SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2007, Seite 03

Die Türkei im Krieg

Mit allen Mitteln gegen die kurdische Autonomie

von Brigitte Kiechle

Die türkische Militärintervention im Nordirak richtet sich nicht allein gegen die PKK.
Unter Berufung auf das "Selbstverteidigungsrecht gegenüber Terroristen" hat das türkische Parlament am 17.Oktober 2007 die Regierung ermächtigt, militärisch im Nordirak einzugreifen. Ihr Ziel: Die Zerschlagung der PKK-Stellungen. Dadurch erhält die türkische Regierung ein Jahr lang völlige Handlungsfreiheit für Militärinterventionen im Nordirak. Nur die Abgeordneten der prokurdischen DTP (Partei für eine demokratische Gesellschaft) und der einzige Vertreter der kleinen Linkspartei ÖDP stimmten dagegen. Einige kurdische Abgeordnete der Regierungspartei AKP blieben der Abstimmung fern, weil jeder, der gegen die Militärintervention stimmte, als Vaterlandsverräter und PKK-Sympathisant bezeichnet wird. Die nationalistische und kurdenfeindliche Hetzkampagne in der Türkei erreichte gleichzeitig einen neuen Höhepunkt: Anhänger der faschistischen MHP und der kemalistischen republikanischen Volkspartei CHP forderten bei mehreren Massendemonstrationen ihrer Anhänger, die kurdische Frage nun endgültig militärisch zu lösen.
Medienwirksam rief Ministerpräsident Erdogan die PKK-Guerilla auf, die Waffen niederzulegen und ihre politischen Ziele auf parlamentarischem Wege durchzusetzen. Für die kurdische Bevölkerung kommt dies, angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten in der Türkei, einer Verhöhnung gleich. Denn etwa zur gleichen Zeit hat die DTP der Öffentlichkeit einen umfangreichen Bericht über staatliche Repressionsmaßnahmen gegen sie vorgelegt. Allein seit den Parlamentswahlen vom 22.Juli wurden 71 Politiker und Mitglieder der DTP verhaftet, etwa 260 strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen "Gefährdung der Einheit des Landes" oder "Propaganda für die PKK" eingeleitet und sieben Parteimitglieder aus politischen Gründen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Rechte Nationalisten und faschistische Schlägertrupps verwüsteten 19 Parteibüros. Die Täter kamen nach kurzen symbolischen Festnahmen wieder frei. Wie ihren Vorgängerorganisationen droht auch der DTP seit ihrer Gründung ein Parteiverbot.
Im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses der Türkei hat die EU immer wieder auf positive Signale der Regierung Erdogan im Hinblick auf die Kurdenfrage verwiesen. Es habe ein Reformprozess in der Türkei eingesetzt, der auch im Osten der Türkei ankommen werde. Davon ist jedoch kaum etwas zu spüren. Weder wurde die Existenz der Kurden verfassungsrechtlich anerkannt, noch wurden ihre kulturellen, politischen und sozialen Rechte garantiert.

Die PKK und ihr Verhältnis zur Bevölkerung

Die PKK ist in der kurdischen Bevölkerung immer noch breit verankert. Die Existenz der PKK-Guerilla wird u.a. als Faustpfand und Druckmittel zur Durchsetzung der Rechte der kurdischen Bevölkerung verstanden. Fast jede Familie hat ein Mitglied, das sich der Guerilla angeschlossen hat oder bei Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften umgekommen ist. Daher besteht ein sehr enger emotionaler Bezug zwischen großen Teilen der kurdischen Bevölkerung und der Guerilla und es gibt keinerlei Rekrutierungsprobleme. Vor allem junge Leute und auffallend viele Frauen schließen sich der Guerilla an, überzeugt davon, mit diesem Schritt nicht nur einen Beitrag zur Befreiung des kurdischen Volkes, sondern zur Demokratisierung und politischen Neugestaltung der Region zu leisten.
Die politischen Ziele der PKK sind längst nicht mehr nur auf die Türkei gerichtet. Sie ist nun überzeugt, dass die kurdische Frage nur im Rahmen einer Föderation im Nahen Osten gelöst werden kann. Einem ethnisierenden Nationalismus erteilt sie eine klare Absage. Die Frauenfrage begreift sie als zentralen Hebel zur Schaffung einer neuen Gesellschaft.
Die Bevölkerung in den kurdischen Gebieten will zwar ein Ende des Krieges, aber nicht um den Preis der Kapitulation der kurdischen Befreiungsbewegung.
Die PKK hat erneut angekündigt, sie werde sofort alle Kampfhandlungen einstellen, wenn auch die Türkei einen Waffenstillstand beschließt. Man sei außerdem zu Verhandlungen über eine friedliche Lösung der kurdischen Frage bereit. Die Antwort aus Ankara war eindeutig: Man werde nicht mit "Terroristen" verhandeln!

"Kampf gegen Terror" auf türkisch

Seit zwei Jahren spitzen sich die Auseinandersetzungen auf militärischer Ebene zu. Wie schon in den 90er Jahren versuchen Armee und Geheimdienste Konterguerillaaktionen, d.h. eigene Anschläge, bei denen es nicht nur Verletzte, sondern auch Tote unter der Zivilbevölkerung gibt, der PKK in die Schuhe zu schieben. Ziel ist, die Stimmung in der Bevölkerung gegen die PKK-Guerilla zu wenden; das misslingt jedoch.
Am 29.6.2006 verschärfte die Türkei die bereits bestehenden Antiterrorgesetze. Die von Menschenrechtsorganisationen stark kritisierten Änderungen sehen u.a. eine Wiedereinführung des abgeschafften Artikels 8 des Antiterrorgesetzes vor, der "separatistische Propaganda" unter Strafe stellt. Die Terrordefinition wurde ausgeweitet, neue politische Straftatbestände eingeführt, die Rechte von Verhafteten weiter eingeschränkt und die Befugnisse der Sicherheitskräfte erweitert. Viele politische Aktivitäten, die überhaupt nicht im Zusammenhang mit bewaffneten Aktionen stehen, können wieder als Beteiligung an Terrordelikten verurteilt werden.
Von den neuen Repressionsmöglichkeiten wurde in der Folgezeit extensiver Gebrauch gemacht. Bereits die Inanspruchnahme demokratischer Rechte wie Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit durch die kurdische Bevölkerung wird von staatlicher Seite als Teil des "Kampfes gegen den Terrorismus" verfolgt.
In den letzten Monaten herrscht in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei praktisch der Ausnahmezustand. Razzien, Verhaftungen, Misshandlung durch Sicherheitskräfte gehören zum Alltag der Bevölkerung. Die 100000 Soldaten der türkischen Armee, die nun an der unmittelbaren Grenze zum Irak zusammengezogen werden, waren zuvor in den türkisch-kurdischen Gebieten stationiert. Trotzdem gelingt es nicht, Angriffe der PKK-Guerilla zu unterbinden. Die PKK macht gleichzeitig immer wieder deutlich, dass sie zu Verhandlungslösungen bereit ist. Die türkische Regierung und die türkische Armee geraten durch die nicht mehr zu verheimlichenden Verluste im Kampf gegen die Guerilla innenpolitisch zunehmend unter Druck.
Die türkische Regierung betrachtet die gesamte Entwicklung in den kurdisch kontrollierten Gebieten im Nordirak als eine Bedrohung ihrer nationalen Interessen. Sie hat mehrfach deutlich gemacht, dass sie unter keinen Umständen die Entstehung eines eigenständigen kurdischen Staates im Nordirak hinnehmen werde. Neuerliche US-Denkspiele über eine Dreiteilung des Irak und die anstehende Volksabstimmung über die Zukunft der Region Kirkuk, haben zu einer massiven Belastung der Beziehungen zwischen der Türkei und den USA geführt, die als Besatzungsmacht von der Türkei zur Durchsetzung türkischer Interessen im Irak aufgefordert werden.
Die Türkei verlangt von den USA, auch in den kurdischen Gebieten als Besatzungsmacht aufzutreten und, wenn nötig, selber militärisch gegen die PKK im Nordirak vorzugehen, um eine weitere Unabhängigkeit der kurdischen Autonomiegebiete zu verhindern. Die ölreiche Region Kirkuk wird von der irakisch-kurdischen Bevölkerung mehrheitlich als kurdische Region betrachtet; sie soll deshalb der kurdischen Autonomieregion zugeordnet und offiziell unter die Verwaltung der kurdischen Regionalregierung gestellt werden. Ein unabhängiges Kurdistan im Nordirak würde mit den Ölfeldern von Kirkuk über eine wichtige wirtschaftliche Basis verfügen. Genau dies will die Türkei aktuell mit allen Mitteln verhindern. Mit einer Militärintervention im Irak könnte die Türkei somit "zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen".

Kurdische Einheitsfront

Für die Bevölkerung im Nordirak steht außer Zweifel, dass sich die türkischen Kriegsdrohungen nicht nur gegen die PKK richten, sondern auch gegen die kurdische Autonomieregion im Nordirak.
Bereits in den letzten Jahren hat es immer wieder grenzüberschreitende Operationen der türkischen Armee gegeben, bei denen PKK-Stellungen und irakisch-kurdische Dörfer im Grenzgebiet angegriffen wurden. Die kurdische Regionalregierung in Erbil hat die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei regelmäßig verurteilt, die die "internationale Staatengemeinschaft" mit Schweigen und Akzeptanz übergangen hat. Für bisherige türkische Militäraktionen auf irakisch-kurdischem Territorium gab es bisher keine besondere Ermächtigungsgrundlage, sie standen im alleinigen taktischen Ermessen der Generäle. Der nun erfolgte Parlamentsbeschluss für eine Militärintervention im Nordirak hat somit eine völlig neue Qualität.
Realistischerweise ist nicht davon auszugehen, dass die türkische Armee die PKK-Guerilla im Irak "auslöschen" kann, wie sie großmundig angekündigt hat. Die irakischen Kurden befürchten daher, der Türkei gehe es um ganz andere Ziele. Panzer und schweres Kriegsgerät werden von der türkischen Armee vor allem am Grenzübergang Harbour zusammengezogen. Von dort aus führt eine gut ausgebaute Straße nach Kirkuk. Auf halber Strecke liegt außerdem das UN-Flüchtlingscamp Maxmour, in dem etwa 11000 Flüchtlinge aus den kurdischen Gebieten der Türkei leben, die von der türkischen Regierung unter PKK-Generalverdacht stehen und deshalb von den Interventionsplänen ebenfalls unmittelbar bedroht sind.
Die großen kurdischen Parteien im Nordirak, PUK und KDP, haben sich bisher eindeutig gegen eine Militärintervention der Türkei ausgesprochen und angekündigt, sich gegen eine solche Intervention zu verteidigen. Deshalb haben kurdische Peshmerga in den Grenzregionen zur Türkei Stellung bezogen. Für KDP und PUK ist nicht die PKK das Problem, sondern die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. Eine Lösung der Kurdenfrage würde auch das türkische Problem mit der PKK-Guerilla klären.
Die PKK wird im Irak weder als terroristische Organisation betrachtet, noch ist sie verboten. Sie hat im Nordirak nicht nur ihr Hauptquartier, sondern auch Tausende Anhänger aus dem Irak und dem Iran sowie eine eigene zivile Organisationsstruktur. Auf die ultimative Forderung der Türkei, sofort 150 führende Kader der PKK an die Türkei auszuliefern — bisher weigert sich die Türkei, die kurdische Regionalregierung im Irak überhaupt als Gesprächspartner anzuerkennen —, reagierte der Vorsitzende der PUK und Präsident des Irak, Jalal Talabani, mit der Erklärung, man werde niemanden, nicht einmal eine schwarze Katze an die Türkei ausliefern.
In mehreren Städten des Nordirak gab es spontane Demonstrationen gegen die Einmarschpläne der Türkei. Die kurdische Bevölkerung im Irak ist sich einig: Die Kurden dürfen sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Die eigenen Rechte zu verteidigen wird langfristig nur gelingen, wenn dies auch die Kurden in anderen Teilen Kurdistans einbezieht.
Die Türkei und ihr Bündnispartner im Kampf gegen die kurdische Unabhängigkeit, der Iran, kennen den Schwachpunkt der kurdischen Autonomieregion genau: Sie ist fast vollständig von Lebensmittellieferungen aus beiden Ländern abhängig. Die Drohung der Türkei, den Nordirak bei verweigertem Wohlverhalten mit einem Handelsboykott zu belegen, wäre für die Versorgungslage in den irakisch-kurdischen Gebieten dramatisch.
Der EU-Erweiterungskommissar Rehn sicherte der Türkei derweil die "Solidarität der EU-Kommission im Kampf gegen den Terrorismus" zu. Unter den Panzern und schweren Waffen, die derzeit von türkischer Seite an die irakische Grenze gebracht werden, befindet sich auch deutsches Kriegsgerät, das offiziell niemals in Kurdistan eingesetzt wird. Mit dem Totschlagargument des Terrorismus wird die Kriminalisierung der in Europa lebenden Kurden in Absprache mit der Türkei und den USA fortgeführt und ihnen verboten, sich politisch zu artikulieren. Darauf gibt es nur eine Antwort: Öffentliche Proteste gegen den Kriegskurs der Türkei und Druck auf die Bundesregierung. Nur wenn die PKK von der Terrorliste gestrichen und das PKK- Verbot aufgehoben wird, gibt es einen Ansatz für eine Verhandlungslösung. Der Abzug aller Besatzungstruppen aus allen Teilen Kurdistans für eine friedliche Lösung ist unabdingbar.


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