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Die Oktoberrevolution 1917 in Russland war
keineswegs der Putsch einer kleinen Minderheit, sondern ein Aufstand, der sich auf die Mehrheit der in
Räten organisierten Arbeiterklasse der großen Städte und auf die Mehrheit der überwiegend bäuerlichen
Bevölkerung stützte. 30000 Rotgardisten aus den Industriebetrieben eroberten mit Hilfe der Kronstädter
Matrosen die Macht in Petrograd fast ohne Blutvergießen. Das vom Petrograder Sowjet gewählte Revolutionäre
Militärkomitee leitete die Aktion. Die Mehrheit der Soldaten in den Garnisonen und die von ihnen gewählten
Räte gehorchten den Weisungen dieses Komitees. Die Aufständischen übergaben die Macht unmittelbar nach der
Verhaftung der Provisorischen Regierung (deren Chef Kerenski geflohen war) an den Gesamtrussischen
Sowjetkongress, der in Petrograd zu tagen begonnen hatte. Die Bolschewiki verfügten auf diesem Kongress
über die Mehrheit, die Linken Sozialrevolutionäre bewegten sich auf sie zu.
Damals ging es nicht um die Alternative
"bürgerlich-parlamentarische Demokratie" oder "bolschewistische Diktatur". Es ging um
die Alternative "brutale Militärdiktatur und Fortsetzung des Krieges" oder "alle Macht den
Sowjets (Räten)". Die "gemäßigten" sozialistischen Kräfte (Sozialrevolutionäre und
Menschewiki) unterstützten die bürgerliche Provisorische Regierung, die um jeden Preis den Krieg fortsetzen
wollte und sich weigerte, soziale Reformen durchzuführen (Brot, Achtstundentag, Arbeiterkontrolle), den
Bauern Land und den Nationalitäten Selbstbestimmung zu geben und die Verfassunggebende Versammlung
einzuberufen. Nachdem die Bolschewiki, obwohl sie seit den Juliereignissen unterdrückt worden waren,
entscheidende Hilfe bei der Niederschlagung des Kornilow-Putschs leisteten, errangen sie innerhalb weniger
Wochen die politische Hegemonie.
Im August 1917, wenige Monate vor der
Revolution, schrieb Lenin Staat und Revolution. Er beschäftigte sich darin – in Antizipation der kommenden
Revolution – mit der Frage nach dem Verhältnis des revolutionären Proletariats zum Staat. Der Text war
nicht speziell auf Russland zugeschnitten. Er rekonstruierte die Position von Marx und Engels zur Frage des
Staates und stützte sich dabei hauptsächlich auf deren Verarbeitung der Erfahrungen der Pariser Kommune von
1871 (Der Bürgerkrieg in Frankreich). Gegen Kautsky gerichtet, der meinte, im Sozialismus bräuchte man eine
staatliche Bürokratie ebenso wie man im Kapitalismus hauptamtliche Apparate der Arbeiterbewegung braucht,
vertrat Lenin ein radikal-demokratisches Konzept: An die Stelle des alten Staatsapparats sollte ein Staat
vom Typ der Pariser Kommune treten (die "Diktatur des Proletariats"), der von Anfang an den Keim
des Absterbens von Staatlichkeit überhaupt in sich trage. Eben in dieser Tradition sah sich auch die junge
Sowjetrepublik.
Doch Russland war ein rückständiges Land.
Neben 3 Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern in nach damaligen Maßstäben modernen Industriebetrieben
lebten etwa 150 Millionen Menschen auf dem Land. Schon bald nach dem Sturz der Regierung Kerenski und der
Eroberung der Staatsmacht durch die Sowjets musste die Sowjetregierung – wegen des äußeren Drucks, aber
auch wegen der Rückständigkeit der Produktivkräfte im Inneren des Landes – erheblich andere Maßnahmen
ergreifen als jene, die in Staat und Revolution beschrieben waren. Der Bürgerkrieg forderte Requisitionen
von Lebensmitteln auf dem Land ("Kriegskommunismus") und die Unterdrückung derjenigen Kräfte
(auch, wenn sie sich sozialistisch nannten), die die Gegenseite unterstützten. Doch 1920 war der
Bürgerkrieg vorbei, und die Bolschewiki beschlossen auf ihrem X.Parteitag neben der dringend notwendigen
begrenzten Liberalisierung des Handels (Neue Ökonomische Politik) das Verbot der übrigen Sowjetparteien und
das Verbot der Fraktionen in der eigenen Partei. Diese Maßnahmen gehören sicherlich zur Vorgeschichte der
bürokratischen Degeneration der Sowjetrepublik unter Stalin.
Das marxistisch-sozialistische Projekt war
der Aufbau des Sozialismus, gestützt auf die vom Kapitalismus geschaffenen Weltproduktivkräfte. Marx war
davon ausgegangen, dass die "rückständigen" Teile der Welt dem Beispiel des Proletariats der am
meisten entwickelten Länder folgen würden. Die Bolschewiki ihrerseits fassten die russische Revolution als
Auftakt zur sozialistischen Weltrevolution auf, d.h. vor allem zur Revolution in den entwickelten
Industrieländern.
Die Gegner des Aufstands um Sinowjew und
Kamenew argumentierten auf zwei Ebenen: Erstens sei es nicht sicher, ob wirklich die Mehrheit der
Bevölkerung hinter den Bolschewiki stehe, zweitens sei es möglich, dass die Revolution in Deutschland und
in den anderen westeuropäischen Ländern zu spät komme. Sie blieben im ZK der Bolschewiki in der Minderheit.
Bekanntlich kam eine mächtige revolutionäre Welle über Europa, die nur gebrochen werden konnte, weil die
"Kaisersozialisten" den bürgerlichen Staat verteidigten und die aufständischen Arbeiter und
Soldaten u.a. mit Hilfe rechtsextremer Freikorps niederschlugen. Dadurch blieb die russische Revolution
isoliert und wurde zudem von einem mörderischen Bürgerkrieg mit ausländischen Interventionstruppen
überzogen. Das ist der Rahmen, in dem sich die Bürokratie entwickelte, die letzten Endes unter Stalin die
Rätedemokratie vollends erwürgte.
Die Sowjetunion ist im Dezember 1991
endgültig untergegangen, doch das Erbe der Oktoberrevolution bleibt ein wichtiger Bestandteil des Kampfes
für eine sozialistische Demokratie des 21. Jahrhunderts. Vor allem die Selbstorganisation von unten, in der
die Ausgebeuteten und Unterdrückten eine Einheit in Vielfalt herstellen, mit der sie ihre Kämpfe
demokratisch organisieren und zum bestehenden bürgerlichen Staat alternative Herrschaftsorgane schaffen,
bleibt eine entscheidende Erfahrung und eine auch in der Gegenwart latente Möglichkeit.
Erst bei einem hohen Grad selbstbestimmter
kollektiver Aktivität können breite Massen revolutionäres Bewusstsein entwickeln. Das universal
emanzipatorische Projekt der globalen sozialistischen Revolution des 21.Jahrhunderts wird sich neben
früheren und späteren Erfahrungen nicht zuletzt auch auf die Erfahrungen der Oktoberrevolution und der
jungen Sowjetrepublik beziehen.
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