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Die Versuche, Freud und Marx, die Psychologie des Unbewussten und die Theorie der
kapitalistischen Entwicklung miteinander ins Gespräch zu bringen, weisen zurück auf den Psychoanalytiker
Wilhelm Reich (18971957). Die "Kombination" beider Theorien deren Aktualität auch von anderen
Zeitgenossen (Erich Fromm, Otto Fenichel) gesehen und von Siegfried Bernfeld, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in
einer Weise konzipiert wurde, die über die von Reich gebotenen Problemlösungsformeln weit hinausging war
sein Thema.Die Psychoanalyse und die psychoanalytisch beeinflusste Sozialisationsforschung indizieren, dass die
Marxsche Theorie der Produktionsweisen und ihrer Veränderung keineswegs eine Theorie der Sozialisation
erübrigt oder schon impliziert, vielmehr auf eine gegenwärtig erst in Bildung begriffene kritische Theorie der
Individualität angewiesen ist. Deren Relevanz für die Theorie der Revolution, erst recht aber für eine
Theorie der verzögerten, niedergeschlagenen oder verratenen Revolutionen, steht außer Frage.
Reichs spezifische Leistung war es, die arbeitsteilig
getrennt gehaltenen Sphären der psychoanalytischen Therapie und des politischen Handelns durch kühne und
gewaltsame Synthesen miteinander zu verbinden. Seine Schriften sind zentriert um eine Reihe von glücklichen
Einfällen autodidaktisch unbekümmerte Gewaltstreiche gegen wahrhaft gordische Problemknoten. Er hatte
eine verhängnisvolle Neigung, seine Funde vorschnell zu generalisieren und seine Lösungen zu dogmatisieren.
Dass ihm seine Gedanken sogleich zu handlichen Formeln gerannen, hinderte ihn an der Entfaltung einer wirklich
gegenstandsadäquaten, differenzierten Theorie. Auf theoretischem Felde blieb er darum ein brillanter Pamphletist und
Säbelfechter.
Der Keim, aus dem sich all seine Ideen und Entdeckungen
mit zwingender Logik entwickelten, war seine Trieb- und Orgasmustheorie: eine konsequente naturalistische Umdeutung der
Psychoanalyse. Freuds Anthropologie zufolge ist der Mensch ein disharmonisches Wesen, weder mit der äußeren
Natur, noch mit seinesgleichen, noch mit sich selbst im Einklang; seine Triebe luxurieren (wuchern, schäumen
über), die Aneignung (Verinnerlichung) der kulturellen Tradition muss instinktive Verhaltensregulationen
"ersetzen". Erst ein im Sozialisationsprozess aufgebautes "Hemmungsorgan", der psychische
Reizbewältigungsapparat, erst das Erlernen des sprachlich gebundenen gedanklichen Probehandelns, erst der Aufbau
einer Identität im Umgang mit dem mütterlichen Hilfs-Ich und anderen Personen auf der Familienbühne macht
Menschen überlebensfähig. Ihre organische Ausstattung treibt die Gattung auf die Bahn der Geschichte, auf den
Weg der Selbstdomestikation, des "Kulturfortschritts". Die Sphäre, worin die Probleme des
gegenwärtigen Zeitalters eine Lösung finden können, ist darum für Freud (wie für Marx) die
Sphäre von Arbeit, Reflexion und Klassenkampf.
Anders bei Reich: Die menschliche Gattung erscheint ihm
ebenso wie alle anderen Lebewesen als harmonisch in die Natur eingehängt. Die psychosexuelle Entwicklung der
Individuen ist nicht die verkürzte Rekapitulation (prä-)historischer Kollektiverfahrungen, sondern folgt
sofern nicht durch Herrschaftsinteressen irritiert selbstregulativ einem Naturschema. Die Freudsche
Revolutionierung der Sexualtheorie die Relativierung der Genitalität durch Rehabilitierung der Partialtriebe
hat Reich rückgängig gemacht. Schon 1927 vertrat er im Gegensatz zu Freud, Otto Rank und Sándor
Ferenczi die These vom "autochthonen" Charakter der genitalen Stufe der psychosexuellen Entwicklung und wandte
sich gegen ein Hineintragen von "Sinn"-Fragen in "rein" biologische Zusammenhänge. Beim Gesunden
sei die Genitalität der Erbe, nicht der Konkurrent der Partialtriebe.
Neurose war ihm gleichbedeutend mit Verlust der
"orgastischen Potenz", Gesundheit wurde mit der Fähigkeit zu orgiastischer Regression gleichgesetzt. Zum
physiologisch definierten "Glück" erfand er die Technik, es wiederherzustellen, wie immer die
Lebensgeschichte, wie immer die soziale Situation seiner Patienten beschaffen sein mochten. Der Übergang von den
matriarchalisch organisierten Urgemeinschaften zu den patriarchalischen Klassengesellschaften, die Entstehung von
Privateigentum, Familie und Staat galt Reich als ein folgenschwerer Abfall von "Natur" (nämlich vom
"Naturgesetz" der genitalen Befriedigung). Deutete Freud Kultur als progressiven Triebverzicht, so erschien
Reich Gesellschaft als Unnatur: Die seitherige Geschichte ist demnach eine Krankheitsgeschichte, eine Historie
zunehmender Dekadenz, deren späteste Symptome Krebs und Faschismus sind. Nur wenn die Menschen ihr Leben wieder
naturgemäß einrichten, sich dem Viertakt der "Lebensformel" (Spannung Ladung Entladung
Entspannung) ungehemmt und reflexionslos überlassen und ihre sozialen Einrichtungen bedürfniskonform
reorganisieren, werden die Plagen, die über sie gekommen sind, schwinden.
Reichs marxistische Phase die Jahre
19271937, in denen er den dialektischen und historischen Materialismus (in einer ebenfalls naturalistischen
Version) als Überbau oder Seitenstück zu Charakteranalyse, Sexualökonomie und Sexualpolitik akzeptierte
und im Rahmen von KPÖ und KPD politisch aktiv war hat für die Ausgestaltung seiner Theorien die Folge
gehabt, den Triumph der biologistischen Tendenz hinauszuzögern. Die Orientierung an marxistischen Theoremen schuf
ein Spannungsfeld, in dem Reichs interessanteste Arbeiten entstanden. Seine Erfahrung mit der stalinistischen KPD
die Reichs sexualpolitisch-organisatorische Arbeit sehr bald als Gefährdung ihrer Jugendarbeit untersagte und ihn
ausschloss, als er im Oktober 1933 (also noch ehe das parteioffiziell eingestanden wurde) die das Schicksal der
Kommunistischen Internationale besiegelnde kampflose Niederlage in Deutschland als solche bezeichnete und mit seinen
Mitteln zu analysieren versuchte führte ihn schließlich zur Abkehr von jedweder (Partei-)
Politik. An die Stelle der kleinen anarchokommunistischen
Sexpol-Organisation, deren klare politische Stimme in Reichs Zeitschrift für Politische Psychologie und
Sexualökonomie (Kopenhagen 19341938) noch einige Jahre lang zu hören war und die sich durch
Unbestechlichkeit in der Beurteilung der Komintern-Politik, der Moskauer Schauprozesse und des Spanischen
Bürgerkriegs auszeichnete, trat das Orgon-Institut, das unter anderem auch Reichs anarchistisch-libertäre
Traktate über "Arbeitsdemokratie" und "Selbstbefreiung" publizierte.
Reich war nicht nur "sympathisierender
Intellektueller", sondern aktives Mitglied der KPÖ und der KPD, beteiligte sich an Demonstrationen und an
riskanteren politischen Unternehmungen, ehe er in den Jahren 1931/32 seine sexualpolitische Arbeit im Rahmen der KPD-
Kultur- und Jugendorganisation in großem Stil realisieren konnte. Seine Massenpsychologie des Faschismus (1933)
blieb für Jahre der einzige Versuch eines psychoanalytischen Psychologen, das Phänomen der zur Zerschlagung der
organisierten Arbeiterbewegung eingesetzten kleinbürgerlichen Massenbewegung sowie die Funktion der faschistischen
Propaganda und Kulturpolitik sozialpsychologisch zu deuten.
Die Politik von KPD und Komintern ließ Reich
außer Kritik. Er wandte sich lediglich gegen deren propagandistisch-agitatorische Umsetzung, gegen den
(ökonomistischen) "marxistischen Rationalismus". Sein Ziel war es, die Kluft zwischen dem
Klassenbewusstsein der Avantgarde und dem der Arbeitermassen durch Artikulation und Politisierung der
Alltagsbedürfnisse und -sehnsüchte dieser Massen zu schließen sie durch Propagierung einer
sexualpolitischen "Gegenideologie" zum Faschismus der politischen Passivität zu entreißen. Eine
solche Konkretisierung der kommunistischen Propaganda hätte die Anziehungskraft der kommunistischen
Parteiorganisation ohne Zweifel zunächst gesteigert, zugleich aber hätte die neue Spontaneität der
Jugendorganisation das reibungslose Funktionieren des bürokratisch-zentralistischen Apparats (und dessen politische
"Linie") gefährdet. So wenig Reich jedoch die Genesis der bürokratischen Diktatur verstand, so wenig
vermochte er, einen Ausweg aus dem Stalinismus zu konzipieren, den er schließlich als "roten Faschismus"
dem braunen gleichsetzte und der weltbeherrschenden "Gefühlspest" als ein weiteres Symptom subsumierte.
Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) hat
Reich auf Betreiben Freuds, der in ihm einen "bolschewistischen Angreifer" sah, schon 1933 insgeheim
ausgeschlossen; 1934 hat die psychoanalytische Internationale (IPV) den Ausschluss dann bestätigt. Man sah in Reich
ein politisches Risiko. Freud hoffte, durch die Trennung von Reich die organisierte Psychoanalyse vielleicht vor der
Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime in Deutschland bewahren zu können. Der "Bolschewismus"
Reichs bestand im Wesentlichen darin, die Freudsche Kulturkritik historisch zu spezifizieren, oder eben:
Psychologie und Soziologie zusammenzuführen. Und es ist Reichs Verdienst, früher und klarer als andere
Psychoanalytiker gesehen und ausgesprochen zu haben, dass die Nazis die Freudsche Psychoanalyse (in ihren Augen
eine "jüdische", "zersetzende" Wissenschaft) unter keinen Umständen tolerieren würden.
Fünfzig Jahre, nachdem seine (späten) Schriften
in den USA infolge einer Verurteilung wegen Quacksalberei tonnenweise vernichtet wurden, und vierzig Jahre, nachdem seine
frühen Schriften als Raubdrucke die antiautoritäre Studenten- und Jugendbewegung inspirierten,
sind die meisten seiner Bücher freilich in Gestalt von terminologisch gereinigten, von Marxismen
gesäuberten Ausgaben letzter Hand im Handel erhältlich, und es erscheinen noch immer neue Reich-
Biografien und Monografien. Die Faszination aber, die noch vor vierzig Jahren von dem Mann und seinen Schriften ausging,
scheint erloschen; die skurrilen Züge dieses Freudo-Marxisten sind deutlicher präsent. Die Sexualökonomie
unserer Gesellschaft hat sich seit den 60er Jahren nicht nur infolge der Anti-Baby-Pille und der Aids-Seuche
verändert; die heutige sexuelle Emanzipationsbewegung kämpft für weitergehende Ziele als die
Sexpol-Bewegung von vor siebzig Jahren; die Erforschung der sexuellen Funktion und der sozialen Definition der beiden
Geschlechter, ihrer Mischformen und Spielarten, hat zu anderen Resultaten geführt, als Reich sie seiner
Orgasmustheorie zugrunde legte.
Reich steht vor uns als ein revolutionärer Arzt und
wunderlicher Naturforscher, der in einer historischen Situation, in welcher der gesellschaftliche Fortschritt durch
Faschismus und Stalinismus blockiert schien, an den Praxis-Theorien Psychoanalyse und Marxismus, wie er sie verstand,
verzweifelte. Er lehrte das angstfreie Jasagen zu unseren (hetero)sexuellen Bedürfnissen und die Verachtung für
die autoritären Verteidiger der Unfreiheit. Die Lösung des historischen Problems der Überwindung einer
Gesellschaft, in der Mangel und Herrschaft künstlich aufrechterhalten werden, suchte er (vergeblich) in der
geschichtsfernen, imaginären Region bloßer Natur.
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