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Die Sowjetunion und ihr einstmals realsozialistischer Orbit sind Geschichte.
Doch was jahrzehntelang und auf einzigartige Weise die linken Gemüter und Leidenschaften zum Kochen
brachte, zieht noch immer mehr Energie auf sich, als es oberflächlich erscheinen mag. Dort, auf der
Oberfläche, geht es um die Nostalgie vergangener Sicherheiten und um den Kampf um Anerkennung jener,
die auf je unterschiedliche Weise an diesen "Sozialismus" geglaubt haben. Noch die heutigen
zeitgeschichtlichen Prozesse können ohne eine Berücksichtigung solcher Mentalitätsgeschichte
nicht wirklich verstanden werden.
Doch die erinnernde Deutung dieser
Geschichte geht über solcherart Vergangenheitsbewältigung weit hinaus. Denn was wir hier vor uns
haben, ist auch ein gleichsam überwältigendes Reservoir an praktisch-politischen Erfahrungen
für jede Diskussion zukünftiger Übergänge vom real existierenden Kapitalismus zu einem
erneuerten Sozialismus sofern denn eine solche noch geführt werden soll. Insofern erweisen sich
die alten Auseinandersetzungen als eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Und es wird einer neuen,
einer besonderen Diskussionskultur unter Progressiven und Linken bedürfen, die sich aus dieser
anhaltenden Aktualität ergebenden Probleme produktiv anzugehen.
Die vor uns liegende Diskussion dreht sich
dabei wesentlich um zwei Fragen: Wie kann man die Geschichte des ehemals scheinbar real existierenden
Sozialismus verstehend deuten? Und: Welche praktischen, politisch-strategischen Konsequenzen ziehen Linke
und Sozialisten daraus?
Der von dem linken Amsterdamer Historiker
Marcel van der Linden in der "Edition Linke Klassiker" herausgegebene Band* nähert sich vor
allem der ersten dieser beiden Fragen und versammelt Auszüge aus klassischen Texten der
trotzkistischen Kritik der Sowjetunion.
Man mag diese ideologische
Beschränkung der Auswahl bedauern, weil die sozialistische Kritik des einstmals realen Sozialismus (an
dem, wie Rudi Dutschke bekanntlich betonte, alles real war, nur nicht der Sozialismus) um einiges
vielfältiger gewesen ist. Der Vorteil ist jedoch, dass dadurch die Hauptzüge der Diskussion
deutlicher werden, denn auch die trotzkistische Kritik war alles andere als homogen und spiegelt (fast) die
ganze Breite der Debatte wieder.
Was der Band als gegeben voraussetzt und
nicht weiter diskutiert und hiermit werden bereits viele Leserinnen und Leser ihre Probleme haben
ist die Einschätzung, dass die betreffenden Gesellschaftsformationen keine sozialistischen
Gesellschaftsformationen waren. Mit dieser Kritik stellt sich aber allen Kritikern des "realen
Sozialismus" die Frage, um was für Gesellschaftsformationen es sich denn sonst handelte. Haben
wir es bei ihnen mit einem Rückfall in einen wie auch immer konkret gearteten (Staats-)Kapitalismus zu
tun? Oder waren wir Zeugen einer historisch neuartigen Produktionsweise, eines gleichsam
bürokratischen Kollektivismus, der seine Wurzeln in der Herrschaft einer historisch neuartigen
bürokratischen Klasse gefunden hat?
Van der Linden argumentiert in seiner
ausführlichen Einleitung zu den Texten (von Leo Trotzki, Tony Cliff, Antonio Carlo, Hillel Ticktin,
Ernest Mandel und Chris Arthur), dass sich die These von einem neuen Kapitalismus ebenso als falsch
erwiesen habe wie die These von einer neuen herrschenden Klasse der Bürokratie. Die Thesen eines
Charles Bettelheim, der in der Funktionsweise des "sozialistischen" Unternehmens die
kapitalistische Logik zu erkennen glaubte, oder eines Tony Cliff, der diese Logik über die Integration
in den kapitalistischen Weltmarkt wirken sah, widersprechen, ebenso wie die Thesen vom bürokratischen
Kollektivismus als einer neuen herrschenden Klasse bspw. bei Antonio Carlo, nicht nur Kerntheoremen der
marxistischen Theorie (der Werttheorie, der Marxschen Klassentheorie und seiner Geschichtstheorie). Auch
die real abgelaufene Geschichte der letzten beiden Jahrzehnte kann nun als ordentliche Falsifizierung
derselben dienen.
Der sich mehr an der Theorietradition von
Hillel Ticktin orientierende Van der Linden scheut sich auch nicht, Kritik zu üben an den Argumenten,
die Leo Trotzki selbst und sein wohl wichtigster Schüler des 20.Jahrhunderts, Ernest Mandel,
vorgetragen haben, um zu belegen, dass es sich bei diesen Gesellschaftsformationen um "degenerierte
Arbeiterstaaten" gehandelt habe, die aus dem Doppelcharakter der sowjetrussischen Revolution erwachsen
seien, geprägt einerseits durch sozialistische, d.h. auf dem verstaatlichten Eigentum aufbauenden
Produktionsverhältnisse, und andererseits von "bürgerlichen" Verteilungsnormen und -
methoden, die eine unter dem Druck von Rückständigkeit und kapitalistischem Umfeld stehende
Arbeiterbürokratie gezwungen gewesen sei anzuwenden. Dass die Trotzkische und Mandelsche
Konzeption um einiges nuancierter und flexibler gewesen ist, kommt bei ihm leider etwas zu kurz.
Nichtsdestotrotz ist seine Kritik berechtigt, dass die Trotzki-Mandelsche Theorie einer der
eigentlichen Planwirtschaft äußeren, "parasitären" Rolle der Bürokratie
mindestens ungenau ist und zu Missverständnissen einlädt, denn der "sozialistischen"
Bürokratie kam durchaus eine die Produktions- und Distributionsverhältnisse tragende Rolle zu.
Entsprechend war die Trotzki-Mandelsche Theorie einer weniger sozialökonomischen, denn vielmehr
politischen Revolution gegen die herrschende realsozialistische Bürokratie nicht ohne Fallstricke.
Mandel wusste allerdings um diese
Fallstricke und betonte mehrfach bspw. in einem von Van der Linden ausgelassenen Teil jenes
Interviews, das sich als Dokument in diesem Band findet , dass die Vorstellung einer "rein
politischen" Revolution "eine absurde Vorstellung ist", da natürlich eine solche
politische Revolution gegen die herrschende Arbeiterbürokratie "unendlich viel größere
gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen haben (wird) als eine bürgerliche politische
Revolution".
Auch vor einer gewissen Scholastik in der
Debatte warnte Mandel. Leider findet man sie in diesem Band im letzten Beitrag von Chris Arthur. Den
einzigen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten geschriebenen Beitrag kann man
als Ausdruck jenes Zustandes der Verwirrung betrachten, in dem sich die antistalinistische Linke nach Van
der Linden noch immer befindet.
Obwohl Arthur selbst feststellt, dass
"das Kapital" (gibt es denn "das" Kapital?) eine originäre Einheit von Form und
Inhalt bildet, sieht er es in der historischen Sowjetunion fortwirken. Dort sei zwar die gesellschaftliche
Form des Kapitals zerstört worden, aber dessen Inhalt habe sich im Fabriksystem materialisiert und
entsprechend fortexistiert, was "eine sich selbst zerstörende Monstrosität" zur Folge
gehabt habe. So sieht er in den ehemals realsozialistischen Gesellschaftsformationen einen Hinweis darauf,
"dass das Kapital die Eliminierung der Kapitalistenklasse überleben kann".
Solche Kapriolen eines
zeitgenössischen "Wertform"-Analytikers zeitigen natürlich ausgesprochen wirre
Konsequenzen:
"Die UdSSR muss als die Negation des
Sozialismus innerhalb des Sozialismus verstanden werden, was der Tendenz nach den Kapitalismus
wiederbegründete, wie es dann auch wirklich geschehen ist."
Die Diskussion um den Charakter der
Übergangsstaaten ist dann doch etwas gehaltvoller gewesen. Und es bedarf offensichtlich besonderer
Anstrengungen, diesen Gehalt wieder zu aktualisieren. Wichtig wäre dies allemal, denn wir werden diese
Vergangenheit einfach nicht los gerade weil sie der bedeutendste weltgeschichtliche Versuch einer
Überwindung des real existierenden Kapitalismus gewesen ist, aus dem Lehren zu ziehen sind, wenn man
abermals einen solchen weltgeschichtlichen Sprung beabsichtigt.
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