SoZ - Sozialistische Zeitung |
23.August 1927, kurz nach Mitternacht, in der Nähe von Boston (USA):
Nicola Sacco wird zur Hinrichtung geführt. Bevor er auf dem elektrischen Stuhl stirbt, ruft er:
"Es lebe die Anarchie." Einige Minuten später erleidet Bartolomeo Vanzetti dasselbe
Schicksal.
Nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg im April 1917 erließ Präsident Woodrow
Wilson, der uns immer noch als "liberal" präsentiert wird, zunehmend repressivere Gesetze.
Diese Politik erreichte ihren Höhepunkt 1919 unter Wilsons Justizminister Palmer mit einer Hexenjagd
auf Anarchisten, "Rote" und Immigranten. Am 2.Januar 1920 fanden die sog. "Palmer
raids" statt: Unter dem Vorwand eines drohenden "bolschewistischen Komplotts" gab es Razzien
in 33 Städten, Tausende wurden festgenommen und saßen monatelang ohne Anklage im Gefängnis.
Die amerikanische Bourgeoisie rächte sich für das Scheitern ihrer militärischen Intervention
gegen Sowjetrussland und für die Furcht, die ihr der Aufstieg der Arbeiterbewegung 1919
eingeflößt hatte.
Sacco und Vanzetti waren die idealen
Sündenböcke. Sie waren Anarchisten und Revolutionäre; sie waren aus Mexiko
zurückgekehrt, wohin sie geflüchtet waren, um der Einberufung in den imperialistischen Krieg zu
entgehen, den sie verurteilten.
Vanzetti wurde zunächst wegen eines
Raubüberfalls, den er nicht begangen hatte, zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Aber dies
genügte nicht. Es kam zu einem zweiten Prozess wegen eines anderen Überfalls, bei dem es zwei
Tote gegeben hatte. Erneut ohne Beweise, wurden Sacco und Vanzetti diesmal zum Tode verurteilt, wie es die
Behörden wollten.
Es handelte sich nicht bloß um einen
"Justizirrtum", wie von manchen Liberalen angenommen, sondern tatsächlich um einen
politischen Mord. Die Ordnungshüter wollten ein Zeichen setzen. Alle Beweise für die Unschuld der
beiden Aktivisten, darunter die Geständnisse eines der tatsächlichen Urhebers des Überfalls,
nützten nichts. Sacco und Vanzetti blieben sechs Jahre im Todestrakt.
Nun entwickelte sich unter dem Banner der Verteidigung von Kämpfern für die Emanzipation der
Arbeiterklasse eine beispiellose internationale Solidaritätskampagne. Vielleicht die einzige, die
jemals von Anfang bis Ende unter diesem Banner durchgeführt wurde.
Es war eine schwierige Epoche, die weltweit
von einem politischen und sozialen Rückgang gekennzeichnet war. In Italien hatte sich das
faschistische Regime etabliert. Dutzende Länder lebten unter mehr oder weniger brutalen Diktaturen.
Die politische Reaktion erreichte auch Russland mit dem Aufkommen des Stalinismus, der die internationale
kommunistische Bewegung infizieren sollte.
Trotzdem konnte ab 1926 und vor allem
während des ganzen Jahres 1927 die Solidaritätsbewegung für Sacco und Vanzetti an Breite
gewinnen und das Bewusstsein von Millionen Werktätigen in der Welt tief und dauerhaft prägen. Die
anarchistische Bewegung wurde natürlich mobilisiert. Aber was dem proletarischen Protest einen so
breiten Charakter verlieh, war die Beteiligung aller kommunistischen Organisationen über die
III.Internationale (KI): Dazu gehörten natürlich die kommunistischen Parteien, aber auch die
Internationale Rote Hilfe und vor allem die Gewerkschaftsbewegung mit der Roten
Gewerkschaftsinternationale. Die kommunistischen Parteien förderten diese Proteste um so mehr, als die
KI mit der Politik der "Klasse gegen Klasse" gerade eine ultralinke Wende vollzogen hatte. Ihr
Radikalismus traf auf ein bei Millionen Werktätigen tief verwurzeltes Gefühl. In allen
Ländern wurde alles mobilisiert, was an kämpferischen und rebellischen Kräften in der
Arbeiterbewegung vorhanden war; die sozialdemokratischen Parteien zögerten in ihrer Mehrheit.
Kein Kontinent fehlte bei den Streiks und Demonstrationen, die in Nordafrika ebenso stattfanden wie in
Südafrika und Australien. In den USA selbst waren die Kommunistische Partei und die kämpferische
Gewerkschaftsbewegung sehr schwach. Der Gewerkschaftsverband AFL war vollständig vom herrschenden
Regime abhängig, aber die Protestbewegung und die Streiks mobilisierten massiv die
Lohnabhängigen. Im Juli 1927 erlebte New York den größten Streik seiner Geschichte mit der
Beteiligung von Hunderttausenden Arbeitern, die für das Leben von Sacco und Vanzetti eintraten. In
Boston, Chicago, an der Westküste und in vielen Industriestädten gab es Streiks, Demonstrationen
und Zusammenstöße mit der Polizei. Die Proteste erreichten auch Kanada.
Die gesamte Arbeiterbewegung Lateinamerikas
erhob sich. Große Generalstreiks fanden während des Jahres 1927 in Argentinien, Paraguay,
Uruguay, Brasilien, Chile, Mexiko und Venezuela statt. Hunderttausende Demonstranten stießen mit den
Repressionskräften zusammen, die Botschaften der USA wurden von der Armee geschützt.
In Europa entwickelte sich der Protest
sogar in autoritär geführten Ländern trotz der damit verbundenen Risiken: in Polen unter der
Diktatur Pilsudskis genauso wie im Italien Mussolinis. Natürlich breitete sich die Bewegung in
Deutschland aus, wo die kommunistische Bewegung stark war. In Großbritannien hatte es im Jahr zuvor
einen gescheiterten Generalstreik gegeben und das Gefühl der internationalen Solidarität war
stark; zahlreiche Gewerkschaften und der linke Flügel der Labour Party mobilisierten. Es gab Streiks
und massive Demonstrationen, besonders in London, wo sich Zehntausende Arbeiter versammelten.
In Frankreich standen die CGTU (der
Gewerkschaftsverband, der die kämpferischsten Arbeiter organisierte) und die kommunistische Partei in
der ersten Reihe. Der vom Reformisten Léon Jouhaux geführte Gewerkschaftsverband CGT weigerte
sich, der Bewegung beizutreten. Die Regierung des "Blocks der Linken" [aus Radikalen und
Sozialdemokraten] bekämpfte die Protestierenden. Mit dem Herannahen des Hinrichtungsdatums
radikalisierte sich die Bewegung. Im Juli und Anfang August kam es im ganzen Land zu ausgedehnten Streiks
und Demonstrationen.
Am Tag der Hinrichtung, dem 23.August 1927,
marschierten fast hunderttausend Demonstranten in Paris. Es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen.
Unter den Demonstranten gab es zahlreiche Verletzte und Festnahmen, aber auch über 120 Polizisten
wurden verletzt. Demonstrationen und bisweilen auch Zusammenstöße mit der Polizei fanden auch in
den kleinsten Städten statt.
An diesem 23.August 1927 brach in der
ganzen Welt der Zorn der Arbeitenden aus, um gegen die Ermordung der beiden Märtyrer zu protestieren.
Sogar in Genf marschierten Tausende von Demonstranten, es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen; die
Armee musste das amerikanische Konsulat schützen.
Doch weder der Richter, Thayer, noch der
Gouverneur von Massachusetts oder der Präsident der USA konnte zum Nachgeben bewegt werden. In
Frankreich hatten die großen rechten Tageszeitungen wie Le Temps und Le Figaro diesem Mord im Voraus
Beifall gezollt. Es ging nicht darum, dass die eine Seite die Unschuld von Sacco und Vanzetti beteuert, die
andere Seite aber sie für schuldig gehalten hätte, es ging um eine Klassenentscheidung. Dessen
waren sich beide Lager bewusst. Im Verlauf der Demonstrationen gab es Dutzende Tote, in Asien wie in Nord-
und Südamerika. Der Protest und die Streiks setzten sich noch wochenlang fort.
Vanzetti hatte seinen Richtern entgegnet:
"Unsere Agonie wird unser Triumph sein." Als er "Wir" sagte, meinte er natürlich
sich und seinen Gefährten, aber auch die Arbeiterbewegung, die die Erde von der kapitalistischen
Unterdrückung befreien wollte. Die Millionen Proletarier, die sich für zwei der ihren
mobilisierten, konnten die Hand der Henker nicht stoppen. Aber ihr Kampf hat das Bewusstsein von Millionen
Werktätigen geprägt und gezeigt, dass sie zu ein und derselben internationalen Klasse
gehörten.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |