SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2007, Seite 24

Vor 100 Jahren: Internationaler Sozialistenkongress in Stuttgart

Als Krieg noch mit Revolution beantwortet wurde

1907 stand Stuttgart im Brennpunkt der Aufmerksamkeit der internationalen Arbeiterbewegung: Zum ersten und einzigen Mal auf deutschem Boden, waren hier vom 18. bis 24.August 884 Vertreter aus 25 Ländern zum 7.Kongress der II.Internationale zusammengekommen — von Japan bis Argentinien, von Russland bis Südafrika. Allein aus Deutschland kamen 289 Delegierte, um brennende Fragen zu beraten und ein gemeinsames Vorgehen zu beschließen. Es ging um nichts Geringeres als um Maßnahmen gegen den drohenden imperialistischen Krieg (nach fast vierzig relativ friedlichen Jahren), um die Frage Massenstreik, Gewerkschaften und die Revolution, um die Einschätzung des Kolonialismus, der Ein- und Auswanderungsbewegungen, das Frauenstimmrecht und um Fragen der Arbeiterjugend.
Die Gegensätze zwischen den imperialistischen Staaten spitzten sich mit beängstigenden Geschwindigkeit zu. 1906 fand der sog. "Pantersprung" des deutschen Kaisers Wilhelm II. nach Agadir, Marokko, statt, der als demonstrativer Anspruch auf einen Teil der (bereits von England, Frankreich beanspruchten) afrikanischen und asiatischen Kolonien eine unmissverständliche Kriegsdrohung war. Es ging um die imperialistische Neuverteilung der Welt mit der Parole: "Auch wir wollen einen Platz an der Sonne!" Allseitiges Wettrüsten war die Folge. Kurz zuvor war noch eine gemeinsame Militäraktion gegen China (gegen den sog. Boxeraufstand) u.a. zur Durchsetzung des freien Opiumhandels durchgeführt worden.
Auf der anderen Seite gab es ein enormes Anwachsen der Arbeiterbewegung und der revolutionären Frage. 1905 wurde das zaristische Russland von der ersten Revolution erschüttert; vielfach wurden von marxistischen Programmen geleitete sozialdemokratische Parteien zur stärksten Partei in ihrem jeweiligen Land und eilten von Wahlsieg zu Wahlsieg. Die Frage, wie kommen wir zur Überwindung des kapitalistischen Systems, stellte sich immer drängender. Gleichzeitig waren Risse und Widersprüche innerhalb sozialdemokratischer Parteien schon deutlich spürbar und nahmen zu.

Opportunisten und Revolutionäre

Mit Opportunismus, Reformismus und der Revision von revolutionär-marxistischen Positionen, mit Losungen wie "friedliches Hineinwachsen in den Sozialismus" machten sich die immer gewichtiger werdende Gewerkschaftsbürokratie und Parteiverwaltungsapparate, aber auch Theoretiker wie Bernstein für bloß reformerisches Einwirken und Anpassen an herrschende Zustände stark.
Im scharfen Gegensatz dazu standen Vertreter des revolutionären Marxismus wie Rosa Luxemburg, W.I.Lenin, Clara Zetkin u.a., die um die Neueinschätzung des imperialistischen Charakters der Epoche und des neuen Stadiums des Kapitalismus rangen, sowie um neue Formen des revolutionären Klassenkampfs. Um die Kernfragen gab es auf dem Kongress eine in der Sache sehr scharfe, in der Form die Einheit wahrende Auseinandersetzung. Der rechte Flügel der Sozialdemokratie war schon stark spürbar; in der deutschen Partei als der größten und international führenden besaß er bereits die Oberhand. Dennoch schafften es die Linken, ihre Hauptpositionen in den Kongressresolutionen mehrheitlich durchzubringen, vor allem in der entscheidenden Frage von Krieg und Frieden; eine knappe Mehrheit erzielten sie in der Kolonialfrage. Kritische Beobachter waren allerdings schon damals skeptisch, inwieweit diese Beschlüsse in der Praxis bei einer weiteren Zuspitzung der Situation umgesetzt würden.
Auf dem 1912 in Basel folgenden Internationalen Sozialistenkongress fand die Stoßrichtung von Stuttgart zwar nochmals Bestätigung, als aber 1914 der imperialistische Weltkrieg vom Zaun gebrochen wurde, fielen die Parteien der II.Internationale zum großen Teil um, sie wurden zu "Vaterlandsverteidigern" bzw. zu Verfechtern der "Burgfriedenspolitik"; die Linken fanden sich meist in der Minderheit und wurden verfolgt. Jean Jaurès wurde 1914 in Frankreich ermordet, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Karl Liebknecht mit Zuchthausstrafen überzogen.
Während des Ersten Weltkriegs gab es von den Linken Versuche, die II.Internationale zu retten und Aktionen gegen den Krieg zu koordinieren. 1917 stürzte die Februarrevolution in Russland den Zarenthron, im Oktober setzten die Bolschewiki die Stoßrichtung der Resolution von Stuttgart um und führten die erste siegreiche proletarische Revolution durch. Unabhängig davon, wie man die spätere Sowjetunion einschätzen mag, blieb die Oktoberrevolution lange Zeit das einzige praktisch erfolgreiche Beispiel für die Konsequenz aus den Stuttgarter Beschlüssen. Wenn das rückständige Russland damals nicht allein geblieben wäre und auch in anderen Ländern eine sozialistische Entwicklung eingesetzt hätte, hätte die Weltgeschichte einen deutlich anderen und wahrscheinlich weniger katastrophalen Verlauf genommen.

1918 — Prüfstein für die Stuttgarter Beschlüsse

1918  erschütterte die Revolution auch Deutschland und Österreich - Ungarn. Die Kaiser mussten gehen, zunächst übernahmen Arbeiter- und Soldatenräte die Macht. Doch trotz der Versuche der Linken, die insgesamt zu wenig organisiert und uneinheitlich waren, die Revolution weiter zu treiben bis zur politischen Machteroberung durch die Arbeiterklasse, setzten sich die Rechten an der Spitze der Sozialdemokratie durch. Der SPD-Vorsitzende Ebert erklärte damals: "Ich hasse die Revolution wie die Sünde!" Sie ließen als "Rat der Volkskommissare" alle revolutionären Bemühungen mit Hilfe nationalistischer "Freikorpseinheiten" blutig niederschlagen; SPD-"Volkskommissar" Noske erklärte dazu: "Einer muss der Bluthund sein!" Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und andere wurden ermordet. Dies geschah ebenso, nach wenigen hoffnungsvollen revolutionären Tagen mit roten Fahnen auf dem ehemaligen königlichen Wohnsitz im Wilhelmspalais, in Stuttgart. Nur in Bayern und Bremen konnten sich noch einige Zeit Räteregierungen halten, bis sie im Auftrag der sozialdemokratischen Regierung durch die Reichswehr blutig abgesetzt wurden.
Wenn die Beschlüsse von Stuttgart (1907) in die Tat umgesetzt worden wären, hätte die finsterste Zeit in der deutschen Geschichte wahrscheinlich verhindert werden können.


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