SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2007, Seite 18

Zehn Fragen an den Oktober –

zehn Antworten des Oktober

von Robert Steigerwald

Die Geschichte der Oktoberrevolution wurde nicht nur von ihren ausgemachten Feinden – dem Bürgertum und der Sozialdemokratie – verfälscht, sondern auch von der kommunistischen Bewegung, und zwar in dem Maße, wie Heldenverehrung an die Stelle des kritischen Umgangs mit Tatsachen trat. Der Untergang der Sowjetunion hat hier Korrekturen ermöglicht, dafür ist der nachstehende Beitrag ein herausragendes Beispiel. Es handelt sich um die gekürzte Version eines längeren Beitrags, der für einige aktuelle Veranstaltungen zu dem Thema geschrieben wurde.

War Russland reif für den Oktober?

Seit eh und je wird gefragt, ob das Land des Roten Oktober wirklich reif gewesen sei für die Revolution. Dahinter steckt ein mechanisch-materialistisches Verständnis, wonach Revolution nur eine Art Reflex auf ökonomische Entwicklungen sei. Wäre dies marxistisch, so hätten Marx und Engels das Manifest der Kommunistischen Partei nicht mit den Worten schließen dürfen, die Kommunisten richteten ihr Hauptaugenmerk auf Deutschland, das gesellschaftlich (keinesfalls ökonomisch, da wäre England in Frage gekommen, nicht Deutschland!) viel weiter fortgeschritten sei als England im 17. und Frankreich im 18.Jahrhundert.
Die Zeit war reif für die Revolution. Dass sie in Russland zuerst ausbrach, ergab sich aus dem Krieg und den inneren russischen Zuständen, aber Deutschland folgte doch beispielsweise. Die Revolutionäre allerorten meinten damals, für den Imperialismus sei der Untergang angebrochen, auf der Tagesordnung der Geschichte stehe der Übergang zur Diktatur des Proletariats.

Wie standen die Dinge bei den Gegenkräften?

Über die Schwäche der provisorischen Regierung gibt es auch in der bürgerlichen Geschichtsschreibung nur eine Meinung: Sie hatte keine klare politische Linie; das bisschen wirkliche Macht, das sie hatte, musste sie sich mit den Sowjets teilen. Die Armee war demoralisiert, einige Einheiten bereits im Zustand der Auflösung. An der Heimatfront verschärft sich die wirtschaftliche Krise, und der Ruf nach Frieden wurde immer lauter. Friede und Brot wurden schnell zu den Losungen der Demonstrationen. Die provisorische Regierung überhörte jedoch diese Forderung entweder oder sie war außerstande, sie zu erfüllen. Als Lenin sagte, die bolschewistischen Partei stehe links vom Zentralkomitee und die Massen seien radikaler als die Partei, war das kein Wunschdenken, sondern spiegelte die allgemeine Radikalisierung der Massen im Laufe des ganzen Jahres 1917 wider.

War der Oktober ein Staatstreich?

Selbst ein Gegner der Oktoberrevolution wie Nolte musste schließlich erklären: "Dieser Drang großer Massen, sich dasjenige zueigen zu machen, was ihnen bisher vorenthalten war – Selbstachtung, Mitwirkung, Bildung –, nahm die mannigfaltigsten Formen an, und selbst wenn Lenin es gewollt hätte, hätte er schwerlich verhindern können, dass bald auch die Arbeiter die Fabriken ihrer Kontrolle unterstellten und dass mehr und mehr vom Sozialismus die Rede war, der durch die Nationalisierung der Industrie herbeigeführt werden müsse und er sich bald siegreich über die ganze Welt ausdehnen werde."
"Das Netz der Sowjets begann in deren Radikalisierungsprozess eine Art parallelen Staat zu formieren, dem wahrscheinlich ein Kopf fehlte: im Oktober war dieser Kopf die bolschewistische Partei. Umgekehrt hatte der rechtmäßige Staat gewiss einen Kopf, die provisorische Regierung, aber die verschiedenen Organe führten Befehle nicht mehr aus, da jetzt die Sowjets das Leben des Landes kontrollierten." (Marc Ferro.)

Wie war das Verhältnis von Spontaneität und politischer Führung?

Der bürgerliche Sowjet-Spezialist Karl-Heinz Ruffmann schrieb dazu, es habe sich um eine planmäßig vorbereitete und durchgeführte Aktion einer Minderheit mit der Schubkraft einer tiefen revolutionären Massenströmung gehandelt. Über diese "Minderheit" merkt er an: Was deren personelle Zusammensetzung angehe, habe es sich um ein hochkarätiges und konsequentes Führungsgremium von 19 Mitgliedern gehandelt. Aus ihrer Mitglieder sei die damals wohl intelligenteste Regierung Europas hervorgegangen.

Welche Faktoren wirkten zusammen, um die Bolschewiki zur stärksten Kraft werden zu lassen?

Im Februar hatte die Partei höchstens 24000 Mitglieder, im Juni waren es bereits 240000, und die Partei wuchs weiter. Die Gründe lagen in der bolschewistischen Politik: Diese vereinigte den Kampf für Frieden, den Kampf der Bauern für Land, des Proletariats für Sozialismus und den Widerstand der Minderheiten in Russland gegen ihre nationale Unterdrückung zu einem einheitlichen Strom.
Die alten Parteien aber waren in einem Zustand der Auflösung. Die Menschewiki waren den ganzen Sommer und Herbst 1917 hindurch in einen linken Flügel und in eine Zentrumsgruppe gespalten, die dem Bolschewismus gegenüber eine feindliche Stellung einnahmen.
Bei den Sozialrevolutionären war die Uneinigkeit noch weiter verbreitet. Im November 1917 sprach der linke Flügel der Partei schon kaum noch mit dem rechten. Nach dem erfolgreichen Aufstand arbeitete er mit den Bolschewiki zusammen. Mehrere seiner Mitglieder traten in die erste bolschewistische Regierung ein. Der rechte Flügel hingegen zögerte nicht, die Offensive der tschechischen Truppen gegen die Sowjetregierung zu unterstützen.
Nichtkommunistische Historiker geben zu, dass der Einfluss der Bolschewiki nach dem Juli größer wurde; da hatten sich ihnen ziemlich viele Menschewiki angeschlossen. Die Bolschewiki waren zwar noch immer eine Minderheit, aber die Mehrheit war entweder desorganisiert oder gleichgültig. Es war nicht viel organisierter Widerstand gegen die Bolschewiki vorhanden. Sie ergriffen schließlich nicht nur in Petrograd und Moskau, sondern auch in den meisten anderen Städten ohne sonderlichen Widerstand die Macht.

Wie verhielt sich Lenin zur Frage der Demokratie?

Lenin war überzeugter Demokrat: "...wie der siegreiche Sozialismus, der nicht die vollständige Demokratie verwirklicht, unmöglich ist, so kann das Proletariat, das den in jeder Hinsicht konsequenten, revolutionären Kampf um die Demokratie nicht führt, sich nicht zum Sieg über die Bourgeoisie vorbereiten." "Der Sozialismus ist in zweifachem Sinne ohne die Demokratie unmöglich: 1. Das Proletariat wird die sozialistische Revolution nicht durchführen können, wenn es sich nicht durch den Kampf für die Demokratie auf die Revolution vorbereitet; 2. ohne restlose Verwirklichung der Demokratie kann der siegreiche Sozialismus seinen Sieg nicht behaupten und das Absterben des Staates für die Menschheit nicht wirklich werden lassen." Und an Trotzki schrieb Lenin, wer immer an den Sozialismus auf einem anderem Weg als den der politischen Demokratie heranginge, müsste unvermeidlich die finstersten reaktionären Konsequenzen ziehen.
Die späteren Entwicklungen hin zur autoritären Struktur wurzelten nicht im Werk Lenins, und so sehr man die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen für unabweisbare Maßnahmen heranziehen muss, so darf, auch wenn sie dies erleichterten, dennoch nicht unterschlagen werden, dass diese die faktische Außerkraftsetzung des Prinzips des demokratischen Zentralismus nicht erklären.

Welche Rolle spielte Trotzki?

Lenin schrieb im Oktober 1917, Trotzki habe "sofort nach seiner Ankunft eine internationalistische Position (bezogen)" und sich im Juli "auf der Höhe der Aufgaben" und als "ergebener Anhänger der Partei des revolutionären Proletariats" erwiesen.
Dazu schrieb Stalin in der Prawda vom 6.November 1918, dass "die ganze Arbeit der praktischen Organisierung der Revolution unter der direkten Führung des Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, des Genossen Trotzki, geleistet wurde. Es kann mit Bestimmtheit gesagt werden, dass die Partei das schnelle Übergehen der Garnison auf die Seite der Sowjets und die kühne Ausführung der Arbeit des militärischen Revolutionskomitees hauptsächlich und vor allem dem Genossen Trotzki zu verdanken hat. Die Genossen Antonow und Podwoiski waren die wichtigsten Helfer des Genossen Trotzki."
Das Massenheer konnte nicht bestehen und kämpfen ohne Militärfachleute. Trotzki stellte seine Revolutionsarmee unter Hinzuziehung der zuvor als Revolutionsfeinde erklärten Angehörigen des alten russischen Offizierskorps auf. Freiwillig kamen nur wenige ehemalige Generäle und Offiziere. Die überwiegende Mehrheit der Offiziere wurde jedoch zwangsmobilisiert.

Worin besteht die Bedeutung der Aprilthesen Lenins?

Warum ließ Lenin nicht erst einmal eine längere Entfaltung der bürgerlichen Demokratie zu?
Schon in der Revolution von 1905 vertrat er die Auffassung, die Bourgeoisie werde ihre eigene Revolution nicht konsequent zu Ende führen. Wie sollte sie jetzt, angesichts bewaffneter Arbeiter- und Soldatenräte, bereit sein, den Kampf um Demokratie – selbst nur einer bürgerlich-parlamentarischen – zu führen? Musste sie nicht Angst haben, unter demokratischen Bedingungen von den Arbeiter- und Bauernmassen in den Hintergrund gedrängt zu werden? Lenin erkannte sofort: Die neue Regierung würde den Massen weder Frieden, noch Freiheit und Brot bringen. Die Revolution müsse weiter, über das Niveau der bürgerlichen Revolution hinaus, getrieben werden.
Die Aprilthesen enthielten hierfür den konkreten Plan. Sie orientierten auf die ideologische und organisatorische Selbstständigkeit der Partei. Das richtete sich gegen die Haltung bolschewistischer Führer wie Kamenew und Stalin. Sie waren zur Zusammenarbeit mit der Provisorischen Regierung bereit. Lenin forderte die Bildung von Sowjets, die Bewaffnung der Arbeiter für den Sieg in der nächsten Etappe der Revolution. Diese Auffassung baute er in den berühmten Aprilthesen zu einer regelrechten Konzeption aus und kämpfte für sie, teilweise gegen seine unmittelbaren alten Mitstreiter, die nicht begriffen, dass man auf die neuen Verhältnisse nicht mit den früheren Losungen reagieren durfte. In hartnäckigen, mit gründlichen Argumenten geführten Debatten überzeugte er seine bolschewistischen Gegner und errang die Mehrheit. Das war überhaupt die Kampf- und Führungsmethode Lenins!

Wie stellte sich die Frage nach dem friedlichen und nichtfriedlichen Weg der Revolution?

Die Antwort hängt direkt mit der Rolle der Losung "Alle Macht den Sowjets!" zusammen. In den Wochen, wo die Sowjets, die bewaffneten Arbeiter- und Soldatenräte, Gegenmacht zur Provisorischen Revolutionären Regierung (der Bourgeoisie und der Konterrevolution) waren, bedeutete diese Losung die Beseitigung der Provisorischen Regierung. Dies wäre auf friedlichem Weg möglich gewesen, denn die Sowjets waren bewaffnet. In dieser Zeit verhandelte Lenin mit den Sowjets, um sie zur Übernahme der Macht zu drängen. Zu dem Zeitpunkt wurden die Sowjets von den Menschewiki beherrscht. Hätten sie die Regierung übernommen, wäre es weiter um die zentralen Fragen von Frieden und Boden gegangen. Die Menschewiki hätten sich diesen Fragen stellen müssen. Hätten sie wie bis dahin erklärt, die Bodenfrage erst nach dem Kriegsende angehen zu wollen – was ja die Fortsetzung des Krieges einschloss – hätten sie die Mehrheit in den Sowjets an die Bolschewiki verloren. Am 17.Juli waren eine halbe Million Menschen auf der Straße, um die Sozialrevolutionäre und Menschewiki zu zwingen, die Macht zu übernehmen. Diese wollten die Macht gar nicht. Führer der militärischen Organisation der Bolschewiki, die Kronstädter Matrosen und das Petersburger Maschinengewehrregiment, verlangten darauf hin den sofortigen bewaffneten Aufstand. Lenin lehnte ab: Wir wollen keinen blanquistischen Putsch, das Volk muss überzeugt werden, dass es zur bolschewistischen Politik keine Alternative gibt.
Bis in den Juli hinein versuchte also Lenin zu erreichen, dass die Sowjets auf friedliche Weise die Macht übernehmen. Statt selber die Macht zu übernehmen übergaben die Führer der Sozialrevolutionäre und Menschewiki sie am 16. und 17.Juli jedoch faktisch der Konterrevolution, indem sie Kosaken nach Petersburg riefen, Arbeiterregimenter entwaffneten und Gewaltaktionen gegen die Bolschewiki einleiteten.
Jetzt war die Losung "Alle Macht den Sowjets!" falsch geworden. Doch am 7.Oktober gewannen die Bolschewiki in Petersburg die Mehrheit im Sowjet (351 Sitze von 710; auf dem Gesamtrussischen Sowjetkongress im Juni/Juli waren es noch 105 von 1000 Delegierten gewesen), danach in Moskau, Taschkent, Kasan, Reval, Kaluga usw. Am 8.Oktober wurden Trotzki Vorsitzender des Petersburger, Nogin des Moskauer Sowjets. Jetzt wurde die Losung "Alle Macht den Sowjets!" wieder richtig und war verknüpft mit der Frage des bewaffneten Aufstands. Was diesen angeht, so endete er in Petrograd mit fünf Gefallenen, in Moskau mit einigen Dutzend Toten.
Als im Ergebnis des Aufstands der Gesamtrussische Sowjet eine Exekutive gab, waren 62 seiner 102 Mitglieder Bolschewiki. Der erste Rat der Volkskommissare bestand nur aus Bolschewiki.

Wie war es um den Terror, auch dem der Tscheka bestellt?

Ausgangspunkt waren schwere konterrevolutionäre Aktivitäten. Die Sozialrevolutionäre glaubten, sie könnten das Sowjetsystem wieder aus den Angeln heben. Dazu versuchten sie zunächst, mit Attentaten eine allgemeine Atmosphäre der Verunsicherung zu schaffen. Am 30.8.1918 schoss die Sozialrevolutionärin Kaplan auf Lenin, der durch drei Schüsse verletzt wurde. Am gleichen Tag wurde Uritzki ermordet. Ebenso der bolschewistische Agitator Wolodarski. Es folgten Attentate auf Bucharin und Trotzki. Der deutsche Gesandte von Mirbach wurde ebenfalls durch Sozialrevolutionäre ermordet. Solche Aktionen führten zur Bildung der Tscheka unter der Führung von Dsershinski. Sie hat während des gesamten Bürgerkriegs und der ausländischen Intervention 50000 Menschen verurteilt. Über den Terror der Weißen und Interventionisten wird nicht gesprochen, doch allein in Finnland fielen diesem ein Viertel des Proletariats, 100000 Arbeiterinnen und Arbeiter, innerhalb der zwei Monate April/Mai 1918 zum Opfer.


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