SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2007, Seite 03

"Die afghanische Regierung ist die korrupteste der Welt"

Malalai Joya über das Treiben der Warlords und das Leiden der Frauen

Malalai Joya ist mit 28 Jahren die jüngste und freimütigste Abgeordnete des afghanischen Parlaments. Die folgende Rede, die wir in Auszügen zitieren, hielt sie am 10.April 2007 an der Universität Los Angeles im Rahmen einer Vortragsreise durch die USA. Sie hat vier Mordversuche überlebt. Der Dokumentarfilm über sie, Enemies of Happiness, gewann den Preis der Großen Jury beim Sundance Film Festival 2007. Nach ihrer Rückkehr nach Kabul organisierten die Warlords und Drogenbarone ein Kesseltreiben gegen sie. Es gipfelte darin, dass eine große Mehrheit des Parlaments sie am 21.Mai 2007 für drei Jahre aus dem Parlament ausschloss. Die Parlamentsmehrheit bat das höchste Gericht, ein Verfahren gegen sie einzuleiten. Das Innenministerium schränkte ihre Bewegungsfreiheit ein; sie darf das Land nicht mehr verlassen.
Während die Demokratiebefürworter und Antifundamentalisten in Afghanistan an den Rand gedrängt, unterdrückt und zum Schweigen gebracht werden, haben Sie mir, eine schwache Stimme meines leidenden Volkes, die Hand gereicht, um über die Krise in Afghanistan und die dort herrschenden fürchterlichen Lebensverhältnisse zu sprechen. Über fünf Jahre sind nun seit dem Angriff der USA auf Afghanistan vergangen. Viele von Ihnen kennen möglicherweise nicht die gegenwärtigen Zustände in meinem Land und erwarten von mir, dass ich all die positiven Entwicklungen der letzten Jahre seit dem Einmarsch der USA aufliste.
Leider muss ich Ihnen sagen, dass Afghanistan immer noch in den Ketten fundamentalistischer Kriegsherren liegt und wie ein bewusstloser Körper seinen letzten Atemzug tut. Die US-Regierung hat das ultrareaktionäre und brutale Regime der Taliban beseitigt. Statt sich aber auf das afghanische Volk zu stützen, hat sie uns vom Regen in die Traufe gestürzt und ihre Freunde unter den schmutzigsten und berüchtigtsten Kriminellen der "Nordallianz" gesucht, in der sich eingeschworene Feinde der Demokratie und der Menschenrechten versammelt haben, die nicht weniger übelgesinnt, böse und grausam sind als die Taliban.
Die westlichen Medien sprechen von Demokratie und der Befreiung Afghanistans. Doch die USA und ihre Verbündeten sind damit beschäftigt, unser verwundetes Land in ein Land der Kriegsherren, der Verbrecher und der Drogenbarone zu verwandeln. Jetzt sind die Führer der Nordallianz die entscheidenden Machthaber, und unser Volk ist eine Geisel in den Händen dieser rücksichtslosen Killerbande. Viele von ihnen sind verantwortlich für das Abschlachten von Zehntausenden unschuldiger Menschen in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Trotzdem nehmen sie wichtige Regierungsämter ein.

Die Machthaber

Lassen Sie mich einige der wichtigsten Machthaber Afghanistans aufzählen: Karim Khalili, stellvertretender Präsident, ist Chef einer proiranischen Partei namens Wahdat, verantwortlich für die Tötung von Tausenden unschuldigen Menschen, und wird von Human Rights Watch als Kriegsverbrecher bezeichnet. Ismael Khan, ein weiterer Killer-Warlord und Lakai des iranischen Regimes, ist Minister für Wasser und Energie.
Izzatullah Wasifi, Afghanistans Antikorruptionschef, ist ein verurteilter Drogenhändler, der rund vier Jahre in den USA im Staatsgefängnis von Nevada gesessen hat.
General Mohammed Daoud, Afghanistans stellvertretender Innenminister, zuständig für die Drogenbekämpfung, ist ehemaliger Kriegsherr und bekannter Drogenhändler.
Rashid Dostum, Stabschef der afghanischen Armee, ist ein kaltblütiger Mörder und Warlord und wird von Human Rights Watch als Kriegsverbrecher bezeichnet.
Qasim Fahim, ehemaliger Verteidigungsminister und heute Senator und Berater von Herrn Karsai, ist der mächtigste Kriegsherr der Nordallianz und wird beschuldigt, Kriegsverbrechen begangen zu haben.
Im Grunde sind alle wichtigen Institutionen in Afghanistan mit Kriegsherren und Drogenbaronen besetzt. Wie können wir über Demokratie reden, wenn unsere Legislative, Judikative und Exekutive von dem Virus des Fundamentalismus und der Drogenmafia befallen sind? Die Afghanen haben die jetzige Situation mehr als satt, und mit jedem Tag wenden sie sich mehr gegen die Regierung, die ausländischen Truppen und die Kriegsherren. Die Taliban nutzen das aus, um ihren Einfluss zu erhöhen und noch mehr Terrorakte zu begehen. Länder wie Pakistan, Iran, Russland usw. mischen ebenfalls in Afghanistan mit, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Wenn in solch einer Situation eine Killerbande an der Macht ist, kann es kein leichtes Leben für unser unglückliches Volk geben. 700 Kinder und 50 bis 70 Frauen sterben täglich aufgrund mangelnder Gesundheitsversorgung.

Die Lage der Frauen und Kinder

Die Kinder- und Müttersterblichkeit ist immer noch sehr hoch — 1600—1900 von 100000 Frauen sterben bei der Entbindung. Die Lebenserwartung liegt unter 45 Jahren. Die Zahl der Selbstmorde unter afghanischen Frauen war nie so hoch wie heute. Vor einem Monat hat sich die 18-jährige Samija mit einem Strick erhängt, weil sie an einen 60 Jahre alten Mann verkauft werden sollte. Eine andere Frau namens Bibi Gul hat sich in einem Stall eingeschlossen und verbrannt. Ihre Familie fand von ihr nur noch ihre Knochen. Die Studie der Regierungsbehörde Afghanistan Independent Human Rights Commission weist eine deutliche Zunahme von dokumentierten Fällen auf: Danach gab es in der Provinz Farah vor zwei Jahren 15 Fälle von Selbstverbrennungen von Frauen. Diese Zahl ist allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2006 auf 36 hochgeschossen. In der Provinz Kandahar wurden vor zwei Jahren 74 Fälle verzeichnet, dagegen 77 Fälle in den ersten sechs Monaten des vergangenen Jahres. Die wirklichen Zahlen sind noch viel höher.
Nach einer Studie von UNIFEM betrachten 65% der 50000 Witwen in Kabul den Suizid als einzige Möglichkeit, ihrem Elend zu entkommen. UNIFEM schätzt, dass mindestens eine von drei afghanischen Frauen geschlagen, zu Sex gezwungen oder auf andere Weise misshandelt wurde. Gruppenvergewaltigungen junger Mädchen und Frauen durch Warlords der Nordallianz finden nach wie vor gerade in den Nordprovinzen Afghanistans statt. Es gab immer wieder Massenprotesten dagegen, aber niemand schert sich um den Schmerz und die Tränen der Menschen.
Die Geschichte des Wiederaufbaus Afghanistans ist schmerzlich: Nach fünf Jahren können Sie kein einziges ernsthaftes Wiederaufbauprojekt sehen. Milliarden Dollar Hilfsgelder wurden von den Kriegsherren beiseite geschafft, von korrupten NGOs, der UNO und den Regierungsbeamten. Afghanistan steht auf dem UN-Human-Development-Index mit 177 Ländern immer noch auf Platz 175, und die Arbeitslosenrate liegt über 40%.
In Afghanistan existiert ein Mafiasystem. Der von den USA unterstützte Präsident Karsai und seine verwestlichten Intellektuellen machen gemeinsame Sache mit Fundamentalisten jeder Schattierung, um dieses Mafiasystem unserem Volk aufzuzwingen. Das ist der Hauptgrund für die heutigen Probleme, für den Stillstand in Afghanistan. Diejenigen, die Gerechtigkeit fordern, werden mit dem Tode bedroht. Die afghanische Regierung ist die korrupteste und unpopulärste der Welt. In einer Umfrage von Integrity Watch Afghanistan vom März 2007 zeigte sich, dass über 60% der Afghanen denken, die derzeitige Regierung ist korrupter als alle Vorgängerregierungen der letzten zwei Jahrzehnte.
Aufgrund dieser tragischen Lage ist die Rückkehr nach Afghanistan für die 4 Millionen afghanischen Flüchtlinge im Iran und in Pakistan nach wie vor nicht sehr attraktiv. Viele versuchen immer noch aus dem Land zu fliehen.
Liebe Freunde, im Jahr 2001 verkündete die US-Regierung, sie habe von den Fehlern der Vergangenheit gelernt und werde die afghanischen Fundamentalisten nicht mehr unterstützen. Die qualvolle Wahrheit ist jedoch, dass die USA denselben Fehler wiederholen. Sie unterstützen die Fundamentalisten großzügiger denn je.
Abgesehen von der Unterstützung für die Bande der Nordallianz gibt es verdeckte Bestrebungen, Vertreter der Taliban und Gulbuddin Hekmatyar in die Regierung zu holen. Gulbuddin Hekmatyar steht auf der US-Liste der meistgesuchten Terroristen, und doch durfte seine Partei 34 Mitglieder in das afghanische Parlament schicken, das durch eine undemokratische und zudem betrügerische Wahl zustande gekommen ist. Ich habe etliche Male erklärt, dass die US-Regierung kein Problem hat, mit proamerikanischen Terroristen zusammenzuarbeiten, sie hat nur etwas gegen antiamerikanische Terroristen. Das ist der Grund dafür, dass unser Volk sich über den "Krieg gegen den Terror" lustig macht.
Die USA sind in Afghanistan im Namen von Menschenrechten und Demokratie einmarschiert, heute jedoch sind wir von diesen Werten genauso weit entfernt wie vor fünf Jahren. Die Zahl der seit 2001 im "Krieg gegen den Terror" getöteten unschuldigen Zivilisten ist fünfmal so hoch wie die, die in der Tragödie vom 11.September umkamen.

Die Befreiung muss von innen kommen

Es ist klar und längst bewiesen, dass keine Nation einer anderen Nation die Befreiung schenken kann. Befreiung ist kein Geld, das gespendet werden kann; sie muss von den Menschen des Landes selbst erreicht werden. Was in Afghanistan und im Irak geschieht, bestätigt das. Menschen anderer Länder können uns lediglich eine helfende Hand reichen und uns unterstützen.
Ich bin mir der Härten, der Herausforderungen und der Gefahr, von antidemokratischen Kräften umgebracht zu werden, bewusst. Aber ich vertraue meinem Volk und genieße seine volle Unterstützung und Ermutigung. Die Fundamentalisten zählen die Tage, bis sie mich umbringen. Aber ich glaube an den edlen Spruch des friedensliebenden iranischen Schriftstellers Samad Behrangi: "Der Tod kann mich jetzt sehr leicht holen, doch solange ich leben kann, darf ich mich nicht von selbst in seine Arme stürzen. Sollte ich ihm jedoch eines Tages begegnen, was ganz bestimmt der Fall sein wird, dann ist es nicht wichtig. Wichtig allein ist, welchen Wert mein Leben oder mein Tod für das Leben hat."


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