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Am 22.November wurden die Streiks der französischen Eisenbahner nach
acht Tagen vorläufig abgebrochen. Die größte Gewerkschaft in diesem Bereich, die
kommunistisch orientierte CGT, hatte nicht zur Fortsetzung des Ausstands aufgerufen. Zwei Tage zuvor hatten
in ganz Frankreich bei einem Aktionstag eine halbe Million Menschen gegen die konservative Regierung von
Präsident Sarkozy demonstriert.
Handelt es sich um einen Sieg? Um einen halben Erfolg, oder eine totale Schlappe? Diese Frage, die sich
gewöhnlich für jede Seite nach einem sozialen Konflikt stellt, lässt sich im
Hinblick auf die jüngsten französischen Streikbewegungen nur schwer beantworten. Eine Bewertung
dürfte vorläufig nicht "schwarz" oder "weiß" ausfallen, sondern in
irgendwelchen Grautönen. Die von manchen Beobachtern befürchtete historische Niederlage für
die französischen Gewerkschaften blieb aus. Aber ob bspw. die Eisenbahner aus den Erfahrungen der
letzten Wochen die Lehre davon tragen können, dass sie später zu erneuten sozialen Kämpfen
leicht bereit sein werden, bleibt erst noch abzuwarten.
Das wird unter anderem von den konkreten
Ergebnissen der Verhandlungen abhängen, die am 21.November bei der französischen Bahngesellschaft
SNCF und am 28.November bei den Pariser Verkehrsbetrieben (RATP) begonnen haben. Aller Wahrscheinlichkeit
wird alles darauf hinauslaufen, dass die konservative Regierung sich zwar mit dem Kernpunkt ihres
"Reform"vorhabens durchsetzen kann und die Lebensarbeitszeit nun auch für die
Transportbediensteten auf 40 Beitragsjahre zur Rentenkasse ausdehnen wird die Eisenbahner und andere
betroffene Berufsgruppen werden dies in der Praxis aber aufgrund von Kompensationen und
Anrechnungsmodalitäten aber zunächst kaum spüren.
Solche Kompensationen können zum einen
in einer stärkeren Anhebung des Grundlohns bestehen, wie sie die Gewerkschaften fordern. Bislang
beziehen die Eisenbahner einen Gutteil ihres Lohns in Form von Zuschlägen und Prämien etwa
Nacht- und Wochenendzuschlägen die aber in die spätere Berechnung der Rente
grundsätzlich nicht mit einbezogen werden. Deshalb fallen die Renten für die Eisenbahner auch
niedriger aus als für andere Berufsgruppen. Die Rede ist nun davon, zumindest einen Teil dieser
Zuschläge wie seit langem gefordert in den Grundlohn mit einzurechnen, der allein
für die Kalkulation der Rentenhöhe herangezogen wird.
Erreichen die Transportbediensteten dieses
Zugeständnis tatsächlich, dann könnte dies dafür sorgen, dass zumindest in den
kommenden zehn oder zwölf Jahren Strafbeträge für fehlende Beitragsjahre zur Rentenkasse die
Eisenbahner nicht wirklich weh tun würden. Dann könnten sie faktisch weiterhin relativ früh
in Rente gehen. Allerdings wird dies den heute jüngeren Beschäftigten etwa bei der Bahn nichts
bringen bis sie einmal in Rente gehen, hat die Inflation den jetzigen Anstieg ihres Grundlohns
längst aufgefressen.
Solche "Gegenleistungen" an die
Eisenbahner hatten Regierung und Bahndirektion schon zu Beginn der Auseinandersetzung längst
einkalkuliert. Dennoch gibt es einen Widerspruch, eine notwendige Spannung zwischen den beiden
Ansprüchen. Einerseits sind sie zu diversen faktischen Zugeständnissen bereit, um die Glut des
Arbeitskampfs auszutreten und das zentrale "Symbol" der Reform die obligatorischen 40
Beitragsjahre, die künftig mindestens nominell auch bei der Bahn gelten würden zu
"retten". Andererseits wollen und "dürfen" sie damit nicht allzu sehr an die
Öffentlichkeit treten, denn es könnten auch andere Lohnabhängige auf die Idee kommen,
Ähnliches für sich zu fordern.
Tatsache ist, dass es namentlich die CGT war die stärkste Gewerkschaft unter den
Eisenbahnern, gefolgt von der linken Basisgewerkschaft SUD-Schienenverkehr (SUD-Rail) , die
vergangene Woche für ein Ende Streiks gesorgt hat. Nicht sicher ist jedoch, ob bei einer Fortsetzung
des Streiks wirklich "mehr drin gewesen" wäre. Denn die Streikbeteiligung war bröckelte
bereits ab.
Anhaltende Sozialneidkampagnen der
bürgerlichen Rechten gegen die streikenden Beschäftigten als "Verteidiger überkommener
Privilegien", das erfolgreiche Auseinanderdividieren der Lohnabhängigen vor dem
Hintergrund von Verschlechterungen, die für andere Berufsgruppen bereits 2003 durchgedrückt
werden konnten und der Druck eines offensiv vorgehenden konservativen Blocks taten ihre Wirkung. Nur
ein starkes Drittel der öffentlichen Meinung erklärte seine Unterstützung für den
Ausstand bei der Bahn. Und für die vergangene Woche hatte das Regierungslager für den Fall eines
Fortgangs des Streiks massive Gegenmaßnahmen angekündigt. So sollten Kommunen, die von der
konservativen Regierungspartei UMP regiert werden, private Ersatzbusse zur Verfügung stellen, um den
Transportarbeiterstreik ins Leere laufen zu lassen. Insofern war das Risiko hoch, dass der Streik gegen die
Wand gelaufen wäre.
Positiv ist in der Bilanz des jetzt
vorläufig? beendeten Eisenbahnerstreiks hervorzuheben, dass es eine echte Dynamik der
Basisbeteiligung und der Abstimmung in Vollversammlungen gegeben hat. Tatsächlich waren die
Gewerkschaftsapparate eine Woche lang bis der Ausstand auf der Kippe stand nicht "Herren
der Lage", auch wenn ihnen dies eine Zeitlang selbst zupass kam, um nicht öffentlich für die
Fortsetzung des Streiks zur Verantwortung gezogen werden zu können. Nach Angaben der linken
Basisgewerkschaft SUD-Rail haben 20000 Bahnbeschäftigte tagtäglich an den rund 200
Vollversammlungen in ganz Frankreich teilgenommen.
Von Ort zu Ort fällt das Bild
allerdings unterschiedlich aus. Mancherorts waren die Vollversammlungen eher davon geprägt, dass die
Vertreter der unterschiedlichen Gewerkschaften ihre jeweiligen Erklärungen verlasen, die Redeliste
abgearbeitet wurde und danach alle Teilnehmer ihrer Wege gingen. Andernorts hingegen kam eine reale
kollektive Dynamik zustande. Im Bahndepot von Melun östlich von Paris, wo SUD-Rail stark verankert
ist, wurden etwa die Gebäude dauerhaft besetzt. Auch nach dem Ende der Redebeiträge und der
Abstimmung blieben die Leute zusammen. Die Beschäftigten veranstalteten ein Kulturprogramm, neue
Liebesbeziehungen wurden geknüpft, Tag und Nacht brannten Ölfeuer in gelben Fässern auf den
Streikposten. In Melun fiel es den Beschäftigten laut allen Berichten verdammt schwer, in der
Schlussphase die Arbeit wieder aufzunehmen.
Bei den Studierenden sieht es in den letzten Novembertagen noch anders aus. Auch nach dem Ende des
Arbeitskampfs im Transportsektor blieb die Mobilisierung an den Universitäten aufrecht erhalten
obwohl real damit zu rechnen ist, dass die studentische Bewegung infolge des Abbruchs der
Eisenbahnerstreiks nicht mehr viel wird bewegen können. Da die Studierenden über keinen Hebel
verfügen, um für ökonomische Folgen ihres Streiks oder "Verdienstausfälle"
für die Wirtschaft zu sorgen, kann die Regierung im Prinzip auch einen mehrmonatigen Streik aussitzen.
Die sozialdemokratisch geführte
größte Studierendengewerkschaft UNEF hat sich am vergangenen Wochenende offen gegen die
Fortführung des Streiks ausgesprochen zu einem so klaren Bruch zwischen der etablierten
Gewerkschaft und der Dynamik der Selbstorganisation war es bei den Eisenbahnern und anderen
Beschäftigtengruppen nicht gekommen. Die Vertreter der UNEF zogen aus der in Lille versammelten
nationalen Streikkoordination aus, nachdem einigen Delegierten die angeblich aus Vollversammlungen
bezogenen, aber nicht überprüfbaren Mandate aberkannt worden waren. Die Kontrolle der
Mandate sollte dazu dienen, Majorisierungsversuchen durch die UNEF einen Riegel vorzuschieben, nachdem
diese zuvor im Sprecherausschuss der Streikkoordination vorübergehend eine Mehrheit ihrer Leute hatte
platzieren können. Die Naivität dogmatischer "Basis-Anbeter", die jeglichem
Delegiertenprinzip misstrauten, trug das Ihre dazu bei das spielte der UNEF in die Hände.
Die UNEF wollte neben ihrem eigentlichen
Hauptamtlichenapparat nur eine möglichst schwache Streikkoordination sehen. Ton angebend in der
nationalen Streikkoordination waren libertäre Kommunisten bzw. Anarchokommunisten sowie Mitglieder der
LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire), während sowohl die UNEF als auch die mit dem Verfahren
der Delegiertenwahl in Vollversammlungen unzufriedenen Autonomen eher von der Seite schossen. Die Medien,
auch die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde, hetzten fast pausenlos gegen eine "Manipulation der
radikalen Linken". Die Bewegung gegen den Erstanstellungsvertrag CPE vor anderthalb Jahren hatte die
Zeitung noch mit Sympathie begleitet, obwohl deren Streikkoordination ähnlich zusammengesetzt war.
Real hat die UNEF wohl vor allem den aus
ihrer Sicht günstigsten Zeitpunkt genutzt, so lange sie bei Verhandlungen mit der Hochschulministerin
Valérie Pécresse überhaupt noch etwas erreichen kann, bevor die Streikfront zusammenbricht.
Anders als der Rest der Streikkoordination also die Delegierten, die in den Vollversammlungen
gewählt wurden fordert die UNEF keinen Rückzug der "Loi LRU" zu deutsch
"Gesetz über Freiheit und Verantwortung der Universitäten", sondern nur seine
Verbesserung aus in Vollversammlungen gewählten Delegierten bestehenden. Ziel des Gesetzes ist es, den
Uni-Rektoren eine finanzpolitische Autonomie zu verschafften und die Universitäten auf Mittel der
Privatwirtschaft zu verweisen.
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