SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2007, Seite 19

Vergangenheit, die nicht vergeht

Marcel van der Linden dokumentiert die trotzkistische Diskussion über den Charakter der Sowjetunion

von Christoph Jünke

Die Sowjetunion und ihr einstmals realsozialistischer Orbit sind Geschichte. Doch was jahrzehntelang und auf einzigartige Weise die linken Gemüter und Leidenschaften zum Kochen brachte, zieht noch immer mehr Energie auf sich, als es oberflächlich erscheinen mag. Dort, auf der Oberfläche, geht es um die Nostalgie vergangener Sicherheiten und um den Kampf um Anerkennung jener, die auf je unterschiedliche Weise an diesen "Sozialismus" geglaubt haben. Noch die heutigen zeitgeschichtlichen Prozesse können ohne eine Berücksichtigung solcher Mentalitätsgeschichte nicht wirklich verstanden werden.
Doch die erinnernde Deutung dieser Geschichte geht über solcherart Vergangenheitsbewältigung weit hinaus. Denn was wir hier vor uns haben, ist auch ein gleichsam überwältigendes Reservoir an praktisch-politischen Erfahrungen für jede Diskussion zukünftiger Übergänge vom real existierenden Kapitalismus zu einem erneuerten Sozialismus — sofern denn eine solche noch geführt werden soll. Insofern erweisen sich die alten Auseinandersetzungen als eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Und es wird einer neuen, einer besonderen Diskussionskultur unter Progressiven und Linken bedürfen, die sich aus dieser anhaltenden Aktualität ergebenden Probleme produktiv anzugehen.
Die vor uns liegende Diskussion dreht sich dabei wesentlich um zwei Fragen: Wie kann man die Geschichte des ehemals scheinbar real existierenden Sozialismus verstehend deuten? Und: Welche praktischen, politisch-strategischen Konsequenzen ziehen Linke und Sozialisten daraus?
Der von dem linken Amsterdamer Historiker Marcel van der Linden in der "Edition Linke Klassiker" herausgegebene Band* nähert sich vor allem der ersten dieser beiden Fragen und versammelt Auszüge aus klassischen Texten der trotzkistischen Kritik der Sowjetunion.
Man mag diese ideologische Beschränkung der Auswahl bedauern, weil die sozialistische Kritik des einstmals realen Sozialismus (an dem, wie Rudi Dutschke bekanntlich betonte, alles real war, nur nicht der Sozialismus) um einiges vielfältiger gewesen ist. Der Vorteil ist jedoch, dass dadurch die Hauptzüge der Diskussion deutlicher werden, denn auch die trotzkistische Kritik war alles andere als homogen und spiegelt (fast) die ganze Breite der Debatte wieder.
Was der Band als gegeben voraussetzt und nicht weiter diskutiert — und hiermit werden bereits viele Leserinnen und Leser ihre Probleme haben — ist die Einschätzung, dass die betreffenden Gesellschaftsformationen keine sozialistischen Gesellschaftsformationen waren. Mit dieser Kritik stellt sich aber allen Kritikern des "realen Sozialismus" die Frage, um was für Gesellschaftsformationen es sich denn sonst handelte. Haben wir es bei ihnen mit einem Rückfall in einen wie auch immer konkret gearteten (Staats-)Kapitalismus zu tun? Oder waren wir Zeugen einer historisch neuartigen Produktionsweise, eines gleichsam bürokratischen Kollektivismus, der seine Wurzeln in der Herrschaft einer historisch neuartigen bürokratischen Klasse gefunden hat?
Van der Linden argumentiert in seiner ausführlichen Einleitung zu den Texten (von Leo Trotzki, Tony Cliff, Antonio Carlo, Hillel Ticktin, Ernest Mandel und Chris Arthur), dass sich die These von einem neuen Kapitalismus ebenso als falsch erwiesen habe wie die These von einer neuen herrschenden Klasse der Bürokratie. Die Thesen eines Charles Bettelheim, der in der Funktionsweise des "sozialistischen" Unternehmens die kapitalistische Logik zu erkennen glaubte, oder eines Tony Cliff, der diese Logik über die Integration in den kapitalistischen Weltmarkt wirken sah, widersprechen, ebenso wie die Thesen vom bürokratischen Kollektivismus als einer neuen herrschenden Klasse bspw. bei Antonio Carlo, nicht nur Kerntheoremen der marxistischen Theorie (der Werttheorie, der Marxschen Klassentheorie und seiner Geschichtstheorie). Auch die real abgelaufene Geschichte der letzten beiden Jahrzehnte kann nun als ordentliche Falsifizierung derselben dienen.
Der sich mehr an der Theorietradition von Hillel Ticktin orientierende Van der Linden scheut sich auch nicht, Kritik zu üben an den Argumenten, die Leo Trotzki selbst und sein wohl wichtigster Schüler des 20.Jahrhunderts, Ernest Mandel, vorgetragen haben, um zu belegen, dass es sich bei diesen Gesellschaftsformationen um "degenerierte Arbeiterstaaten" gehandelt habe, die aus dem Doppelcharakter der sowjetrussischen Revolution erwachsen seien, geprägt einerseits durch sozialistische, d.h. auf dem verstaatlichten Eigentum aufbauenden Produktionsverhältnisse, und andererseits von "bürgerlichen" Verteilungsnormen und - methoden, die eine unter dem Druck von Rückständigkeit und kapitalistischem Umfeld stehende Arbeiterbürokratie gezwungen gewesen sei anzuwenden. Dass die Trotzki‘sche und Mandel‘sche Konzeption um einiges nuancierter und flexibler gewesen ist, kommt bei ihm leider etwas zu kurz. Nichtsdestotrotz ist seine Kritik berechtigt, dass die Trotzki-Mandel‘sche Theorie einer der eigentlichen Planwirtschaft äußeren, "parasitären" Rolle der Bürokratie mindestens ungenau ist und zu Missverständnissen einlädt, denn der "sozialistischen" Bürokratie kam durchaus eine die Produktions- und Distributionsverhältnisse tragende Rolle zu. Entsprechend war die Trotzki-Mandel‘sche Theorie einer weniger sozialökonomischen, denn vielmehr politischen Revolution gegen die herrschende realsozialistische Bürokratie nicht ohne Fallstricke.
Mandel wusste allerdings um diese Fallstricke und betonte mehrfach — bspw. in einem von Van der Linden ausgelassenen Teil jenes Interviews, das sich als Dokument in diesem Band findet —, dass die Vorstellung einer "rein politischen" Revolution "eine absurde Vorstellung ist", da natürlich eine solche politische Revolution gegen die herrschende Arbeiterbürokratie "unendlich viel größere gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen haben (wird) als eine bürgerliche politische Revolution".
Auch vor einer gewissen Scholastik in der Debatte warnte Mandel. Leider findet man sie in diesem Band im letzten Beitrag von Chris Arthur. Den einzigen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten geschriebenen Beitrag kann man als Ausdruck jenes Zustandes der Verwirrung betrachten, in dem sich die antistalinistische Linke nach Van der Linden noch immer befindet.
Obwohl Arthur selbst feststellt, dass "das Kapital" (gibt es denn "das" Kapital?) eine originäre Einheit von Form und Inhalt bildet, sieht er es in der historischen Sowjetunion fortwirken. Dort sei zwar die gesellschaftliche Form des Kapitals zerstört worden, aber dessen Inhalt habe sich im Fabriksystem materialisiert und entsprechend fortexistiert, was "eine sich selbst zerstörende Monstrosität" zur Folge gehabt habe. So sieht er in den ehemals realsozialistischen Gesellschaftsformationen einen Hinweis darauf, "dass das Kapital die Eliminierung der Kapitalistenklasse überleben kann".
Solche Kapriolen eines zeitgenössischen "Wertform"-Analytikers zeitigen natürlich ausgesprochen wirre Konsequenzen:
"Die UdSSR muss als die Negation des Sozialismus innerhalb des Sozialismus verstanden werden, was der Tendenz nach den Kapitalismus wiederbegründete, wie es dann auch wirklich geschehen ist."
Die Diskussion um den Charakter der Übergangsstaaten ist dann doch etwas gehaltvoller gewesen. Und es bedarf offensichtlich besonderer Anstrengungen, diesen Gehalt wieder zu aktualisieren. Wichtig wäre dies allemal, denn wir werden diese Vergangenheit einfach nicht los — gerade weil sie der bedeutendste weltgeschichtliche Versuch einer Überwindung des real existierenden Kapitalismus gewesen ist, aus dem Lehren zu ziehen sind, wenn man abermals einen solchen weltgeschichtlichen Sprung beabsichtigt.

*Marcel van der Linden (Hg.): Was war die Sowjetunion? Kritische Texte zum real existierenden Sozialismus, Wien: Promedia, 2007, 176 S., 12,90 Euro.


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