SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2007, Seite 06

Der Staatsschutz auf "Terroristensuche"

Andrej H., der §129a und die verdächtigen Begriffe

Die Datensammelwut der "Sicherheitsbehörden" führt zu breitflächiger Kriminalisierung.
Am 30./31.Juli 2007 wurden in Brandenburg (Havel) drei Antimilitaristen festgenommen, Axel H., Florian und Oliver. Sie sollen beim Zünden von Brandsätzen unter Bundeswehrautos ertappt worden sein. Ein vierter, der Stadtsoziologe Andrej Holm, wurde im Zuge von Hausdurchsuchungen verhaftet, die am 31.Juli in sieben Privatwohnungen in Berlin und Leipzig, sowie einem linken Buchladen erfolgten. Den drei Erstgenannten wird vorgeworfen, Mitglieder einer "terroristischen Vereinigung", namentlich der "Militanten Gruppe" (MG), nach §129a zu sein. Der MG werden seit 2001 etwa 30 Anschläge zugeschrieben.
Andrej Holm werden "umfassende konspirative Kontakte und Treffen insbesondere mit dem Beschuldigten Florian L." vorgeworfen. Außerdem enthielten seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen Formulierungen, die auch von der MG verwendet worden seien. Nach Angaben der Frankfurter Rundschau ist der Staatsschutz bei einer Internetsuche nach Material gegen die MG im letzten Jahr auf einen Artikel in der linken Zeitung Telegraph aus dem Jahr 1998 über die Entwicklungen im Kosovo gestoßen. Geschrieben hatte ihn ein Politologe aus Leipzig, aber von diesem Artikel aus sei man dann auf die Spur von drei weiteren Wissenschaftlern und Publizisten gekommen, darunter auch auf Andrej Holm.
Nach Informationen der Frankfurter Rundschau habe der Staatsschutz nach bestimmten Begriffen gesucht, darunter "Gentrification", "Prekarisierung", "Reproduktion", "implodieren", "politische Praxis", "marxistisch-leninistisch", "drakonisch". Zudem soll er als Wissenschaftler die Möglichkeit genutzt haben, die für die Texte der MG erforderlichen Recherchen in der Bibliothek durchzuführen.
Der Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung wird darüber hinaus gegen drei Wissenschaftler aus Leipzig erhoben, darunter der genannte Politologe und Artikelautor aus Leipzig.
Diese Aktion war die dritte dieser Art innerhalb von drei Monaten in diesem Sommer. Seit Mai 2007 gab es aufgrund des §129a mehrere Hausdurchsuchungen in Hamburg, Berlin, Bremen, Strausberg und Bad Oldesloe.
Am 9.Mai wurden 18 Personen sind beschuldigt, eine "terroristische Vereinigung mit dem Ziel der Verhinderung des G8-Gipfels" gebildet zu haben; drei Personen wurden beschuldigt, Mitglieder der "mg" zu sein.
Am 13. und 19. Juni wurden drei Personen festgenommen, denen Brandanschläge auf Fahrzeuge der Bundeswehr und eines Unternehmens, welches Kriegswaffen herstellt, vorgeworfen werden. Die Anschläge sollen sich in Glinde (2002), Bad Oldesloe und Berlin (2004 und 2006) ereignet haben.
Die Untersuchungsakten allein für den 9.Mai umfassen etwa 80000 Seiten. Getrennt von den Durchsuchungen gab es Dutzende Verfügungen zur Telefonüberwachung, das Verwanzen von Autos und Versammlungen. Ein Zeuge, welcher angeblich eine verdächtige Person nach dem Brandanschlag auf das Auto von Thomas Straubhaar identifizierte, brachte allein 80 Fotos zum BKA.
"Ein Großteil der Daten besteht aus Analysen von ‘selbstbelastenden Schriften‘", erklärt ein Internetbeitrag der Gruppe Anarchist. "Dies bedeutet das Vergleichen von Texten auf Formulierung von Sätzen, Zeichensetzung, grammatikalische Fehler, wie Schwäche beim Genitiv, Groß- und Kleinschreibung. Weitere Faktoren sind die Position des Datums, dessen Schreibweise, der Gebrauch bestimmter Wörter.
Nach jeder Analyse wird ein Profil von dem potenziellen Autor erstellt: Herkunftsort, politische Orientierung, schulische Bildung und Position des Autors im jeweiligen politischen Spektrum. Einige der Texte werden nachher spezifischen Personen zugeschrieben."
Weiter heißt es: "Seit den Anfängen der Anti-G8-Bewegung sammeln die Behörden Informationen über diese. Für die letzten beiden Treffen des Dissent!-Netzwerks gab es Befugnisse, mit welchen es möglich war die Handyzelle um den Mehringhof in Berlin und um die Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik zu überwachen. Es wurden alle Handys, die sich im lokalen Netz eingeloggt hatten registriert, betroffen waren davon jeweils über 250 Personen. Die Anwesenheit von Informanten ist auch keine Überraschung. Alles in allem, nach der langen Zeit im Dunkeln und in Unwissenheit während der ‘militanten Kampagne gegen die G8‘ schlugen die Behörden besonders hart zu, um dies alles zu stoppen."
Am 22.8. wurde Andrej aus der Haft entlassen. "Der Haftbefehl wurde nicht aufgehoben", erklärte dazu Andrejs Rechtsanwältin Christina Clemm, "sondern der Ermittlungsrichter am BGH hat meinen Mandanten nach Zahlung einer Kaution und unter Auferlegung verschiedener Auflagen von der Untersuchungshaft verschont."
Die Bundesanwaltschaft hat dagegen Beschwerde eingelegt. Wie die Rechtsanwältin weiter mitteilte, hat der 3.Senat des Bundesgerichtshofs daraufhin angekündigt, sich anlässlich dieses Falles grundsätzlich mit den Voraussetzungen der Annahme eines dringenden Tatverdachts im Sinne des §129a StGB und mit der Frage der Voraussetzungen zur Eingruppierung einer Vereinigung als terroristische Vereinigung im Sinn des §129a StGB auseinanderzusetzen. Der Bundesgerichtshof will nicht vor dem 5.10.2007 entscheiden.
Nach §129a gilt eine Vereinigung als terroristisch, wenn sie schwere Straftaten begeht und zu begehen beabsichtigt. Es werden aber auch andere Straftaten wie Computersabotage, Zerstörung eines Bauwerks oder von wichtigen Arbeitsmitteln und eben Brandanschläge einbezogen, wenn sie beabsichtigen, "die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, eine Behörde oder eine internationale Organisation rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen, und durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat oder eine internationale Organisation erheblich schädigen kann".
Obwohl bei den der MG zugeschriebenen Brandanschlägen keine Personen verletzt wurden und dies wohl auch nicht beabsichtigt war, geht die Bundesanwaltschaft vom Tatbestand einer terroristischen Vereinigung aus. Andrej Holm sei dringend verdächtig, Mitglied der Gruppe zu sein, wie auch Generalbundesanwältin Monika Harms vor wenigen Tagen bestätigte. Sie betont, dass Brandanschläge, auch wenn sie nur gegen Sachen gerichtet seien, als terroristische Taten gewertet müssen, weil sie "Verunsicherung" auslösen: "Der Staat soll vorgeführt werden als einer, der solchem Treiben hilflos ausgeliefert ist. Das darf man nicht verharmlosen."
Fällt die Terrorismusverbindung weg, so würde gegen die MG nur wegen Brandstiftung und Sachbeschädigung ermittelt. Andrej Holm wäre dann auch aus dem Schneider.
Das BKA ist auch nach den Verhaftungen Anfang August nicht untätig geblieben. Wie der Ermittlungsausschuss (EA) Berlin mitteilte, haben BKA- Beamte mehrfach versucht, Menschen aus dem Umfeld der Beschuldigten zu Zeugenaussagen zu bewegen. Bisher habe niemand auf die Vorladungen reagiert. "Das muss auch niemand", betont der EA. "Auch das BKA ist nur eine Polizeibehörde, bei der niemand Aussagen machen muss."
Ohne Vorlage eines Durchsuchungsbeschlusses klingelte am Sonntagnachmittag das Bundeskriminalamt erneut bei Andrej Holm Gesucht wurde diesmal nach einem schwarzen Beutel, in denen sich Ermittlungsakten befanden, die Andrej Holm bei seiner Haftentlassung dabei hatte. Für den Nachmittag hatte der Beschuldigte ein Gespräch mit seinen Verteidigern geplant, was dem BKA durch seine Überwachung wohl bekannt war.
"Bei der Durchsuchung hat der anwesende Beamte die Unterlagen, mit denen sich der Beschuldigte auf das Gespräch vorbereitet hat, durchgesehen und nach handschriftlichen Notizen gesucht. Das ist selbstverständlich illegal und eine stärkere Einschränkung der Rechte auf faire Verteidigung ist kaum vorstellbar", kommentierte Christina Clemm das Vorgehen der Bundesanwaltschaft. "Offenbar steht die Bundesanwaltschaft sehr unter Druck und versucht mit allen Mitteln, Gründe für ihre Beschwerde gegen die Haftverschonung meines Mandanten zu finden."

Alle Informationen auf dieser Seite und weitere unter: www.einstellung.so36.net/de.


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