SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2007, Seite 17

Das Erbe des Oktober

von Manuel Kellner

Die Oktoberrevolution 1917 in Russland war keineswegs der Putsch einer kleinen Minderheit, sondern ein Aufstand, der sich auf die Mehrheit der in Räten organisierten Arbeiterklasse der großen Städte und auf die Mehrheit der überwiegend bäuerlichen Bevölkerung stützte. 30000 Rotgardisten aus den Industriebetrieben eroberten mit Hilfe der Kronstädter Matrosen die Macht in Petrograd fast ohne Blutvergießen. Das vom Petrograder Sowjet gewählte Revolutionäre Militärkomitee leitete die Aktion. Die Mehrheit der Soldaten in den Garnisonen und die von ihnen gewählten Räte gehorchten den Weisungen dieses Komitees. Die Aufständischen übergaben die Macht unmittelbar nach der Verhaftung der Provisorischen Regierung (deren Chef Kerenski geflohen war) an den Gesamtrussischen Sowjetkongress, der in Petrograd zu tagen begonnen hatte. Die Bolschewiki verfügten auf diesem Kongress über die Mehrheit, die Linken Sozialrevolutionäre bewegten sich auf sie zu.
Damals ging es nicht um die Alternative "bürgerlich-parlamentarische Demokratie" oder "bolschewistische Diktatur". Es ging um die Alternative "brutale Militärdiktatur und Fortsetzung des Krieges" oder "alle Macht den Sowjets (Räten)". Die "gemäßigten" sozialistischen Kräfte (Sozialrevolutionäre und Menschewiki) unterstützten die bürgerliche Provisorische Regierung, die um jeden Preis den Krieg fortsetzen wollte und sich weigerte, soziale Reformen durchzuführen (Brot, Achtstundentag, Arbeiterkontrolle), den Bauern Land und den Nationalitäten Selbstbestimmung zu geben und die Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Nachdem die Bolschewiki, obwohl sie seit den Juliereignissen unterdrückt worden waren, entscheidende Hilfe bei der Niederschlagung des Kornilow-Putschs leisteten, errangen sie innerhalb weniger Wochen die politische Hegemonie.
Im August 1917, wenige Monate vor der Revolution, schrieb Lenin Staat und Revolution. Er beschäftigte sich darin – in Antizipation der kommenden Revolution – mit der Frage nach dem Verhältnis des revolutionären Proletariats zum Staat. Der Text war nicht speziell auf Russland zugeschnitten. Er rekonstruierte die Position von Marx und Engels zur Frage des Staates und stützte sich dabei hauptsächlich auf deren Verarbeitung der Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 (Der Bürgerkrieg in Frankreich). Gegen Kautsky gerichtet, der meinte, im Sozialismus bräuchte man eine staatliche Bürokratie ebenso wie man im Kapitalismus hauptamtliche Apparate der Arbeiterbewegung braucht, vertrat Lenin ein radikal-demokratisches Konzept: An die Stelle des alten Staatsapparats sollte ein Staat vom Typ der Pariser Kommune treten (die "Diktatur des Proletariats"), der von Anfang an den Keim des Absterbens von Staatlichkeit überhaupt in sich trage. Eben in dieser Tradition sah sich auch die junge Sowjetrepublik.
Doch Russland war ein rückständiges Land. Neben 3 Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern in nach damaligen Maßstäben modernen Industriebetrieben lebten etwa 150 Millionen Menschen auf dem Land. Schon bald nach dem Sturz der Regierung Kerenski und der Eroberung der Staatsmacht durch die Sowjets musste die Sowjetregierung – wegen des äußeren Drucks, aber auch wegen der Rückständigkeit der Produktivkräfte im Inneren des Landes – erheblich andere Maßnahmen ergreifen als jene, die in Staat und Revolution beschrieben waren. Der Bürgerkrieg forderte Requisitionen von Lebensmitteln auf dem Land ("Kriegskommunismus") und die Unterdrückung derjenigen Kräfte (auch, wenn sie sich sozialistisch nannten), die die Gegenseite unterstützten. Doch 1920 war der Bürgerkrieg vorbei, und die Bolschewiki beschlossen auf ihrem X.Parteitag neben der dringend notwendigen begrenzten Liberalisierung des Handels (Neue Ökonomische Politik) das Verbot der übrigen Sowjetparteien und das Verbot der Fraktionen in der eigenen Partei. Diese Maßnahmen gehören sicherlich zur Vorgeschichte der bürokratischen Degeneration der Sowjetrepublik unter Stalin.
Das marxistisch-sozialistische Projekt war der Aufbau des Sozialismus, gestützt auf die vom Kapitalismus geschaffenen Weltproduktivkräfte. Marx war davon ausgegangen, dass die "rückständigen" Teile der Welt dem Beispiel des Proletariats der am meisten entwickelten Länder folgen würden. Die Bolschewiki ihrerseits fassten die russische Revolution als Auftakt zur sozialistischen Weltrevolution auf, d.h. vor allem zur Revolution in den entwickelten Industrieländern.
Die Gegner des Aufstands um Sinowjew und Kamenew argumentierten auf zwei Ebenen: Erstens sei es nicht sicher, ob wirklich die Mehrheit der Bevölkerung hinter den Bolschewiki stehe, zweitens sei es möglich, dass die Revolution in Deutschland und in den anderen westeuropäischen Ländern zu spät komme. Sie blieben im ZK der Bolschewiki in der Minderheit. Bekanntlich kam eine mächtige revolutionäre Welle über Europa, die nur gebrochen werden konnte, weil die "Kaisersozialisten" den bürgerlichen Staat verteidigten und die aufständischen Arbeiter und Soldaten u.a. mit Hilfe rechtsextremer Freikorps niederschlugen. Dadurch blieb die russische Revolution isoliert und wurde zudem von einem mörderischen Bürgerkrieg mit ausländischen Interventionstruppen überzogen. Das ist der Rahmen, in dem sich die Bürokratie entwickelte, die letzten Endes unter Stalin die Rätedemokratie vollends erwürgte.
Die Sowjetunion ist im Dezember 1991 endgültig untergegangen, doch das Erbe der Oktoberrevolution bleibt ein wichtiger Bestandteil des Kampfes für eine sozialistische Demokratie des 21. Jahrhunderts. Vor allem die Selbstorganisation von unten, in der die Ausgebeuteten und Unterdrückten eine Einheit in Vielfalt herstellen, mit der sie ihre Kämpfe demokratisch organisieren und zum bestehenden bürgerlichen Staat alternative Herrschaftsorgane schaffen, bleibt eine entscheidende Erfahrung und eine auch in der Gegenwart latente Möglichkeit.
Erst bei einem hohen Grad selbstbestimmter kollektiver Aktivität können breite Massen revolutionäres Bewusstsein entwickeln. Das universal emanzipatorische Projekt der globalen sozialistischen Revolution des 21.Jahrhunderts wird sich neben früheren und späteren Erfahrungen nicht zuletzt auch auf die Erfahrungen der Oktoberrevolution und der jungen Sowjetrepublik beziehen.


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