SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2007, Seite 18

Sozialistische Strategien in Lateinamerika

Spielräume, Akteure und Bedingungen für eine sozialistische Transformation auf dem Kontinent



von Claudio Katz



Nach einigen Jahren Pause gibt es in der lateinamerikanischen Linken wieder Strategiedebatten. Erneut werden Einschätzungen und Vorgehensweisen analysiert, wie das sozialistische Ziel erreicht werden soll. Die Diskussion bezieht sich auf sechs große Themen: die materiellen Bedingungen, das Kräfteverhältnis, die sozialen Akteure, das Massenbewusstsein, die institutionellen Rahmenbedingungen und die Organisierung der Unterdrückten.

Sind die Produktivkräfte reif genug?

Die erste Debatte greift eine klassische Kontroverse auf: Sind die Produktivkräfte in Lateinamerika reif genug, um den Versuch einer sozialistischen Umgestaltung zu unternehmen? Reichen die bestehenden Ressourcen, Technologien und Qualifikationen aus, um einen sozialistischen Prozess in die Wege zu leiten?Die Länder in Lateinamerika sind weniger auf einen solchen Wandel vorbereitet als die entwickelten Nationen, stehen aber unter einem größeren Druck. Ihre Lage in den Bereichen Ernährung, Bildung und Gesundheitsversorgung ist viel katastrophaler, zugleich verfügen sie über weniger materielle Ressourcen, um die Probleme zu lösen. Dieses Paradox ist die Folge von Lateinamerikas peripherer Situation und der daraus resultierenden Rückständigkeit der Landwirtschaft, der bruchstückhaften Industrialisierung und seiner finanziellen Abhängigkeit.
In der Linken gibt es traditionell zwei Antworten auf das Dilemma: Unterstützung eines Schritts hin zu einem fortschrittlichen Kapitalismus, oder Einleitung des Übergangs zu einem Sozialismus, der den unzulänglichen regionalen Bedingungen angepasst ist.
Eine andere ebenso wichtige Debatte betrifft die Aktualität dieses Wegs. Nach dem Ende einer traumatischen Periode des Rückgangs der Produktivität und des Zusammenbruchs der Banken in den 1980er bis 1990er Jahren erlebt Lateinamerika heute eine Phase des Wachstums: die Exporte steigen, die Unternehmerprofite erholen sich. Man könnte einwenden, dass unter diesen Bedingungen kein Kollaps wahrscheinlich ist, der eine antikapitalistische Transformation rechtfertigen würde.
Aber die sozialistische Option ist kein keynesianisches Programm, um rezessiven Markttrends entgegenzutreten. Sie ist ein Weg, um die dem Kapitalismus innewohnende Ausbeutung und Ungleichheit zu überwinden. Sie will Armut und Arbeitslosigkeit beseitigen, Umweltkatastrophen ausrotten, den Alptraum des Krieges beenden und Schluss machen mit den schweren Finanzkrisen, die eine kleine Minderheit von Millionären auf Kosten von Millionen von Menschen reicher machen.
Diese Polarisierung ist derzeit in Lateinamerika offensichtlich. Das Wachstum der Profite und des Konsums der Wohlhabenden steht in einem erschreckenden Kontrast zu Situationen extremer Armut. Am Tiefpunkt einer Rezession ist dies Missverhältnis am krassesten. Aber Situationen des Zusammenbruchs sind nicht der einzige geeignete Moment, um das System zu stürzen. Die antikapitalistische Wende ist eine Option, die jederzeit offen ist und die an verschiedenen Momenten des ökonomischen Zyklus einsetzen kann. Die Erfahrung des 20.Jahrhunderts bestätigt dies.
Keine sozialistische Revolution fiel jemals mit dem Tiefpunkt einer Finanzkrise zusammen. In der Mehrzahl der Fälle brach sie in Folge eines Krieges, kolonialer Besatzung oder diktatorischer Unterdrückung aus. Das waren die Bedingungen, unter denen die Bolschewiki die Macht übernahmen, Mao in China erfolgreich war, Tito in Jugoslawien siegte, die Vietnamesen die USA vertrieben und die kubanische Revolution triumphierte.
Viele von diesen Siegen wurden auf der Höhe des Nachkriegsbooms davongetragen, d.h. in einer Zeit intensiven kapitalistischen Wachstums. Es gibt also keinen Mechanismus, der den Beginn des Sozialismus notwendigerweise an einen ökonomischen Zusammenbruch bindet. Das Elend, das der Kapitalismus hervorruft, reicht in jeder Phase seiner periodischen Fluktuationen aus, um seinen Sturz herbeizuführen.

Globalisierung und kleine Länder

Ein Einwand gegen die Aktualität des Sozialismus betont die Hindernisse, die durch die Globalisierung geschaffen würden. Es wird argumentiert, die gegenwärtige Internationalisierung des Kapitals mache eine antikapitalistische Herausforderung in Lateinamerika unmöglich.
Aber wo genau liegen die Gründe für diesen Einwand? Die Globalisierung stellt kein Hindernis für das sozialistische Projekt dar, denn dies hat eine universelle Reichweite. Sein Wuchern über Grenzen hinaus vergrößert die Ungleichgewichte im Kapitalismus und schafft eine größere objektive Basis für seine Überwindung.
Nur wer den Aufbau des Sozialismus als einen "Wettbewerb zwischen zwei Systemen" begreift, kann in der Globalisierung ein Hindernis sehen. Das ist ein Überbleibsel der Theorie des "sozialistischen Lagers", die von den Anhängern des alten sowjetischen Modells vertreten wurde.
Insbesondere periphere — oder weniger industrialisierte — Ökonomien können jedoch in der Konkurrenz mit imperialistischen Mächten, die den Weltmarkt seit Jahrhunderten kontrollieren, niemals obsiegen. Der Erfolg des Sozialismus verlangt eine Abfolge von mehreren Prozessen, die den globalen Kapitalismus unterminieren. Der Sozialismus in einem einzigen Land (oder einem Block) ist eine Illusion, die wiederholt dazu geführt hat, Möglichkeiten des revolutionären Übergangs den diplomatischen Rivalitäten zweier Blöcke von Nationen unterzuordnen.
Andererseits entspringt die Behauptung, die Globalisierung blockiere die Entwicklung anderer Modelle, auch dem neoliberalen Standpunkt, es gebe keine Alternative zur herrschenden Politik. Wenn man diese Prämisse akzeptiert, muss man aber auch jedes Vorhaben fallen lassen, den Kapitalismus regulieren zu wollen, denn die Durchsetzbarkeit von Regulierungen hängt von der Macht des Nationalstaats ab, sich von außen aufgezwungenen Maßnahmen zu widersetzen.
Manche Theoretiker sehen die Aktualität des Sozialismus im globalen Rahmen, bezweifeln aber seine Machbarkeit in kleinen lateinamerikanischen Ländern. Sie glauben, dass seine Einführung verschoben werden muss. In der Vergangenheit wurde eine solcherart hinausgeschobene Perspektive mit Überlegungen über das Aufkommen einer nationalen Bourgeoisie verbunden, die in der vorsozialistischen Phase bestimmend sein sollte. Heute ist jedoch offensichtlich, dass es in Ländern wie Bolivien mindestens so schwer ist, einen konkurrenzfähigen Kapitalismus zu entwickeln wie Schritte zum Sozialismus einzuleiten. Man muss sich nur vorstellen, welche Zugeständnisse die großen ausländischen Firmen für ihre Duldung oder Beteiligung an einem solchen Projekt verlangen würden und zu welchen Konflikten mit der Mehrheit der Bevölkerungen dies führen würde.

Das Kräfteverhältnis

Das Kräfteverhältnis in Lateinamerika bestimmt sich durch die Positionen, die drei Sektoren gewonnen, gefährdet oder verloren haben: die lokalen Kapitalistenklassen, die Masse der Unterdrückten und der US-Imperialismus. In den 90er Jahren hat das Kapital eine globale Offensive gegen die Arbeiterklasse gestartet. Diese Offensive hat sich in den letzten Jahren abgeschwächt, das internationale Klima ist aber den Lohnarbeitern feindlich geblieben. Trotzdem gibt es in Lateinamerika mehrere Besonderheiten.
Die örtlichen Kapital besitzenden Klassen haben aktiv an der neoliberalen Offensive teilgenommen, haben letztlich aber ebenfalls unter den Nebenwirkungen dieses Prozesses gelitten. Mit der Öffnung der Märkte haben sie Wettbewerbspositionen verloren, und mit der Entstaatlichung des Produktionsapparats mussten sie geschützte Stellungen gegenüber ausländischen Konkurrenten aufgeben. Auch die Finanzkrisen erschütterten das örtliche Establishment und schwächten seine unmittelbare politische Präsenz. Die politische Rechte geriet schließlich in die Minderheit, Mitte-Links-Regierungen haben vielfach konservative Regierungen ersetzt. Die kapitalistischen Eliten bestimmen nicht mehr die Agenda in der gesamten Region. Es hat sie eine Krise des Neoliberalismus befallen, die zu seinem strukturellen Niedergang führen könnte. Größere Volksaufstände, die dem Sturz mehrerer Regierungen vorangingen, haben das regionale Kräfteverhältnis verändert. Aufstände in Bolivien, Ecuador, Argentinien und Venezuela haben Auswirkungen auf alle herrschenden Klassen.
Der kämpferische Impuls ist sehr unterschiedlich. In Bolivien, Venezuela, Argentinien hat das Volk die Initiative übernommen, aber Brasilien und Uruguay hingegen haben Enttäuschungen zu seinem Abebben geführt. Neu ist das Erwachen gewerkschaftlicher und studentischer Kämpfe in Ländern, die das neoliberale Ranking anführen wie Chile, oder in Ländern, die in Folge von sozialer Ungerechtigkeit und Emigration ausbluten wie Mexiko.
Zu Beginn der 90er Jahre begann der US- Imperialismus mit der politischen Rekolonisation seines Hinterhofs mit Hilfe von Freihandel und der Errichtung von Militärbasen. Auch das hat sich geändert. Das Abkommen über eine Amerikanische Freihandelszone ALCA/ FTAA ist in seiner ursprünglichen Fassung gescheitert, weil es Konflikte gab zwischen global operierenden Firmen und solchen, die vom inneren Markt abhängig sind, auch Konflikte zwischen der auf den Binnenmarkt orientierten Industrie, der Exportwirtschaft und einem verbreiteten Volkswiderstand. Das US-Außenministerium hat mit bilateralen Verträgen reagiert, kann den Rückschlag damit jedoch nicht ausgleichen.
Bushs internationale Isolierung lässt ihm wenig Raum für unilaterales Handeln; dadurch sind geopolitische Blöcke wieder aufgekommen, die den USA feindlich gegenüberstehen (wie die Blockfreien). Der Rückzug der USA zeigt sich deutlich am Ausbleiben militärischer Antworten auf die Herausforderung durch Venezuela.

Die sozialen Akteure

Die Träger der sozialistischen Transformation sind die Opfer der kapitalistischen Herrschaft, aber die spezifischen Subjekte dieses Prozesses sind in Lateinamerika sehr verschieden. Mancherorts wie in Ecuador, Bolivien und Mexiko spielten die indigenen Gemeinschaften eine führende Rolle bei den Aufständen. Andernorts (Brasilien, Peru und Paraguay) führten campesinos den Widerstand an. In Argentinien und Uruguay waren die Protagonisten städtische Lohnabhängige, oder in der Karibik und in Zentralamerika prekär Beschäftigte. Auffallend sind die neue Rolle der indigenen Gemeinschaften und der geringere Einfluss der Industriegewerkschaften. Die Vielzahl der gesellschaftlichen Sektoren spiegelt die differenzierte soziale Struktur und die politischen Besonderheiten jedes Landes wider.
In dieser Unterschiedlichkeit zeigt sich auch die Bandbreite der Teilnehmer an einer sozialistischen Umwälzung. Da die Entwicklung des Kapitalismus mit einer Ausweitung der Ausbeutung von Lohnarbeit und der verschiedenen Formen der Unterdrückung einhergeht, sind sämtliche Ausgebeuteten und Unterdrückten potenziell Träger eines sozialistischen Prozesses. Wesentlich ist ihr Zusammenkommen im gemeinsamen Kampf um zentrale, sich immer wieder verändernde Punkte der Rebellion.
Natürlich kommt gewissen Segmenten der Lohnabhängigen eine einflussreichere Rolle zu — wegen des Platzes, den sie in lebenswichtigen Wirtschaftsbranchen einnehmen (Bergbau, Fabriken und Banken). In der gegenwärtigen Phase der wirtschaftlichen Erholung zeigt sich das deutlich. In Argentinien gewinnen die Gewerkschaften wieder an Einfluss auf der Straße — verglichen mit der Rolle, die die Arbeitslosen und die Mittelschicht während der Krise 2001 spielten. In Chile zeigen sich die Auswirkungen der Bergarbeiterstreiks, in Mexiko gewinnen bestimmte Gewerkschaften an Stärke, in Venezuela ist der Einfluss der Arbeiter in der Ölindustrie nach wie vor bedeutend.

Das politische Bewusstsein

Das Bewusstsein der Unterdrückten unterliegt starken Schwankungen. Zwei entgegengesetzte Kräfte beeinflussen seine Entwicklung: die Lehren, welche die Ausgebeuteten aus ihrem Widerstand gegen das Kapital ziehen, und die Entmutigung im Alltag, die das Resultat von Überlebensängsten, drückenden Arbeitsbedingungen und tagtäglicher Entfremdung ist.
Unter bestimmten Bedingungen dominiert die Kritik, in anderen Momenten gewinnt die Resignation die Oberhand. Das hängt von vielen Faktoren ab und prägt die unterschiedlichen Wahrnehmungen des Kapitalismus in den verschiedenen Generationen. Der Großteil der heutigen Jugend ist ohne die Erwartung besserer Arbeitsbedingungen und einer besseren Ausbildung aufgewachsen, die in der Nachkriegszeit vorherrschte, sie sieht in Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit normale Strukturmerkmale des Systems.
Die heutige Generation von Lateinamerikanern ist aber auch nicht, wie ihre Eltern, in einer Zeit von revolutionären Triumphen aufgewachsen. Ihr fehlt ein erfolgeicher antikapitalistischer Bezugspunkt, das erklärt — in Verbindung mit ihren unmittelbaren Erfahrungen — ihre spontan größere Distanz zum sozialistischen Projekt.
Die großen Unterschiede zwischen der jetzigen Periode und der von 1960 bis 1980 liegen mehr auf dieser Ebene des politischen Bewusstseins als im Bereich des Kräfteverhältnisses oder der Verschiebung der sozialen Subjekte. Nicht die Intensität der sozialen Konflikte, die Kampfbereitschaft der Unterdrückten oder die Kontrollmöglichkeiten der Unterdrücker haben sich grundlegend geändert, sondern die Greifbarkeit eines sozialistischen Modells und das Vertrauen darauf.

Die institutionellen Rahmenbedingungen

Die lateinamerikanische Linke sieht sich mit einem relativ neuen strategischen Problem konfrontiert. Zum ersten Mal in der Geschichte der Region regieren die herrschenden Klassen über eine längere Zeit in beinahe jedem Land mit nichtdiktatorischen Institutionen. Nicht einmal ökonomische und politische Zusammenbrüche oder Volksaufstände haben an dieser Regierungsform etwas geändert. Die Rückkehr zur Militärherrschaft ist eine Option, die die Mehrheit der Eliten fallengelassen hat. In den kritischsten Situationen werden alte Präsidenten durch neue Staatschefs mit einer Art zivil- militärischer Übergangsregierung ersetzt, das führt jedoch nicht zur Wiedereinführung von Diktaturen.
In ihrer großen Mehrheit sind die derzeitigen Regime Plutokratien im Dienst der Kapitalisten und haben mit realer Demokratie kaum etwas zu tun. Sie haben soziales Unrecht in einer Größenordnung geschaffen, die viele Diktaturen nicht einmal ansatzweise gewagt hätten. Diese Angriffe haben die Herrschaftssysteme ihrer Legitimität beraubt, aber sie haben nicht dazu geführt, dass die Menschen die verfassungsmäßige Ordnung ablehnen, so wie sie die alten Tyranneien abgelehnt haben.
Dieser Wandel in der Form kapitalistischer Machtausübung hat widersprüchliche Auswirkungen auf das Handeln der lateinamerikanischen Linken. Auf der einen Seite erweitert er ihre Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund bürgerlicher Freiheiten. Auf der anderen Seite wird damit auch ein institutioneller Rahmen geschaffen, dem Vertrauen entgegengebracht wird. Ein Regime, das die Macht der Unterdrücker zugleich begrenzt und konsolidiert, bedeutet eine große Herausforderung für die Linke, insbesondere wenn diese Struktur von der Mehrheit der Bevölkerung als der natürliche modus operandi einer modernen Gesellschaft betrachtet wird.
Diese Haltung wird von der Rechten befördert, die weiterhin in einem verfassungsmäßigen Rahmen operiert, aber auch von den Mitte-Links-Parteien, die den Status quo der Klassenherrschaft aufrechterhalten und ihn mit einem fortschrittlichen Schein versehen. Beide Seiten arbeiten mit falschen Polarisierungen um zu verbergen, dass an den Spitzen der politischen Macht nur Figuren ausgewechselt werden.
Ein aktuelles Beispiel für diese wechselseitige Ergänzung ist die "moderne und zivilisierte Linke", die mit Lula, Tabaré oder Bachelet an die Regierung gekommen ist, um die Herrschaft des Kapitals fortzusetzen. Andere Situationen sind problematischer, weil die institutionelle Kontinuität durch Wahlbetrug (Mexiko) oder durch den Rücktritt des Präsidenten (Bolivien, Ecuador, Argentinien) gebrochen wurde. In manchen Fällen endete dieser Umbruch mit der Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung (Kirchner). In anderen Ländern führte die Krise zur unerwarteten Regierungsübernahme durch linksnationalistische oder radikalreformistische Präsidenten. Dies ist der Fall bei Hugo Chávez und Evo Morales und möglicherweise auch bei Rafael Correa.
In all diesen Prozessen bildeten Wahlen einen Ort des Kampfes gegen die Reaktion und den Ausgangspunkt für radikale Reformen. Diese Schlussfolgerung ist für die Linke außerordentlich wichtig. Man darf nicht vergessen, dass in Venezuela z.B. jede Wahl von 1998 bis heute die Legitimität des bolivarianischen Prozesses bestätigt hat. Die Wahlen haben den Sieg der Massenmobilisierungen ergänzt.

Die Organisierung der Unterdrückten

Der verfassungsmäßige Rahmen verändert den Kurs linker Aktivitäten erheblich. Über Jahrzehnte haben sich diese gegen Militärdiktaturen gerichtet. Unter den jetzigen Bedingungen ist der Kampf nicht einfach, denn der Institutionalismus ermöglicht verschiedene Formen der bürgerlichen Herrschaft. Der Wandel der Formen wirkt auf eine Generation von Aktivisten, die gewohnt waren, gegen einen sehr brutalen, aber unzweideutigen diktatorischen Gegner zu kämpfen, zunächst verwirrend. Einige Aktivisten wurden von diesen Schwierigkeiten demoralisiert und haben die Vorwürfe der Rechten schließlich internalisiert. Sie haben begonnen, sich selbst zu beschuldigen, sie hätten früher die Demokratie unterschätzt, und dabei vergessen, dass die bürgerlichen Freiheiten eine Errungenschaft ihres Widerstands waren.
Andere proklamieren das Ende der "revolutionären Utopie" und den Beginn einer neuen Ära von allmählichen Schritten in eine nachkapitalistische Zukunft. Sie kehren zu einem gradualistischen Programm zurück und schlagen vor, den Weg zum Sozialismus gestützt auf einen Anfangskonsens mit den Unterdrückern einzuschlagen. Auf diese Weise sollen die arbeitenden Menschen in eine hegemoniale Position gebracht werden.
Die Erfahrungen mit der Sozialdemokratie haben jedoch gezeigt, dass diese Option unrealistisch ist. Die herrschenden Klassen geben die Macht nicht ab. Sie kooptieren lediglich Partner, um die Säulen ihrer Herrschaft wieder herzustellen, die auf dem Privatbesitz an den großen Banken und Unternehmen beruht. Sie werden niemals erlauben, dass sie durch das politische oder kulturelle Gewicht ihrer Gegner untergraben wird.
Aus diesem Grund endet jede Politik, die das antikapitalistische Ziel auf den Sanktnimmerleinstag hinausschiebt, in einer Verstärkung der Unterdrückung. Der Weg zum Sozialismus verlangt die Vorbereitung und Durchführung von antikapitalistischen Brüchen. Wenn man dieses Prinzip vergisst, bekommt die Strategie der Linken keine Richtung.
Die Auseinandersetzung mit dem Konstitutionalismus hatte in den letzten Jahren allerdings auch positive Effekte. Sie hat z.B. in der Linken eine Debatte über die Form ermöglicht, die eine wirkliche Demokratie unter sozialistischen Vorzeichen annehmen kann. Daraufhin hat sich das Verständnis von der antikapitalistischen Perspektive erheblich gewandelt. In den 70er Jahren war Demokratie ein Thema, das die Kritiker der sowjetischen Bürokratie vermieden oder kaum thematisierten. Jetzt kommt kaum jemand um dieses Problem herum. Man hat aufgehört, sich den Sozialismus als eine Verlängerung der Tyrannei vorzustellen, die in der Sowjetunion herrschte, und man beginnt, ihn als ein Regime zu verstehen, in dem es mehr Beteiligung, mehr Repräsentation und mehr öffentliche Kontrolle gibt.
Die Zukunft hängt davon ab, dass auf den Konstitutionalismus eine rasche Antwort gefunden wird. Zwei Positionen sind auf der Linken vorherrschend: Die eine schlägt vor, Räume in den Institutionen zu besetzen, die andere tritt für den Aufbau paralleler Organe der Volksmacht ein. Der erste Weg führt von Erfahrungen mit Kommunalregierungen zur Provinzebene und schließlich in die nationale Regierung (das ist der Weg der brasilianischen PT und der Frente Amplio in Uruguay in den frühen 90er Jahren). Seine Verfechter geben zu, dass dabei bittere Zugeständnisse an das Establishment gemacht werden mussten, betrachten das Endergebnis aber positiv.
Ohne Zweifel hat der "kommunale Sozialismus" alte Aktivisten zu Vertrauensleuten des Kapitals gemacht. Sie debattieren in den Rathäusern, stehen sozialen Bewegungen feindlich gegenüber und enden schließlich damit, im Interesse der herrschenden Klasse zu regieren. Zuerst fahren sie ihre Programme zurück, dann rufen sie zur Übernahme von Verantwortung auf, und schließlich wechseln sie die Seiten.
Der Beteiligungshaushalt konnte dieser Regression nichts entgegensetzen. Die Diskussion über die Verteilung lokaler Ausgaben, führt, wenn sie durch die Zwänge einer neoliberalen Politik begrenzt werden, zur Selbsteinschränkung der Bevölkerung.
Eine entgegengesetzte Strategie ermutigt soziale Mobilisierung und lehnt die Beteiligung an Wahlen ab. Sie klagt die Korruptheit der PT oder die Passivität der Frente Amplio an und tritt für den direkten Kampf um die Volksmacht ein.
Diese Sichtweise ignoriert den Einfluss von Wahlen und spielt die negativen Folgen davon herunter. Bürgerrechte, Stimm- und Wahlrecht sind Errungenschaften, die gegen die Diktaturen durchgesetzt worden sind. Wären Wahlen nur Betrug, könnten sie nicht die fortschrittliche Rolle spielen, die sie bspw. in Venezuela gespielt haben.
Es ist ein falsches Dilemma, die Spielregeln des Konstitutionalismus entweder zu akzeptieren oder zu ignorieren. Dazu gibt es einen dritten Weg, der machbar ist: die direkte Aktion muss mit der Teilnahme an Wahlen kombiniert werden. Dadurch lassen sich Volksaufstände — die für jeden revolutionären Prozess notwendig sind — mit einem Prozess des Heranreifens von sozialistischem Bewusstsein im Rahmen konstitutioneller Politik verbinden.

Stark gekürzt aus: www.lahaine.org (Übersetzung: Harald Etzbach). Eine englische Fassung erschien in Monthly Review, September 2007.

Claudio Katz ist Professor für Ökonomie an der Universität von Buenos Aires, Forscher am Consejo Nacional de Investigaciones Científicas y Técnicas (Conicet) und Mitglied von Economistas de Izquierda (EDI).




Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang