SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2007, Seite 03

Frankreich

Sieg oder Niederlage?

Nach acht Tagen Streik ist die Bilanz durchwachsen

von Bernard Schmid, Paris

Am 22.November wurden die Streiks der französischen Eisenbahner nach acht Tagen vorläufig abgebrochen. Die größte Gewerkschaft in diesem Bereich, die kommunistisch orientierte CGT, hatte nicht zur Fortsetzung des Ausstands aufgerufen. Zwei Tage zuvor hatten in ganz Frankreich bei einem Aktionstag eine halbe Million Menschen gegen die konservative Regierung von Präsident Sarkozy demonstriert.

Handelt es sich um einen Sieg? Um einen halben Erfolg, oder eine totale Schlappe? Diese Frage, die sich gewöhnlich — für jede Seite — nach einem sozialen Konflikt stellt, lässt sich im Hinblick auf die jüngsten französischen Streikbewegungen nur schwer beantworten. Eine Bewertung dürfte vorläufig nicht "schwarz" oder "weiß" ausfallen, sondern in irgendwelchen Grautönen. Die von manchen Beobachtern befürchtete historische Niederlage für die französischen Gewerkschaften blieb aus. Aber ob bspw. die Eisenbahner aus den Erfahrungen der letzten Wochen die Lehre davon tragen können, dass sie später zu erneuten sozialen Kämpfen leicht bereit sein werden, bleibt erst noch abzuwarten.
Das wird unter anderem von den konkreten Ergebnissen der Verhandlungen abhängen, die am 21.November bei der französischen Bahngesellschaft SNCF und am 28.November bei den Pariser Verkehrsbetrieben (RATP) begonnen haben. Aller Wahrscheinlichkeit wird alles darauf hinauslaufen, dass die konservative Regierung sich zwar mit dem Kernpunkt ihres "Reform"vorhabens durchsetzen kann und die Lebensarbeitszeit nun auch für die Transportbediensteten auf 40 Beitragsjahre zur Rentenkasse ausdehnen wird — die Eisenbahner und andere betroffene Berufsgruppen werden dies in der Praxis aber aufgrund von Kompensationen und Anrechnungsmodalitäten aber zunächst kaum spüren.
Solche Kompensationen können zum einen in einer stärkeren Anhebung des Grundlohns bestehen, wie sie die Gewerkschaften fordern. Bislang beziehen die Eisenbahner einen Gutteil ihres Lohns in Form von Zuschlägen und Prämien — etwa Nacht- und Wochenendzuschlägen — die aber in die spätere Berechnung der Rente grundsätzlich nicht mit einbezogen werden. Deshalb fallen die Renten für die Eisenbahner auch niedriger aus als für andere Berufsgruppen. Die Rede ist nun davon, zumindest einen Teil dieser Zuschläge — wie seit langem gefordert — in den Grundlohn mit einzurechnen, der allein für die Kalkulation der Rentenhöhe herangezogen wird.
Erreichen die Transportbediensteten dieses Zugeständnis tatsächlich, dann könnte dies dafür sorgen, dass zumindest in den kommenden zehn oder zwölf Jahren Strafbeträge für fehlende Beitragsjahre zur Rentenkasse die Eisenbahner nicht wirklich weh tun würden. Dann könnten sie faktisch weiterhin relativ früh in Rente gehen. Allerdings wird dies den heute jüngeren Beschäftigten etwa bei der Bahn nichts bringen — bis sie einmal in Rente gehen, hat die Inflation den jetzigen Anstieg ihres Grundlohns längst aufgefressen.
Solche "Gegenleistungen" an die Eisenbahner hatten Regierung und Bahndirektion schon zu Beginn der Auseinandersetzung längst einkalkuliert. Dennoch gibt es einen Widerspruch, eine notwendige Spannung zwischen den beiden Ansprüchen. Einerseits sind sie zu diversen faktischen Zugeständnissen bereit, um die Glut des Arbeitskampfs auszutreten und das zentrale "Symbol" der Reform — die obligatorischen 40 Beitragsjahre, die künftig mindestens nominell auch bei der Bahn gelten würden — zu "retten". Andererseits wollen und "dürfen" sie damit nicht allzu sehr an die Öffentlichkeit treten, denn es könnten auch andere Lohnabhängige auf die Idee kommen, Ähnliches für sich zu fordern.

Mobilisierungen an der Basis

Tatsache ist, dass es namentlich die CGT war— die stärkste Gewerkschaft unter den Eisenbahnern, gefolgt von der linken Basisgewerkschaft SUD-Schienenverkehr (SUD-Rail) —, die vergangene Woche für ein Ende Streiks gesorgt hat. Nicht sicher ist jedoch, ob bei einer Fortsetzung des Streiks wirklich "mehr drin gewesen" wäre. Denn die Streikbeteiligung war bröckelte bereits ab.
Anhaltende Sozialneidkampagnen der bürgerlichen Rechten gegen die streikenden Beschäftigten als "Verteidiger überkommener Privilegien", das erfolgreiche Auseinanderdividieren der Lohnabhängigen — vor dem Hintergrund von Verschlechterungen, die für andere Berufsgruppen bereits 2003 durchgedrückt werden konnten — und der Druck eines offensiv vorgehenden konservativen Blocks taten ihre Wirkung. Nur ein starkes Drittel der öffentlichen Meinung erklärte seine Unterstützung für den Ausstand bei der Bahn. Und für die vergangene Woche hatte das Regierungslager für den Fall eines Fortgangs des Streiks massive Gegenmaßnahmen angekündigt. So sollten Kommunen, die von der konservativen Regierungspartei UMP regiert werden, private Ersatzbusse zur Verfügung stellen, um den Transportarbeiterstreik ins Leere laufen zu lassen. Insofern war das Risiko hoch, dass der Streik gegen die Wand gelaufen wäre.
Positiv ist in der Bilanz des jetzt — vorläufig? — beendeten Eisenbahnerstreiks hervorzuheben, dass es eine echte Dynamik der Basisbeteiligung und der Abstimmung in Vollversammlungen gegeben hat. Tatsächlich waren die Gewerkschaftsapparate eine Woche lang — bis der Ausstand auf der Kippe stand — nicht "Herren der Lage", auch wenn ihnen dies eine Zeitlang selbst zupass kam, um nicht öffentlich für die Fortsetzung des Streiks zur Verantwortung gezogen werden zu können. Nach Angaben der linken Basisgewerkschaft SUD-Rail haben 20000 Bahnbeschäftigte tagtäglich an den rund 200 Vollversammlungen in ganz Frankreich teilgenommen.
Von Ort zu Ort fällt das Bild allerdings unterschiedlich aus. Mancherorts waren die Vollversammlungen eher davon geprägt, dass die Vertreter der unterschiedlichen Gewerkschaften ihre jeweiligen Erklärungen verlasen, die Redeliste abgearbeitet wurde und danach alle Teilnehmer ihrer Wege gingen. Andernorts hingegen kam eine reale kollektive Dynamik zustande. Im Bahndepot von Melun östlich von Paris, wo SUD-Rail stark verankert ist, wurden etwa die Gebäude dauerhaft besetzt. Auch nach dem Ende der Redebeiträge und der Abstimmung blieben die Leute zusammen. Die Beschäftigten veranstalteten ein Kulturprogramm, neue Liebesbeziehungen wurden geknüpft, Tag und Nacht brannten Ölfeuer in gelben Fässern auf den Streikposten. In Melun fiel es den Beschäftigten laut allen Berichten verdammt schwer, in der Schlussphase die Arbeit wieder aufzunehmen.

Streik an den Universitäten

Bei den Studierenden sieht es in den letzten Novembertagen noch anders aus. Auch nach dem Ende des Arbeitskampfs im Transportsektor blieb die Mobilisierung an den Universitäten aufrecht erhalten — obwohl real damit zu rechnen ist, dass die studentische Bewegung infolge des Abbruchs der Eisenbahnerstreiks nicht mehr viel wird bewegen können. Da die Studierenden über keinen Hebel verfügen, um für ökonomische Folgen ihres Streiks oder "Verdienstausfälle" für die Wirtschaft zu sorgen, kann die Regierung im Prinzip auch einen mehrmonatigen Streik aussitzen.
Die sozialdemokratisch geführte größte Studierendengewerkschaft UNEF hat sich am vergangenen Wochenende offen gegen die Fortführung des Streiks ausgesprochen — zu einem so klaren Bruch zwischen der etablierten Gewerkschaft und der Dynamik der Selbstorganisation war es bei den Eisenbahnern und anderen Beschäftigtengruppen nicht gekommen. Die Vertreter der UNEF zogen aus der in Lille versammelten nationalen Streikkoordination aus, nachdem einigen Delegierten die — angeblich aus Vollversammlungen bezogenen, aber nicht überprüfbaren — Mandate aberkannt worden waren. Die Kontrolle der Mandate sollte dazu dienen, Majorisierungsversuchen durch die UNEF einen Riegel vorzuschieben, nachdem diese zuvor im Sprecherausschuss der Streikkoordination vorübergehend eine Mehrheit ihrer Leute hatte platzieren können. Die Naivität dogmatischer "Basis-Anbeter", die jeglichem Delegiertenprinzip misstrauten, trug das Ihre dazu bei — das spielte der UNEF in die Hände.
Die UNEF wollte neben ihrem eigentlichen Hauptamtlichenapparat nur eine möglichst schwache Streikkoordination sehen. Ton angebend in der nationalen Streikkoordination waren libertäre Kommunisten bzw. Anarchokommunisten sowie Mitglieder der LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire), während sowohl die UNEF als auch die mit dem Verfahren der Delegiertenwahl in Vollversammlungen unzufriedenen Autonomen eher von der Seite schossen. Die Medien, auch die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde, hetzten fast pausenlos gegen eine "Manipulation der radikalen Linken". Die Bewegung gegen den Erstanstellungsvertrag CPE vor anderthalb Jahren hatte die Zeitung noch mit Sympathie begleitet, obwohl deren Streikkoordination ähnlich zusammengesetzt war.
Real hat die UNEF wohl vor allem den aus ihrer Sicht günstigsten Zeitpunkt genutzt, so lange sie bei Verhandlungen mit der Hochschulministerin Valérie Pécresse überhaupt noch etwas erreichen kann, bevor die Streikfront zusammenbricht. Anders als der Rest der Streikkoordination — also die Delegierten, die in den Vollversammlungen gewählt wurden —fordert die UNEF keinen Rückzug der "Loi LRU" — zu deutsch "Gesetz über Freiheit und Verantwortung der Universitäten", sondern nur seine Verbesserung aus in Vollversammlungen gewählten Delegierten bestehenden. Ziel des Gesetzes ist es, den Uni-Rektoren eine finanzpolitische Autonomie zu verschafften und die Universitäten auf Mittel der Privatwirtschaft zu verweisen.


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