SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 02

An den Vorsitzenden der Europäischen Zentralbank

Herr Jean-Claude Trichet,

Ihr ehemaliger Kollege Alan Greenspan von der Fed ist dafür gescholten worden — nachdem er zuvor dafür gerühmt worden war —, dass er auf die Rezession im Gefolge von 9/11 mit einer langen Periode von Zinssenkungen reagiert hat, die im Juni 2003 mit 1% ihren Tiefpunkt erreichte. Man wirft ihm vor, die jetzigen Immobilienkrise hervorgerufen zu haben. Uns scheint, da sitzt jemand im Glashaus und wirft mit Steinen.
Ohne die Intervention der Fed hätte die US-Wirtschaft sich in der Tat nicht so rasch und so spektakulär von der Rezession 2001 erholt. Das Problem liegt jedoch nicht so sehr darin, dass Herr Greenspan damals mit unerhört zinsgünstigen Krediten eine Starthilfe gegeben hat — ebenso wenig wie Ihnen jetzt vorzuwerfen, dass Sie jetzt Hunderte von Milliarden in den Geldmarkt pumpen; nur Zyniker vom Schlage der Financial Times Deutschland schreiben: "Lass es krachen, die anderen zahlen" (15.8.07). Das Problem liegt darin, dass diese Starthilfe keine Binnenmarktkonjunktur angeworfen hat, die auf einer Ausweitung des Wohlstands der Bürger basierte, sondern eine, die auf einer Schuldenexplosion basierte — und zwar im Bereich des Konsums. "80% der amerikanischen Wirtschaft werden vom Konsum getrieben", schrieb der Economist Mitte 2005. 90% des Wachstums der letzten vier Jahre gingen auf eine hemmungslose private Verschuldung zurück.
Die Verschuldung der US-amerikanischen Haushalte in den USA ist zwischen 2001 und 2005 von 7500 Mrd. Dollar auf über 12000 Mrd. Dollar gestiegen. Das sind unvorstellbare Summen. Das Bruttosozialprodukt der USA liegt niedriger, es beträgt "nur" 13000 Mrd. Dollar. Umgerechnet auf 300 Millionen offiziell in den USA lebenden Personen macht das im Durchschnitt 40000 US-Dollar Schulden pro Kopf — vom Baby bis zum Greis.
Warum aber haben sich so viele US- Bürger verschuldet? Das Angebot von billigem Geld allein ist noch kein Grund. Es muss auf der anderen Seite auch die Not da sein es aufzunehmen. Warum konnte eine Ausweitung des Konsums — vorausgesetzt, das sei eine unter allen Umständen wünschenswerte Größe — nicht aus eigener Arbeit und dem Lohn, den man dafür erhält, erwirtschaftet werden?
Die Antwort darauf finden Sie in den Statistiken der Einkommensverteilung: Die Schere hat sich ungeheuer geöffnet. Die Lohnquote war seit Bestehen der Einkommensstatistik noch nie so gering wie heute. Der Anteil der Gewinne hingegen liegt so hoch wie seit 50 Jahren nicht mehr. Die ärmere Hälfte der US-Bürger besitzt heute nur 2,5% des Volksvermögens, das reichste Zehntel 70%.
Vor allem die Tatsache, dass es in den USA so gut wie keine funktionierende öffentliche Gesundheitsversorgung gibt, reißt große Löcher in die privaten Haushaltskassen. Im Jahr 2005 haben über 2 Millionen Privatleute Insolvenz angemeldet; der größte Teil davon hatte krankheitsbedingte Schulden in Höhe von mehreren tausend Dollar. Kein Wunder, dass Geld verleihen so ein lukratives Geschäft geworden ist, dass Tausende von sog. Finanzdienstleistern seither aus dem Boden gesprossen sind. Früher nannte man sie Wucherer. Und Wucherzinsen erheben sie manchmal auch — bis zu 500%; es gibt immer noch US- Bundesstaaten, die kein Gesetz haben, das Wucher verbietet.
Jetzt ist die Blase geplatzt und die Weltwirtschaft droht, in eine Rezession zu rutschen. Sie, Herr Trichet, gehören zu denen, die dennoch meinen, das US-Modell sei auch für uns in Europa nachahmenswert. Die EU-Kommission, deren Kurs Sie stützen, hat mit ihrer Liberalisierung der Finanzmärkte und der Dienstleistungen den europäischen Markt für in- und ausländische Heuschrecken geöffnet. Die kaufen auf Pump Unternehmen auf und zerlegen sie. Sie drängen aber auch auf den Immobilienmarkt und schlachten die Geldnöte der Kommunen aus, um billig an öffentliches Wohneigentum heranzukommen, das sie dann mit hohem Gewinn weiterverkaufen, womit sie die Immobilienpreise in die Höhe treiben. So treiben auch die EU-Regierungen Menschen in Verschuldung. In Deutschland ist mittlerweile zwar nicht jeder Fünfte überschuldet, aber jeder Zehnte schon.
Ihrem und Ihresgleichen Treiben kann man nicht tatenlos zusehen. Wir werden deshalb alle Hebel in Bewegung setzen, damit die Privatisierung öffentlichen Wohneigentums gestoppt wird. Im Jahr 2009 wollen Sie, wie auch Frau Merkel, einen EU- Vertrag verabschieden, in dem alles das, was in den USA falsch gelaufen ist — und was auch bei uns seit Jahren falsch läuft —, zementiert und zum Gesetz erhoben wird. Die Zurückweisung dieses Vertrags wäre ein erster Schritt umzulenken. Auf dem Sozialforum in Cottbus und im kommenden Jahr in Malmö werden wir uns darüber zu verständigen haben.

Angela Klein


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