SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2007, Seite 20

Venezuela

Was ist neu an der neuen Verfassung?

von Harald Etzbach

Anfang November verabschiedete die venezolanische Nationalversammlung mit einigen Änderungen die von Präsident Chávez vorgeschlagene Reform der Verfassung von 1999. Seither hat es große Mobilisierungen von Befürwortern und Gegnern der Reform gegeben, denn am 2.Dezember soll in einer Volksabstimmung endgültig über das Projekt entschieden werden. Die bürgerlichen Medien sehen Venezuela auf dem Weg zu einer autoritären Diktatur, Präsident Chávez sieht in der Reform einen weiteren Schritt in Richtung eines bolivarianischen Sozialismus.Die von Chávez vorgeschlagenen Verfassungsreformen lassen sich mehr oder weniger in drei Komplexe einteilen: eine weitreichende politische und ökonomische Demokratisierung, eine Stärkung der Exekutive bei gleichzeitiger Schwächung der entsprechenden Kontrollinstanzen und schließlich eine teilweise Neudefinition der Rolle der Streitkräfte und eine stärkere Betonung ihrer Rolle im bolivarianischen Prozess.
Ein bedeutender Teil der Vorschläge zielt ohne Zweifel auf den Aufbau einer demokratischeren und gerechteren Gesellschaft. So legt etwa Artikel 70 eine aktive und bestimmende Rolle des Volkes beim "Aufbau des Sozialismus" fest und bestimmt die Errichtung von Rätestrukturen (kommunale Räte, Arbeiter-, Studierenden-, Bauernräte und andere). Unternehmen in direktem oder indirektem gesellschaftlichen Eigentum sollen demokratisch durch die Beschäftigten geleitet werden.
Artikel 87 regelt das Recht und die Pflicht zur Arbeit, verpflichtet den Staat aber auch, existenzsichernde Arbeit für alle unter Einhaltung von Sicherheits-, Hygiene- und Umweltbestimmungen zu schaffen. Für nicht abhängig beschäftigte Arbeiterinnen und Arbeiter wie Taxifahrer oder Handwerker aber auch Hausangestellte und Hausfrauen soll ein Sicherungsfonds eingerichtet werden, damit auch diese Rentenzahlungen, Mutterschutz usw. erhalten.
Artikel 90 begrenzt die tägliche Arbeitszeit auf 6 und die Wochenarbeitszeit auf 36 Stunden. Artikel 100 erkennt die kulturelle Vielfalt Venezuelas an. Im Gegensatz zur Verfassung von 1999 wird hierbei auch ausdrücklich die afro- venezolanische Kultur genannt.
Artikel 112 verpflichtet den Staat zur Entwicklung eines unabhängigen ökonomisch-produktiven Modells auf der Basis von Kooperation und des Vorrangs der Gemeinschafts- gegenüber individuellen Interessen, Monopolbildung und Großgrundbesitz sind verboten (Art.113 und 307). Artikel 115 erkennt verschiedene Eigentumsformen an und erlaubt es dem Staat, wenn dies im öffentlichen Interesse ist und nach einem entsprechenden Gerichtsurteil, Güter gegen Zahlung einer Entschädigung zu enteignen.
Andere Bestimmungen betreffen die Verpflichtung zur Förderung und Entwicklung der Agrarökologie und zur Ernährungssicherung und -souveränität. Der Staat behält sich schließlich die Kontrolle über die Kohlenwasserstoffindustrie vor; die Verarbeitung im Land selbst soll gefördert werden (Art.302).
Ein großes Problem besteht darin, dass diese begrüßenswerten radikaldemokratischen Reformen mit einer deutlichen Stärkung der Exekutivgewalt verbunden sind. So bestimmt etwa Artikel 225, dass der Präsident nicht nur den Ersten Vizepräsidenten, sondern auch weitere Vizepräsidenten nach eigenem Ermessen ernennen darf. Besonders problematisch ist jedoch Artikel 230, der eine siebenjährige Amtszeit des Präsidenten und zugleich eine unbegrenzte Möglichkeit zu Wiederwahl vorsieht. Bisher betrug die Amtszeit des Präsidenten sechs Jahre, und eine Wiederwahl war nur ein einziges Mal möglich.
Außerdem soll der Präsident künftig die Leitung des Staatsrats, des obersten Beratungsorgans des Staates übernehmen (Art.252). Bisher war dies die Aufgabe des Vizepräsidenten. Auch die Ernennung der Mitglieder dieses Gremiums soll künftig in den Händen des Präsidenten liegen.
Dass die bisherige Unabhängigkeit der Zentralbank aufgehoben wird (Art.318) ist ein Schritt in die richtige Richtung, doch dient auch dieser der Stärkung der Stellung des Präsidenten. Denn zukünftig sollen Exekutive und Zentralbank gemeinsam über die Währungspolitik des Landes bestimmen. Über die Höhe der nationalen Währungsreserven soll der Präsident sogar alleine entscheiden können. Eine Oberaufsicht etwa der Nationalversammlung oder eines anderen gewählten Gremiums ist nicht vorgesehen.
Weiterhin soll der Präsident künftig die Autoritäten von Bundesprovinzen, Bundesterritorien und Bundesstädten ernennen und sog. "Strategische Verteidigungsregionen" einrichten dürfen (Art.236 und Art.11).
Artikel 321 des Reformentwurfs beschreibt die bolivarianischen Streitkräfte als patriotisches und antiimperialistisches Instrument des Volkes, das niemals einer Oligarchie oder ausländischen Macht dienen soll. Sie seien verpflichtet, die Freiheit des Heimatlandes zu garantieren und die sozialen Garantien zu verteidigen.
Zugleich soll die für die innere Sicherheit zuständige Nationalgarde Teil des Militärs werden (Art.329). Diese primär politische Definition des Militärs steht in einem deutlichen Kontrast zum Verfassungstext von 1999, der in den entsprechenden Passagen nüchtern und technisch blieb.
Die politische Aufwertung des Militärs in der Verfassung wird verständlich, wenn man seine durchaus positive Funktion im bolivarianischen Prozess betrachtet. So spielten die Streitkräfte eine wichtige Rolle sowohl in der Abwehr des Staatsstreichsversuchs von 2002 als auch bei der Umsetzung von sozialen Programmen, während große Teile der Verwaltung diese eher blockieren.
Weitaus problematischer ist die enorme Stärkung der Exekutive durch die Verfassungsreform. Chávez selbst hat zwar bisher keine Neigung gezeigt, seine Macht zu persönlichen Zwecken zu missbrauchen. Im Gegenteil, in den letzten Jahren war es oftmals der Präsident, der den revolutionären demokratischen Prozess vorangetrieben hat. Im Gegensatz zu dem, was die internationalen Mainstreammedien behaupten, steht Venezuela also keineswegs davor, eine Militärdiktatur zu werden.
Trotzdem ist auch jenseits der Opposition der alten venezolanischen Eliten eine Kritik von links an der Verfassungsreform möglich und notwendig, und von Teilen der sozialen Bewegungen und der Gewerkschaften wird sie auch formuliert. Die Formulierung eines sozialistischen Ziels kann kein Freibrief für die Etablierung unkontrollierbarer Machtzentren sein. Insofern gibt es auch keinen zwingenden Zusammenhang zwischen den demokratischen Umstrukturierungen, die der Verfassungsentwurf vorsieht, und der Stärkung des Präsidentenamts.
Wenn die Verfassungsänderungen — was wahrscheinlich ist — Anfang Dezember in einer Volksabstimmung angenommen werden, wird die Debatte hierüber auch danach weitergehen. Je breiter und demokratischer eine solche Debatte organisiert wird, umso mehr wird sie die revolutionären Veränderungen in Venezuela vorantreiben können und umso mehr wird sie auch jenen Kräften der alten Eliten das Wasser abgraben könne, für die "Demokratisierung" lediglich die Bewahrung der eignen Privilegien bedeutet.


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