SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2007, Seite 18

An der Schwelle von Zeitgeschichte zur Geschichte

Berliner Tagung "Zwangsarbeit im Nationalsozialismus"

von Rolf Euler

Die Stiftungen "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" und "Topografie des Terrors" luden Ende August in das Berliner Umweltforum ein, um über ihre weitere Tätigkeit zu diskutieren.
Die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" war im Jahre 2000 mit rund 20 Milliarden Mark gegründet worden, um denen, die während der NS-Diktatur in Deutschland zu unmenschlichen Bedingungen zwangsweise arbeiten mussten, eine begrenzte finanzielle Hilfe zu leisten. Die andere Stiftung betreut die Gedenkstätten der Diktatur, etwa die Folterkeller der Gestapo an der Albertstraße und die Villa der "Wannseekonferenz" in Berlin.
Anlässlich der Tagung berichteten viele Wissenschaftler über die historische Forschung und weitere Projekte zur Zwangsarbeit, wobei es vor allem darum ging, herauszufinden, wie das Thema wach gehalten werden kann, wenn es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird, die aus erster Hand berichten können. Dazu kamen viele Aktivisten und Projektgruppen, Museums- oder Archivmitarbeiter, die an ihrem jeweiligen Ort zur Zwangsarbeit tätig sind — z.B. mit Schülern Kontakte zu ehemaligen Zwangsarbeitern knüpften. Fast 200 Teilnehmer präsentierten über 40 Projekte in Arbeitsgruppen und einer Ausstellung.
Gegen Ende der Tagung erhob sich der ehemalige KZ-Häftling Tadeuz Sobolewicz und wies die Anwesenden auf die Dringlichkeit hin, Aufklärung über Geschichte und Leiden der Zwangsarbeiter auf ihre Schultern zu nehmen, wenn er und andere Betroffene die Last der ständigen Erinnerung abgeben müssten. "Ich habe diese Last gern getragen, denn nur so konnte ich leben, indem ich anderen davon berichten konnte", sagte er. Und seine Maxime: "Versuche die Welt ein bisschen besser zu hinterlassen, als du sie vorgefunden hast!" Dieser Aufruf war umso notwendiger, als sich manchmal das Gefühl eingeschlichen hatte, mit dem Tod der Betroffenen könne man nur noch historisch-wissenschaftlich an die Zeit herangehen, wie es bei einigen Fachleuten anzuklingen schien.
Trotzdem stand während der Konferenz die Frage im Vordergrund, wie man der jüngeren Generation vermitteln kann, dass es nicht nur um ein vergangenes Verbrechen der Nazis geht. Insbesondere diejenigen Projekte, die mit Schülerinnen und Schülern realisiert wurden, zeigten eine gegenwärtige Betroffenheit, die auch davon lebte, dass Begegnungen mit Überlebenden möglich waren.
Es zeigte sich, dass die "oral history" (also die direkt erzählte Geschichte der Betroffenen) eine wichtige Rolle spielt. "Lebensgeschichten als Denkmal" war ein Projekt, das die Stiftung unterstützt. Fast 600 Interviews, davon ein Drittel als Video wurden mit Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern geführt und müssen nun ausgewertet, geschnitten und vorführgeeignet gemacht werden.

Zwangsarbeit wird weiter verdrängt

Lutz Niethammer, einer der Wissenschaftler, die "oral history" schon vor Jahren im Ruhrgebiet betrieben haben, war bei der Gründung der Stiftung wissenschaftlicher Berater des Bundeskanzlers und berichtete über einige grundlegende Fragen, die sich mit der späten Behandlung der Zwangsarbeit auftaten.
Die Zwangsarbeit, die Lager und ihre Insassen waren während des Zweiten Weltkriegs allgegenwärtig, jeder wusste davon (wohl im Gegensatz zu den Vernichtungslagern), aber es gab kein Unrechtsbewusstsein in der Bevölkerung. Nach dem Krieg gab es die Zeit des interessierten Verdrängens und Vergessens. Seit den 60er Jahren wurden die Verbrechen der Nazizeit schubweise aufgearbeitet, vor allem der Holocaust, während die Zwangsarbeit bis in die 80er Jahre eine "Verdrängungsgeschichte" erlebte.
Einzelne örtliche Initiativen, aber auch die Nachfragen bei den Konzernen nach der historischen Aufarbeitung brachten den Stein ins Rollen. Eine Wiedergutmachung wurde auf breiter Front politisch unausweichlich, und die ökonomischen Interessen der betroffenen Unternehmen zwangen ebenfalls zu einer finanziellen Regelung, zusätzlich drohten Entschädigungsprozesse in den USA.
Die Gründung der Stiftung erfolgte mit rund 10 Milliarden Mark von deutschen Unternehmen sowie weiteren 10 Milliarden der Bundesregierung. Aus juristischen Gründen waren ausdrücklich keine Entschädigungszahlungen vorgesehen, sondern nur humanitäre Leistungen pauschal für jede "antragsberechtigte" Person.
Viele Ungerechtigkeiten dieser Regelung kamen auf der Konferenz zur Sprache, bspw. dass Kriegsgefangene ausgeschlossen waren. Da es keinen Friedensvertrag gab, konnte es auch keine "Reparationsregelung" geben, damit waren der Stiftung enge Grenzen gesetzt.
Wahrscheinlich erinnern sich noch viele politisch bewusste Menschen an das Hin und Her, bis endlich die Unternehmen ihren Anteil an der Summe gespendet hatten, wobei erneut darauf hinzuweisen ist, dass die Unternehmen das Geld, das sie in die Stiftung einzahlten, von der Steuer absetzen konnten, sodass wohl der allergrößte Teil des Geldes von den Steuerzahlern aufgebracht wurde, die von der Zwangsarbeit natürlich nicht profitiert hatten.
Der Vorstand der Stiftung berichtete über die Auszahlung der Gelder an die ehemaligen Zwangsarbeiter, die im letzten Jahr abgeschlossen wurde. Vielen Tausenden wurde auf diesem Wege wenigstens eine finanzielle Genugtuung zu teil, viele waren von den Leistungen ausgeschlossen oder starben vorher. Viele konnten aber nun auch anders in ihren Heimatländern angesehen werden — wie bekannt, wurden z.B. russische Zwangsarbeiter nach ihrer Rückkehr oft als Kollaborateure verdächtigt und interniert. Hier brachte schon die Bemühung, einheimische Kontakte zu finden, einen regelrechten Dammbruch: allein in Russland wurden über 350000 Zuschriften registriert, und die Stiftung musste damit beginnen, das Lesen und Auswerten der Zuschriften zu finanzieren. (Einen ausführlichen Bericht darüber kann man bei der Stiftung anfordern.)
4% der Stiftungssumme waren von vornherein für Projekte über die Zwangsarbeit, für Begegnungen und Reisen von Betroffenen, für Initiativen und wissenschaftliche Unterstützung sowie für die Gedenkstättenarbeit vorgesehen. Die Tagung in Berlin war ein Element dieser in die Zukunft gerichtete Stiftungstätigkeit. Mehrere Projekte der Ausstellung, die im Rahmen der Tagung von Teilnehmern präsentiert wurden, waren von der Stiftung gefördert worden.
In diesem Zusammenhang gab es Berichte über bewegende Begegnungen mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen aus Osteuropa, Auszubildende, die in Auschwitz oder an anderen Gedenkstätten die Renovierung und Pflege übernahmen, Schulprojekte, die sich auch gegen neue Nazis richten, mühevolle Mittelbeschaffung bei lokalen Gedenksteinen und großen Lücken bei der Suche nach Tatsachen und lokalen Geschichten.

Kein Schlussstrich

Die zukünftige Tätigkeit der Stiftungen beleuchteten sowohl von Historikern als auch Pädagogen. So standen auf der Tagung die oft hohen Anforderungen an Schulen und Lehrer und die Erkenntnis, wie wenig heute an Schulen machbar ist, wurde thematisiert. Ein Teilnehmer formulierte, es brauche immer "die wenigen im positiven Sinne Verrückten", die solche Projekte durchziehen, die interessierte Schüler um sich sammeln oder eine Bürgerinitiative machen, unabhängig von offiziellen Lehrplänen. Auch einige wenige Kunstprojekte wurden vorgestellt, weil viele die Erfahrung gemacht haben, dass die Beschäftigung der Menschen mit der Geschichte der Zwangsarbeit nicht nur über den Kopf gehen sollte — Theater, Fotos, Musik, gestaltende Kunst können einen wichtigen Zugang bilden.
Einige stellten fest, dass ohne die lebendigen Zeitzeugen die Orte der Zwangsarbeit eine zunehmende Rolle bei der Erinnerungsarbeit spielen müssten, das heißt auch, dass diese "Orte der Erinnerung" erhalten und übergeben werden müssten — "einen Schlussstrich kann es nicht geben", formulierte ein Vorstandsmitglied der Stiftungen.
Dazu trug die Tagung mit der Möglichkeit bei, dass sich Wissenschaftler und Laien kennen lernen und ein breitere Diskussion über die lokalen Aktivitäten hinaus in Gang kommt.
Ein Begehung der Gedenkstätte und des Dokumentationszentrums in Berlin-Schöneweide war ein wichtiger Teil der Tagung. Hier stellte sich auch manchem Teilnehmer — im zufälligen Zusammentreffen mit dem gerade angelaufenen Film über Auschwitz — die Frage "Am Ende kommen die Touristen" [siehe S.22]? Das wird wohl so sein und wurde von der Gedenkstättenleitung nicht als negative Entwicklung gesehen — sie stellten fest, dass man sich die Besucher nicht auswählen könne, und die Darstellung in der Gedenkstätte auf ein womöglich ahnungsloses Publikum einstellen müsse, das auch emotional angesprochen werden sollte.

Wohin mit der Scham?

Einige Probleme bei der Behandlung des Themas auf der Tagung sollen nicht verschwiegen werden.
Die Rolle der Täter wurde nur wenig beleuchtet, obwohl die Stiftung "Topografie des Terrors" mit ihrer Gedenkstättenarbeit hier Leistungen vorzuweisen hat. Doch auf der Tagung kam das Thema "Ökonomie der Zwangsarbeit" nicht vor. Soweit die historischen Forschungen in einzelnen Unternehmen (wie VW) vorangetrieben werden, gibt es dazu Erkenntnisse, aber im Wesentlichen ging es bei der Tagung um die Opfer, die Betroffenen und ihre Geschichte. So wichtig das ist: die Mahnung Bertolt Brechts, "der Schoß ist fruchtbar noch", bleibt nach wie vor aktuell.
Es ist ausnahmsweise von einigen Initiativenvertretern deutlich gemacht worden, dass angesichts der jüngsten Ereignisse in Mügeln und anderswo die Beschäftigung mit Zwangsarbeit nicht in der Geschichte stehen bleiben kann. Ein Lehrer der Verdener Berufsschule, der seit über 25 Jahren Projekte mit Schülern initiiert erzählte von einem als Mahn- und Gedenkstätte vor der Schule aufgestellten Güterwagen, der zeigte, wie die Menschen unter schlimmsten Bedingungen nach Deutschland verfrachtet wurden. Vor einiger Zeit haben ihn die Nazis abgebrannt. Die Antwort der Initiative war deutlich: der ausgebrannte Wagen wurde zur erneuten Mahnung vor das Rathaus gestellt.
Zu Recht kritisierte eine Schülerin, dass auf der Tagung Wissenschaftler die Reden hielten, aber keine Jugendlichen hinzugezogen wurden, um mit ihnen gemeinsam zu beraten, wie die Erinnerung weiter wach zu halten sei. Auch dass ehemalige Zwangsarbeiter nur aus dem Publikum, nicht aber vom Podium gleich zu Beginn der Tagung ihr Vermächtnis loswerden konnten, war unbefriedigend. So konnte teilweise der Eindruck entstehen, dass nun hauptsächlich die Historiker das Wort haben, die Zwangsarbeit also zur "Geschichte wird", die fast nur noch in Büchern und Aufsätzen erörtert wird.
Wer den Blick in die Gegenwart richtet, etwa auf die Hinterhofwerkstätten und Gemüseplantagen an den Südküsten Europas, auf die Sweatshops in Südostasien, die Kinderarbeit, die Entsorgung von giftigen Abfällen und Schrott in den armen Ländern, der wird sich auch noch auf andere Art mit dem Thema Zwangsarbeit auseinander setzen müssen. Wenn es ein Erbe und eine von uns zu übernehmende "Last" der Überlebenden (und auch der Toten) gibt, dann doch die, alles zu tun, um weitere Opfer zu vermeiden. Das hat allerdings damit zu tun, wie unsere Lebensweise auf Zwangsarbeit anderswo beruht und wie dies zu beenden wäre.
Trotz aller Fragen hat die Tagung in Berlin dazu beigetragen, den Opfern ein bisschen mehr Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Es geht nun darum, dass möglichst viele Initiativen weiterhin die Stiftung herausfordern, Kenntnis und Scham über die Verbrechen der Nazis in zukünftige Aktivitäten umzumünzen.


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