SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 16

Gaza-Streifen

Die Situation ist verfahren

von Endy Hagen

Die im Juli gegründete Federation of Independent Unions ist neben dem Widerstand gegen die Mauer der einzige Hoffnungsschimmer in der ansonsten verfahrenen Situation im Gaza-Streifen.
"Abbas ist voller Zuversicht", schrieb die Welt am 7.August 2007. "Nach dem historischen israelisch-palästinensischen Gipfeltreffen in Jericho" habe sich "der palästinensische Präsident zuversichtlich über die weiteren Entwicklungen im Nahen Osten" geäußert. Grundsätzliche Fragen auf dem Weg zu einem eigenen palästinensischen Staat seien besprochen worden und beiden Seiten daran gelegen, Ergebnisse zu erzielen. Doch "Prinzipienerklärungen" wurden bereits 1993 in Oslo vereinbart und im September 2002 in der Roadmap des Nahostquartetts festgelegt. Also: Worum geht es hier eigentlich?
Die vom Westen gepriesenen freien Wahlen in den besetzten palästinensischen Gebieten im Januar 2006 sollten eine Legitimierung der angeschlagenen Fatah-Regierung bringen. Doch nach zwölf Jahren Korruption, Vetternwirtschaft und Unvermögen, politische Zugeständnisse von Israel zu erreichen, stimmte die Mehrheit der Palästinenser für Hamas.
Fatah mochte ihre Niederlage nicht hinnehmen. Bestärkt durch die Haltung Israels und der internationalen Geberländer, die unverzüglich einen Wirtschaftsboykott ausriefen, glaubte sie, sich auf einen militärischen Machtkampf mit der Hamas einlassen zu können. Die Errichtung der Regierung der Nationalen Einheit im Februar 2007 in Mekka bremste den sich anbahnenden Bürgerkrieg kurzfristig. Der Druck auf Hamas aber blieb bestehen, die Gelder der Geberländer flossen weiterhin nicht.
Hamas posierte derweil weiter als große Kämpferin und schoss mit Raketen aus Gaza auf israelische Kleinstädte. Diese Angriffe waren weder militärisch noch politisch erfolgreich, vor der israelischen Vergeltung konnte Hamas die Bevölkerung nicht schützen.
Von allen Seiten blockiert, war Hamas manvörier- und regierungsunfähig und hätte nur noch zurücktreten können. Stattdessen ließ sie sich auf den Machtkampf mit der Fatah ein.
Während sich die internationale Presse darüber aufregte, dass Hamas Waffen aus arabischen Ländern in die besetzten Gebiete hineinschmuggle, ließ sich Fatah mit Hilfe Israels aufrüsten. Vor diesem Hintergrund dürfte die militärische Machtübernahme in Gaza Hamas-Mitgliedern nicht zu Unrecht als präventiver Coup erschienen sein.

Keine Seite ist stark genug

Seitdem agieren Westbank und Gaza getrennt. Hamas, weitgehend isoliert, bemüht sich um internationale Akzeptanz — anscheinend ziemlich erfolglos. Zuhause macht sie ebenso erfolglos Gesprächsangebote an die Fatah. Von ihrem militärischen Sieg in Gaza scheint sie genauso überfahren zu sein, wie von dem politischen bei den Wahlen 2006. Erfolg hat sie wohl lediglich mit ihrem Versuch, im Gazastreifen Ruhe und Ordnung herzustellen, Kriminalität und Waffengebrauch zurückzudrängen. Für Raji Sourani vom Palestinian Center for Human Rights beweist dies, dass das Chaos der letzten anderthalb Jahre von der Fatah gesteuert wurde. Doch ebenso könnte es sich bei der Befriedung Gazas um einen Nebeneffekt rigider Überwachung und Verfolgung jeglicher politischer Opposition durch eine Regierungsmacht handeln, die mit dem Rücken zur Wand steht.
In die Westbank hingegen fließen wieder die Gelder, Zölle und Steuern, die Israel gemäß dem Osloer Abkommen für die Palästinenser einzieht, sowie die Zahlungen der internationalen Geberländer. Sogar 186 politische Gefangene aus der Fatah wurden freigelassen, die bereit waren, der Gewalt abzuschwören und gegen Abgabe der Waffen bot Israel gesuchten Aktivisten der Fatah eine Amnestie an.
Schließlich wurde der sog. Friedensprozess wieder in Gang gesetzt, Abbas gilt wieder als seriöser Gesprächspartner. Seiner militärischen Schwäche gegenüber seinen Landsleuten wird aktiv abgeholfen: 80 Millionen Dollar haben die USA der Regierung in Ramallah zur Unterstützung ihrer Sicherheitskräfte bewilligt und Israel gibt weiter grünes Licht, wenn es um die Einfuhr von Waffen für die Getreuen des Präsidenten geht. Bis zur Nahostkonferenz im Herbst in Washington will man sich auf eine "Prinzipienerklärung" einigen.
Doch diese gab es schon 1993 in Oslo und 2003 mit der Roadmap. Große inhaltliche Veränderungen sind nicht zu erwarten. Warum also kümmert man sich nicht einfach um deren Umsetzung?
Tatsächlich ist keine Seite derzeit stark genug dafür.
Die israelische Regierung steckt in der Zwickmühle: Gerade das Primat der Sicherheit der israelischen Bevölkerung hindert sie daran, diese zu erreichen. Sie kann es sich nicht leisten, ihre Bevölkerung weiter mit Raketen terrorisieren zu lassen, also muss sie Hamas ausschalten. Dies geht nur, wenn sie der palästinensischen Bevölkerung klarmachen kann, dass sie ohne Hamas besser dran wäre. Deshalb gibt es Gespräche und Zugeständnisse für die eine, Hunger und Isolation für die andere Seite.
Andererseits ist die Hamas auch in der Westbank präsent. Israel kann die Kontrolle über die Westbank also nur lockern, wenn es sicher ist, dass die Palästinensische Autonomiebehörde die Arbeit der Besatzungsmacht übernimmt. Die PA wäre hierzu offenbar auch bereit, braucht aber gegenüber der Bevölkerung eine Legitimation für ihre Kollaboration. Dafür müsste sich die Lage in den Gebieten grundlegend verbessern.
Hierzu würde unbedingt die Aufhebung der Straßensperren gehören. Schon vor über einem Monat hatte Olmert daher angeordnet, Straßensperren abzubauen. Da Armee und Geheimdienst diese für die Sicherheit Israels jedoch für unabdingbar halten, ignorierten sie die Anweisung. Mit den notwendigen Zugeständnissen wird es also wohl wieder nichts werden und die israelische Regierung über eine "Prinzipienerklärung" ohne praktische Konsequenzen — wie gehabt — nicht hinausgehen.
Die Palästinensische Autonomiebehörde hat weder Druckmittel noch Perspektiven und ist — um an der Macht zu bleiben — auf vollständige Kooperation mit der Besatzungsmacht angewiesen. Zur eigenen Bevölkerung hat die Fatah-Führung offenbar kein Vertrauen. Insofern ist eine weitere "Prinzipienerklärung" auch in ihrem Interesse.

Hamas im Gefängnis Gaza

Hamas sitzt heute isoliert im Gefängnis Gaza. Sie droht, ein Abkommen mit Israel sei ohne ihre Zustimmung nicht möglich. Doch das ist nicht mehr als ein Pfeifen im Dunkeln. Hamas wird ihren Machtanspruch kaum aufgeben, um die Bevölkerung von Gaza zu schützen. Dazu ist sie politisch weder stark noch flexibel genug.
Die palästinensische Bevölkerung kann derzeit nur zuschauen: Ihre gewählte Regierung kämpft in und mit der Stagnation, während sich die selbsternannte Regierung an Israel und den Westen verkauft.
Doch welche Alternative gibt es? Die Besatzung, die feudalen Herrschaftsstrukturen unter Arafat, die letzte Intifada und die damit einhergehende Repression seitens Israels haben die meisten Ansätze zivilgesellschaftlicher, basisdemokratischer Organisierung vernichtet, auch von den übrigen palästinensischen Parteien ist wenig zu hören.
Organisierung scheint derzeit an zwei Punkten stattzufinden: im gewaltfreien, Lager übergreifenden Widerstand gegen die Mauer und in der palästinensischen Gewerkschaftsbewegung. Der Widerstand gegen die Mauer, an dem auch Israelis teilnehmen, scheint derzeit keine über die konkreten Aktionen hinausgehenden Perspektiven zu entwickeln, die ihn zu einem eigenständigen Faktor innerhalb der palästinensischen Gesellschaft machen könnten, ist aber ein wichtiger Sammelpunkt unterschiedlicher und ideologisch durchaus nicht immer einiger Kräfte, der auch nach innen Sprengkraft entwickeln könnte.
Die unabhängige palästinensische Gewerkschaftsbewegung begreift sich durchaus als Akteur innerpalästinensischer Politik: "Hätten wir eine starke Zivilgesellschaft gehabt, hätten wir uns erhoben und die Gewalt zwischen Fatah und Hamas gestoppt", bedauert Abdel Hakim, Vorstandsmitglied der Ende Juli in Ramallah gegründeten Federation of Independent Unions — Palestine. "Doch weil die Gewerkschaften mit den politischen Parteien verbunden sind, standen sie auf deren jeweiliger Seite, statt für die Rechte der Arbeiter zu kämpfen. Ein Zusammenschluss politisch unabhängiger Gewerkschaften stärkt die Zivilgesellschaft und stoppt die politischen Morde." Ob die Koalition Zeit genug haben wird, zu einer starken gesellschaftlichen Kraft heranzuwachsen, bevor die innerpalästinensischen Auseinandersetzungen weiter eskalieren, bleibt abzuwarten.


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