sofern man sich an starken Konzernen, wie im Falle Hyundai, beteiligen konnte, blieb der Einfluss beschränkt; wo wie im Fall Chrysler ein Konkurrent übernommen wurde, war es ein Verlustbringer.
Es hilft nichts: Aus Profiten der Vorperiode finanzierte Investitionen führen ab einem gewissen Punkt stets zu Überkapazitäten, ganz gleich ob die zusätzlichen Produktionsanlagen im Automobil-, Luftfahrt-, Elektrotechnik- oder in einem anderen Sektor aufgebaut werden. Nicht ausgelastete Kapazitäten aber bedeuten Verlust statt weiteren Profit. Um diese zu vermeiden, werden Investitionsströme auf den Finanzmarkt umgelenkt. Aber nur um schließlich festzustellen, dass die Entwicklung von industrieller Wertschöpfung und Mehrwertproduktion der Börseneuphorie Grenzen setzt, über die sich die Fantasie von Finanzinvestoren nur vorübergehend hinwegsetzen kann. Früher oder später, wenn die Aktienkurse purzeln, werden ganz phantasielos höhere Dividenden verlangt, und es bleibt dem Management der Industriekonzerne überlassen, die hierfür notwendigen Gelder durch Lohndruck und Abstoßen unprofitabler Geschäftsbereiche freizuschaufeln.
Es schlägt die Stunde der Heuschrecken. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil handelt es sich dabei nicht um eine aus Amerika stammende Spezies, die europäischer Produktivkraft den Lebenssaft aussaugen will. Schrempps Proklamation des Shareholder Value, die moderne englische Übersetzung von Heuschrecke, war nichts anderes als die Mobilisierung der Privateigentümer gegen die an das Kapitalverhältnis gefesselte Belegschaft. Diese Eigentümer stammen aus aller Herren Länder, sind Kleinanleger oder Konzerne bzw. institutionelle Anleger, eine Truppe vaterlandsloser Gesellen, die über Arbeiter in allen Ländern herfallen und, sofern es sich um Großanleger handelt, über beste Beziehungen zu Regierungen überall auf der Welt verfügen.
Dass sich dabei nicht amerikanische Heuschrecke und europäische Produktivkraft gegenüberstehen, zeigt der Verkauf von Chrysler an Cerberus deutlich genug. Chrysler-Arbeiter in den USA und Kanada bereiten sich auf schwere Konflikte mit dem amerikanischen Finanzunternehmen vor, an dessen Spitze der ehemalige US-Finanzminister John Snow steht. Trotzdem handelt es sich nicht um eine ausschließlich inneramerikanische Angelegenheit. Deutsche Daimler-Aktionäre, die ihre Dividende in einem Aktienfonds anlegen, sollten sich nicht wundern, wenn dieser von Cerberus verwaltet wird. In diesem Fall stehen europäische Profitansprüche amerikanischer Produktivkraft gegenüber.
Leider haben Arbeiter generell mehr Probleme mit dem Vaterland als die über Finanzmarkt und Industriekonzerne herrschenden Privateigentümer. Letzteren ist es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, einen weltumspannenden ungehinderten Kapitalfluss zu schaffen, nationale Regierungen zu Schutzmächten ihres Eigentums zu machen und die Herausbildung einer internationalen Arbeiterklasse durch Staatsbürgerrecht, Immigrationshindernisse und an den Nationalstaat gebundene Sozialsysteme zu verhindern. Dies sind die Ausgangsbedingungen künftiger Kämpfe.
Was daraus gemacht wird, hängt allerdings von den Organisationsbemühungen und Mobilisierungsstrategien der Arbeiter in verschiedenen Ländern ab. Der Vorsitzende der amerikanischen Automobilarbeitergewerkschaft (UAW) Ron Gettelfinger hat der Übernahme von Chrysler durch Cerberus zähneknirschend zugestimmt, während der Daimler-Betriebsratsvorsitzende Erich Klemm sich erleichtert gezeigt hat. In Stuttgart wird es wohl noch einige Zeit dauern, bis man sich an die Kostensenkungspläne erinnern wird, die 2004 zu einer scharfen, von der Betriebsratsspitze nicht zu überbrückenden Konfrontation zwischen Belegschaft und Unternehmensführung geführt hat.
In Detroit hat die UAW dem Deal mit Chrysler in schlecht sozialpartnerschaftlicher Tradition zwar zugestimmt, aber kurz danach die Zusammenarbeit mit Automobilarbeitergewerkschaften anderer Länder institutionalisiert. Wenn dabei mehr als Gipfeltreffen von Gewerkschaftsführern herauskommen soll, müssen die Belegschaften in den beteiligten Ländern aktiv werden, auch in Stuttgart.


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