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Die
türkische Militärintervention im Nordirak richtet sich nicht allein gegen die PKK.
Unter Berufung auf das
"Selbstverteidigungsrecht gegenüber Terroristen" hat das türkische Parlament am
17.Oktober 2007 die Regierung ermächtigt, militärisch im Nordirak einzugreifen. Ihr Ziel: Die
Zerschlagung der PKK-Stellungen. Dadurch erhält die türkische Regierung ein Jahr lang
völlige Handlungsfreiheit für Militärinterventionen im Nordirak. Nur die Abgeordneten der
prokurdischen DTP (Partei für eine demokratische Gesellschaft) und der einzige Vertreter der kleinen
Linkspartei ÖDP stimmten dagegen. Einige kurdische Abgeordnete der Regierungspartei AKP blieben der
Abstimmung fern, weil jeder, der gegen die Militärintervention stimmte, als Vaterlandsverräter
und PKK-Sympathisant bezeichnet wird. Die nationalistische und kurdenfeindliche Hetzkampagne in der
Türkei erreichte gleichzeitig einen neuen Höhepunkt: Anhänger der faschistischen MHP und der
kemalistischen republikanischen Volkspartei CHP forderten bei mehreren Massendemonstrationen ihrer
Anhänger, die kurdische Frage nun endgültig militärisch zu lösen.
Medienwirksam rief Ministerpräsident
Erdogan die PKK-Guerilla auf, die Waffen niederzulegen und ihre politischen Ziele auf parlamentarischem
Wege durchzusetzen. Für die kurdische Bevölkerung kommt dies, angesichts der tatsächlichen
Gegebenheiten in der Türkei, einer Verhöhnung gleich. Denn etwa zur gleichen Zeit hat die DTP der
Öffentlichkeit einen umfangreichen Bericht über staatliche Repressionsmaßnahmen gegen sie
vorgelegt. Allein seit den Parlamentswahlen vom 22.Juli wurden 71 Politiker und Mitglieder der DTP
verhaftet, etwa 260 strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen "Gefährdung der Einheit des
Landes" oder "Propaganda für die PKK" eingeleitet und sieben Parteimitglieder aus
politischen Gründen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Rechte Nationalisten und faschistische
Schlägertrupps verwüsteten 19 Parteibüros. Die Täter kamen nach kurzen symbolischen
Festnahmen wieder frei. Wie ihren Vorgängerorganisationen droht auch der DTP seit ihrer Gründung
ein Parteiverbot.
Im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses der
Türkei hat die EU immer wieder auf positive Signale der Regierung Erdogan im Hinblick auf die
Kurdenfrage verwiesen. Es habe ein Reformprozess in der Türkei eingesetzt, der auch im Osten der
Türkei ankommen werde. Davon ist jedoch kaum etwas zu spüren. Weder wurde die Existenz der Kurden
verfassungsrechtlich anerkannt, noch wurden ihre kulturellen, politischen und sozialen Rechte garantiert.
Die PKK ist in der kurdischen Bevölkerung immer noch breit verankert. Die Existenz der PKK-Guerilla
wird u.a. als Faustpfand und Druckmittel zur Durchsetzung der Rechte der kurdischen Bevölkerung
verstanden. Fast jede Familie hat ein Mitglied, das sich der Guerilla angeschlossen hat oder bei
Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften umgekommen ist. Daher besteht ein sehr enger
emotionaler Bezug zwischen großen Teilen der kurdischen Bevölkerung und der Guerilla und es gibt
keinerlei Rekrutierungsprobleme. Vor allem junge Leute und auffallend viele Frauen schließen sich der
Guerilla an, überzeugt davon, mit diesem Schritt nicht nur einen Beitrag zur Befreiung des kurdischen
Volkes, sondern zur Demokratisierung und politischen Neugestaltung der Region zu leisten.
Die politischen Ziele der PKK sind
längst nicht mehr nur auf die Türkei gerichtet. Sie ist nun überzeugt, dass die kurdische
Frage nur im Rahmen einer Föderation im Nahen Osten gelöst werden kann. Einem ethnisierenden
Nationalismus erteilt sie eine klare Absage. Die Frauenfrage begreift sie als zentralen Hebel zur Schaffung
einer neuen Gesellschaft.
Die Bevölkerung in den kurdischen
Gebieten will zwar ein Ende des Krieges, aber nicht um den Preis der Kapitulation der kurdischen
Befreiungsbewegung.
Die PKK hat erneut angekündigt, sie
werde sofort alle Kampfhandlungen einstellen, wenn auch die Türkei einen Waffenstillstand
beschließt. Man sei außerdem zu Verhandlungen über eine friedliche Lösung der
kurdischen Frage bereit. Die Antwort aus Ankara war eindeutig: Man werde nicht mit "Terroristen"
verhandeln!
Seit zwei Jahren spitzen sich die Auseinandersetzungen auf militärischer Ebene zu. Wie schon in den
90er Jahren versuchen Armee und Geheimdienste Konterguerillaaktionen, d.h. eigene Anschläge, bei denen
es nicht nur Verletzte, sondern auch Tote unter der Zivilbevölkerung gibt, der PKK in die Schuhe zu
schieben. Ziel ist, die Stimmung in der Bevölkerung gegen die PKK-Guerilla zu wenden; das misslingt
jedoch.
Am 29.6.2006 verschärfte die
Türkei die bereits bestehenden Antiterrorgesetze. Die von Menschenrechtsorganisationen stark
kritisierten Änderungen sehen u.a. eine Wiedereinführung des abgeschafften Artikels 8 des
Antiterrorgesetzes vor, der "separatistische Propaganda" unter Strafe stellt. Die
Terrordefinition wurde ausgeweitet, neue politische Straftatbestände eingeführt, die Rechte von
Verhafteten weiter eingeschränkt und die Befugnisse der Sicherheitskräfte erweitert. Viele
politische Aktivitäten, die überhaupt nicht im Zusammenhang mit bewaffneten Aktionen stehen,
können wieder als Beteiligung an Terrordelikten verurteilt werden.
Von den neuen Repressionsmöglichkeiten
wurde in der Folgezeit extensiver Gebrauch gemacht. Bereits die Inanspruchnahme demokratischer Rechte wie
Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit durch die kurdische Bevölkerung wird von
staatlicher Seite als Teil des "Kampfes gegen den Terrorismus" verfolgt.
In den letzten Monaten herrscht in den
Kurdengebieten im Südosten der Türkei praktisch der Ausnahmezustand. Razzien, Verhaftungen,
Misshandlung durch Sicherheitskräfte gehören zum Alltag der Bevölkerung. Die 100000 Soldaten
der türkischen Armee, die nun an der unmittelbaren Grenze zum Irak zusammengezogen werden, waren zuvor
in den türkisch-kurdischen Gebieten stationiert. Trotzdem gelingt es nicht, Angriffe der PKK-Guerilla
zu unterbinden. Die PKK macht gleichzeitig immer wieder deutlich, dass sie zu Verhandlungslösungen
bereit ist. Die türkische Regierung und die türkische Armee geraten durch die nicht mehr zu
verheimlichenden Verluste im Kampf gegen die Guerilla innenpolitisch zunehmend unter Druck.
Die türkische Regierung betrachtet die
gesamte Entwicklung in den kurdisch kontrollierten Gebieten im Nordirak als eine Bedrohung ihrer nationalen
Interessen. Sie hat mehrfach deutlich gemacht, dass sie unter keinen Umständen die Entstehung eines
eigenständigen kurdischen Staates im Nordirak hinnehmen werde. Neuerliche US-Denkspiele über eine
Dreiteilung des Irak und die anstehende Volksabstimmung über die Zukunft der Region Kirkuk, haben zu
einer massiven Belastung der Beziehungen zwischen der Türkei und den USA geführt, die als
Besatzungsmacht von der Türkei zur Durchsetzung türkischer Interessen im Irak aufgefordert
werden.
Die Türkei verlangt von den USA, auch
in den kurdischen Gebieten als Besatzungsmacht aufzutreten und, wenn nötig, selber militärisch
gegen die PKK im Nordirak vorzugehen, um eine weitere Unabhängigkeit der kurdischen Autonomiegebiete
zu verhindern. Die ölreiche Region Kirkuk wird von der irakisch-kurdischen Bevölkerung
mehrheitlich als kurdische Region betrachtet; sie soll deshalb der kurdischen Autonomieregion zugeordnet
und offiziell unter die Verwaltung der kurdischen Regionalregierung gestellt werden. Ein unabhängiges
Kurdistan im Nordirak würde mit den Ölfeldern von Kirkuk über eine wichtige wirtschaftliche
Basis verfügen. Genau dies will die Türkei aktuell mit allen Mitteln verhindern. Mit einer
Militärintervention im Irak könnte die Türkei somit "zwei Fliegen mit einer Klappe
schlagen".
Für die Bevölkerung im Nordirak steht außer Zweifel, dass sich die türkischen
Kriegsdrohungen nicht nur gegen die PKK richten, sondern auch gegen die kurdische Autonomieregion im
Nordirak.
Bereits in den letzten Jahren hat es immer
wieder grenzüberschreitende Operationen der türkischen Armee gegeben, bei denen PKK-Stellungen
und irakisch-kurdische Dörfer im Grenzgebiet angegriffen wurden. Die kurdische Regionalregierung in
Erbil hat die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei regelmäßig verurteilt, die die
"internationale Staatengemeinschaft" mit Schweigen und Akzeptanz übergangen hat. Für
bisherige türkische Militäraktionen auf irakisch-kurdischem Territorium gab es bisher keine
besondere Ermächtigungsgrundlage, sie standen im alleinigen taktischen Ermessen der Generäle. Der
nun erfolgte Parlamentsbeschluss für eine Militärintervention im Nordirak hat somit eine
völlig neue Qualität.
Realistischerweise ist nicht davon
auszugehen, dass die türkische Armee die PKK-Guerilla im Irak "auslöschen" kann, wie
sie großmundig angekündigt hat. Die irakischen Kurden befürchten daher, der Türkei gehe
es um ganz andere Ziele. Panzer und schweres Kriegsgerät werden von der türkischen Armee vor
allem am Grenzübergang Harbour zusammengezogen. Von dort aus führt eine gut ausgebaute
Straße nach Kirkuk. Auf halber Strecke liegt außerdem das UN-Flüchtlingscamp Maxmour, in dem
etwa 11000 Flüchtlinge aus den kurdischen Gebieten der Türkei leben, die von der türkischen
Regierung unter PKK-Generalverdacht stehen und deshalb von den Interventionsplänen ebenfalls
unmittelbar bedroht sind.
Die großen kurdischen Parteien im
Nordirak, PUK und KDP, haben sich bisher eindeutig gegen eine Militärintervention der Türkei
ausgesprochen und angekündigt, sich gegen eine solche Intervention zu verteidigen. Deshalb haben
kurdische Peshmerga in den Grenzregionen zur Türkei Stellung bezogen. Für KDP und PUK ist nicht
die PKK das Problem, sondern die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei.
Eine Lösung der Kurdenfrage würde auch das türkische Problem mit der PKK-Guerilla
klären.
Die PKK wird im Irak weder als
terroristische Organisation betrachtet, noch ist sie verboten. Sie hat im Nordirak nicht nur ihr
Hauptquartier, sondern auch Tausende Anhänger aus dem Irak und dem Iran sowie eine eigene zivile
Organisationsstruktur. Auf die ultimative Forderung der Türkei, sofort 150 führende Kader der PKK
an die Türkei auszuliefern bisher weigert sich die Türkei, die kurdische Regionalregierung
im Irak überhaupt als Gesprächspartner anzuerkennen , reagierte der Vorsitzende der PUK und
Präsident des Irak, Jalal Talabani, mit der Erklärung, man werde niemanden, nicht einmal eine
schwarze Katze an die Türkei ausliefern.
In mehreren Städten des Nordirak gab
es spontane Demonstrationen gegen die Einmarschpläne der Türkei. Die kurdische Bevölkerung
im Irak ist sich einig: Die Kurden dürfen sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Die eigenen
Rechte zu verteidigen wird langfristig nur gelingen, wenn dies auch die Kurden in anderen Teilen Kurdistans
einbezieht.
Die Türkei und ihr Bündnispartner
im Kampf gegen die kurdische Unabhängigkeit, der Iran, kennen den Schwachpunkt der kurdischen
Autonomieregion genau: Sie ist fast vollständig von Lebensmittellieferungen aus beiden Ländern
abhängig. Die Drohung der Türkei, den Nordirak bei verweigertem Wohlverhalten mit einem
Handelsboykott zu belegen, wäre für die Versorgungslage in den irakisch-kurdischen Gebieten
dramatisch.
Der EU-Erweiterungskommissar Rehn sicherte
der Türkei derweil die "Solidarität der EU-Kommission im Kampf gegen den Terrorismus"
zu. Unter den Panzern und schweren Waffen, die derzeit von türkischer Seite an die irakische Grenze
gebracht werden, befindet sich auch deutsches Kriegsgerät, das offiziell niemals in Kurdistan
eingesetzt wird. Mit dem Totschlagargument des Terrorismus wird die Kriminalisierung der in Europa lebenden
Kurden in Absprache mit der Türkei und den USA fortgeführt und ihnen verboten, sich politisch zu
artikulieren. Darauf gibt es nur eine Antwort: Öffentliche Proteste gegen den Kriegskurs der
Türkei und Druck auf die Bundesregierung. Nur wenn die PKK von der Terrorliste gestrichen und das PKK-
Verbot aufgehoben wird, gibt es einen Ansatz für eine Verhandlungslösung. Der Abzug aller
Besatzungstruppen aus allen Teilen Kurdistans für eine friedliche Lösung ist unabdingbar.
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