SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 19

Indien / Pakistan

Saadat Hassan Manto: Schwarze Notizen. Mit einem Nachwort von Tariq Ali, Frankfurt: Suhrkamp, 2006, 157 Seiten, 12,80 Euro

Am 15.August feierte Indien den 60.Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Einen Tag zuvor, am 14.August 1947, hatte Mohammed Ali Jinnah das unabhängige Pakistan ausgerufen. Beide Tage gelten bis heute als Auftakt für die spätere Entkolonialisierungswelle in Afrika und Asien. Aber sie lösten auch die blutigsten Massaker aus, die der Subkontinent bis dahin gesehen hatte. Muslims flohen von Indien nach Pakistan, Hindus und Sikhs von Pakistan nach Indien. Mindestens eine Million Menschen wurden dabei massakriert, Frauen hunderttausendfach vergewaltigt, Häuser, Dörfer, ganze Stadtteile niedergebrannt.
Während die Unabhängigkeit in den Nachfolgestaaten mit einem Nationalfeiertag begangen wird, gebe es weder in Indien noch in Pakistan ein Denkmal für die Opfer, die — wie gewöhnlich — in erster Linie die Armen aus Stadt und Land waren, schreibt der britische Autor Tariq Ali. Nur einer hat ihnen in Form von Kurzgeschichten ein literarisches Denkmal gesetzt, der Schriftsteller und Journalist Saadat Hassan Manto. Er selbst, der bis 1948 in Bombay lebte und dort u.a. als erfolgreicher Drehbuchautor für die Filmindustrie arbeitete, musste schließlich nach Pakistan fliehen, weil ihm vorgeworfen wurde, er würde Muslime begünstigen.
In seinen Schwarzen Notizen stellt Manto das Grauen nicht nur dar, er versucht es auch zu verarbeiten, u.a. mit bissigem, verzweifeltem Humor, der immer auf die Täter zielt und die Würde der Opfer wahrt. Er hält Distanz, schlägt sich weder auf die Seite der Moslems, noch auf die der Hindus. In seinen manchmal sehr knapp gehaltenen Geschichten, die schlaglichtartig eine Situation erhellen, bedient er sich einer knappen und schnörkellosen Sprache.
"‘Tut mir leid!‘ Er stieß dem Mann das Messer in den Magen und zog es dann mit einem sauberen Schnitt bis unter den Nabel, wobei der Hosenbund zerschnitten wurde. Plötzlich schrie der Messerstecher erschrocken auf: ‘Oh je, das war der Falsche!‘"
In seinen längeren Kurzgeschichten reißt die Erzählkunst Mantos die Leser mit, er lässt sie mitleiden, fürchten, verschafft ihnen Erleichterung und konfrontiert sie am Ende wieder mit der ausweglosen Brutalität des religiösen Fanatismus, die seine Figuren immer wieder einholt — z.B. in der Geschichte "Gurmukh Singhs Vermächtnis", in der eine alte Familienfreundschaft schließlich den Flammen des Hasses geopfert wird.
In vielen Geschichten wirft Manto einen Blick auf die von der Gesellschaft Ausgegrenzten. In "Toba Tek Singh" sind es diejenigen, die als "geisteskrank" weggesperrt werden. Zwei, drei Jahre nach der Teilung haben die Regierungen Indiens und Pakistans beschlossen, auch die Insassen ihrer "Irrenanstalten" auszutauschen. Dazu gehört Toba Tek Singh, ein Sikh, der nun nach Indien soll. An der Grenze angekommen, klettert er auf einen Baum und ruft, er wolle weder nach Pakistan noch nach Indien. In einer Welt, in der die Irrationalität regiert, lässt Manto seinen "irren" Protagonisten den einzigen vernünftigen Gedanken aussprechen, den die brutale Realität noch zulässt. Manto selbst zerbricht schließlich an dieser Realität, ertränkt seinen Schmerz im Alkohol und stirbt im Alter von 43 Jahren im pakistanischen Lahore.

Vergangenheit, die nicht vergeht

Tariq Ali, der das Nachwort für die deutsche Ausgabe dieser Kurzgeschichten geschrieben hat, ist in Lahore geboren. Als Manto starb, war er elf Jahre alt. "Ich bin ihm nie begegnet", bedauert Ali und würdigt Mantos literarisches Schaffen, aber auch dessen Bedeutung für die Öffentlichkeit: "Man wusste wohl von dem Grauen des Jahres 1947, nur wenige aber mochten darüber reden. Ein kollektives Trauma ließ offenbar die meisten Menschen verstummen. Nicht Manto." Als Atheist ist auch Ali jeder religiöse Wahn zuwider. Für den Fanatismus in Indien und Pakistan macht er vor allem die Briten verantwortlich, deren führende Kolonialbeamte schon in der Ausbildung lernten, "wie man einheimische Herrscher entzweit und religiöse Vorurteile schürt". Aber er spricht auch nicht die hinduistischen und muslimischen Politiker frei von Schuld, die den Briten darin gefolgt sind — teils aus Eigennutz, teils aus Dummheit, wie Ali meint. "Heute fault diese Vergangenheit weiter und scheint auch die Zukunft zu vergiften", befürchtet er.
Die jüngsten Ereignisse geben ihm leider Recht. Muslime aus dem indischen Bundesstaat Gujarat, 2002 Schauplatz von Pogromen gegen Moslems, wollen nun wieder in ihre Dörfer zurückkehren. Aber Vertreter der ansässigen Hindus stellen ihnen Bedingungen: Sie könnten nur zurückkehren, wenn sie ihren Glauben aufgeben und den Hinduismus annehmen, oder aber ihre juristischen Klagen gegen ihre Verfolger zurückziehen.
Saadat Hassan Manto hat sein Geschichten in Urdu geschrieben, was auch ein Grund dafür ist, dass sie so spät ins Deutsche übersetzt wurden, denn die großen deutschen Verlage konzentrieren sich auf die englischsprachige Literatur aus Indien und Pakistan. Dabei ist das Werk von Manto schon Ende der 90er Jahre von Salman Rushdie als Weltliteratur bezeichnet worden.
Sprachwissenschaftler weisen darauf hin, dass die beiden indischen Sprachen Urdu und Hindi ihre Wurzeln im alten Hindustani haben und sich erst mit der Kolonialisierung im 19.Jahrhundert differenzierten. Bis heute ähneln sich beide Sprachen so sehr, dass Hindi- und Urdu-Sprechende sich gut verstehen können.

Gerhard Klas


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