SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2007, Seite 07

Vorratsdatenspeicherung im Gesundheitswesen

Die Patientenkarte

Martin Grauduszus‘ Rede auf der Demonstration in September in Berlin

Die politische Klasse verfällt in blinden Aktionismus und will der Bevölkerung ein vermeintliches Sicherheitsgefühl vermitteln. Von den staatlichen Organen werden wir Bürger dabei unter Generalverdacht gestellt und unter dem Deckmantel der Terrorismusabwehr werden Grundrechte außer Kraft gesetzt.
Das Ganze ist lediglich ein Alibi. Denn jedem ist klar, dass man Terroristen nicht mit Bundestrojanern begegnen kann. Auch mit dem Abhören von Telefongesprächen in Arztpraxen — ein ungeheuerlicher Angriff auf die ärztliche Schweigepflicht — wird man keine kriminelle Machenschaften in nennenswertem Umfang aufdecken.
Wir Ärzte sind in großer Sorge um das Weiterbestehen eines vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnisses auf der Grundlage der seit Jahrtausenden bestehenden ärztlichen Schweigepflicht. Seit mehreren Jahren werden die Freiheitsrechte der Ärzteschaft eingeschränkt. Staatliche Kontrolle, Budgetierung und Bürokratie bestimmen den Tagesablauf in Arztpraxen. Wir brauchen aber Freiheit und Unabhängigkeit für Entscheidungen im Sinne der Patienten — ohne eine kontrollierende Obrigkeit, die vorschreibt, wie die Bürger nach Kassenlage zu behandeln sind.
Zu allem Übel kommt nun die elektronische Gesundheitskarte (eGK). Was hat ein Chip auf einer Karte mit Vorratsdatenspeicherung und Datensammlungswahn zu tun?
Seit Jahren haben der Staat und die Krankenkassen die Bevölkerung falsch informiert, indem sie behaupten, dass in Zukunft sämtliche Patientendaten auf einer elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden sollen. Die Informations- Industrie verspricht, dass der Bürger seine informationelle Selbstbestimmung erhält. Dies war und ist in Wirklichkeit aber nicht beabsichtigt. Bürger und Ärzte wurden und werden systematisch getäuscht. Diese elektronische Gesundheitskarte wird nur wenige Patientendaten speichern, sie ist jedoch der Schlüssel zu einer gigantischen Vernetzung des Gesundheitswesens über das Internet — mit zentraler Speicherung auf Zentralservern — darunter auch die intimsten Patientendaten. Wichtige Informationen über Gesundheit und Krankheit werden der Obhut der Ärzte entzogen, und die patientenbezogenen Daten verlieren den Schutz durch die ärztliche Schweigepflicht.
Nervenzusammenbruch, AIDS, Alkoholabhängigkeit, Herzkrankheit oder Brustkrebs — demnächst im Internet. Nach Schätzungen werden 2 Millionen Menschen Zugriffsrechte auf dieses System und die Krankheitsdaten haben. Diese sollen bald in Form elektronischer Patientenakten gleich beim Kostenträger Krankenkasse gespeichert werden. So entsteht in naher Zukunft nicht nur der gläserne Patient, sondern auch der gläserne Arzt. Die Versicherten können so in Risikoklassen eingeteilt werden. Kostenintensive Patienten werden leicht ausgemacht, und es kann kontrollierend an den Menschen gespart werden.
Viele Fragen tauchen dabei auf:
Wie lange werden die Daten auf Servern sicher sein?
Wann werden die patientenbezogenen Informationen durch das Internet kursieren?
Kleine Gesetzesänderungen reichen, und der Staatsapparat hat Zugriff auf Patientendaten. Begehrlichkeiten auf diese Informationen gibt es viele, z.B. von Seiten der Versicherungen und Arbeitgeber!
Mit der elektronischen Gesundheitskarte will die politische Klasse das Berufsbild "Arzt" komplett verändern. In Zukunft wird der Arzt zum Datenlieferanten von Patientendaten für kranke Kassen und Versicherungen. Er sitzt am Rechner und verwaltet die Patienten. Die Nähe zum Arzt, das Persönliche, das Empathische wird verloren gehen. Wichtige ärztliche Entscheidungen sollen demnächst an Nicht-Ärzte übertragen werden, nach dem Muster der USA, wo man dies Managed Care nennt, also "gesteuerte Versorgung".
Der Staat betreibt Akzeptanzmarketing für ein neues industrielles Geschäftsfeld. Patientendaten sollen kontrolliert und Patientenströme geleitet werden. Die Industrie — sowohl die IT-Industrie als auch die Gesundheitsindustrie — steht in den Startlöchern, um die bewährte Gesundheitsversorgung in eine "Gesundheitswirtschaft" zu überführen.
Die elektronische Gesundheitskarte hat nicht nur ein Datensicherheitsproblem, sie ist auch das Instrument, mit dem die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung komplett neu geordnet wird. Das Ziel ist die "patientenzentrierte Gesundheitsindustrie".
Für die elektronische Gesundheitskarte gibt es keine Kosten-Nutzen-Analysen. Der Nachweis des medizinischen Vorteils fehlt vollständig. Die versprochenen Verbesserungen werden am Ende teuer von den Bürgern und Patienten — sowohl finanziell als auch mit ihrer Gesundheit — bezahlt.
Nach Artikel 20 Grundgesetz heißt es "Alle Macht geht vom Volk aus" und nicht: "Der Staatsapparat bemächtigt sich des Volkes."
Wer seine Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren.

Martin Grauduszus ist Präsident der Freien Ärzteschaft e.V. und arbeitet als Hausarzt in Erkrath bei Düsseldorf.


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