SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2007, Seite 32

Wilhelm Reich (1897—1957)

Gesellschaftliche Befreiung durch befreite Sexualität

von Helmut Dahmer

Die Versuche, Freud und Marx, die Psychologie des Unbewussten und die Theorie der kapitalistischen Entwicklung miteinander ins Gespräch zu bringen, weisen zurück auf den Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897—1957). Die "Kombination" beider Theorien — deren Aktualität auch von anderen Zeitgenossen (Erich Fromm, Otto Fenichel) gesehen und von Siegfried Bernfeld, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in einer Weise konzipiert wurde, die über die von Reich gebotenen Problemlösungsformeln weit hinausging — war sein Thema.Die Psychoanalyse und die psychoanalytisch beeinflusste Sozialisationsforschung indizieren, dass die Marx‘sche Theorie der Produktionsweisen und ihrer Veränderung keineswegs eine Theorie der Sozialisation erübrigt oder schon impliziert, vielmehr auf eine gegenwärtig erst in Bildung begriffene kritische Theorie der Individualität angewiesen ist. Deren Relevanz für die Theorie der Revolution, erst recht aber für eine Theorie der verzögerten, niedergeschlagenen oder verratenen Revolutionen, steht außer Frage.
Reichs spezifische Leistung war es, die arbeitsteilig getrennt gehaltenen Sphären der psychoanalytischen Therapie und des politischen Handelns durch kühne — und gewaltsame — Synthesen miteinander zu verbinden. Seine Schriften sind zentriert um eine Reihe von glücklichen Einfällen — autodidaktisch unbekümmerte Gewaltstreiche gegen wahrhaft gordische Problemknoten. Er hatte eine verhängnisvolle Neigung, seine Funde vorschnell zu generalisieren und seine Lösungen zu dogmatisieren. Dass ihm seine Gedanken sogleich zu handlichen Formeln gerannen, hinderte ihn an der Entfaltung einer wirklich gegenstandsadäquaten, differenzierten Theorie. Auf theoretischem Felde blieb er darum ein brillanter Pamphletist und Säbelfechter.
Der Keim, aus dem sich all seine Ideen und Entdeckungen mit zwingender Logik entwickelten, war seine Trieb- und Orgasmustheorie: eine konsequente naturalistische Umdeutung der Psychoanalyse. Freuds Anthropologie zufolge ist der Mensch ein disharmonisches Wesen, weder mit der äußeren Natur, noch mit seinesgleichen, noch mit sich selbst im Einklang; seine Triebe luxurieren (wuchern, schäumen über), die Aneignung (Verinnerlichung) der kulturellen Tradition muss instinktive Verhaltensregulationen "ersetzen". Erst ein im Sozialisationsprozess aufgebautes "Hemmungsorgan", der psychische Reizbewältigungsapparat, erst das Erlernen des sprachlich gebundenen gedanklichen Probehandelns, erst der Aufbau einer Identität im Umgang mit dem mütterlichen Hilfs-Ich und anderen Personen auf der Familienbühne macht Menschen überlebensfähig. Ihre organische Ausstattung treibt die Gattung auf die Bahn der Geschichte, auf den Weg der Selbstdomestikation, des "Kulturfortschritts". Die Sphäre, worin die Probleme des gegenwärtigen Zeitalters eine Lösung finden können, ist darum für Freud (wie für Marx) die Sphäre von Arbeit, Reflexion und Klassenkampf.
Anders bei Reich: Die menschliche Gattung erscheint ihm ebenso wie alle anderen Lebewesen als harmonisch in die Natur eingehängt. Die psychosexuelle Entwicklung der Individuen ist nicht die verkürzte Rekapitulation (prä-)historischer Kollektiverfahrungen, sondern folgt — sofern nicht durch Herrschaftsinteressen irritiert — selbstregulativ einem Naturschema. Die Freud‘sche Revolutionierung der Sexualtheorie — die Relativierung der Genitalität durch Rehabilitierung der Partialtriebe — hat Reich rückgängig gemacht. Schon 1927 vertrat er im Gegensatz zu Freud, Otto Rank und Sándor Ferenczi die These vom "autochthonen" Charakter der genitalen Stufe der psychosexuellen Entwicklung und wandte sich gegen ein Hineintragen von "Sinn"-Fragen in "rein" biologische Zusammenhänge. Beim Gesunden sei die Genitalität der Erbe, nicht der Konkurrent der Partialtriebe.
Neurose war ihm gleichbedeutend mit Verlust der "orgastischen Potenz", Gesundheit wurde mit der Fähigkeit zu orgiastischer Regression gleichgesetzt. Zum physiologisch definierten "Glück" erfand er die Technik, es wiederherzustellen, wie immer die Lebensgeschichte, wie immer die soziale Situation seiner Patienten beschaffen sein mochten. Der Übergang von den matriarchalisch organisierten Urgemeinschaften zu den patriarchalischen Klassengesellschaften, die Entstehung von Privateigentum, Familie und Staat galt Reich als ein folgenschwerer Abfall von "Natur" (nämlich vom "Naturgesetz" der genitalen Befriedigung). Deutete Freud Kultur als progressiven Triebverzicht, so erschien Reich Gesellschaft als Unnatur: Die seitherige Geschichte ist demnach eine Krankheitsgeschichte, eine Historie zunehmender Dekadenz, deren späteste Symptome Krebs und Faschismus sind. Nur wenn die Menschen ihr Leben wieder naturgemäß einrichten, sich dem Viertakt der "Lebensformel" (Spannung — Ladung — Entladung — Entspannung) ungehemmt und reflexionslos überlassen und ihre sozialen Einrichtungen bedürfniskonform reorganisieren, werden die Plagen, die über sie gekommen sind, schwinden.
Reichs marxistische Phase — die Jahre 1927—1937, in denen er den dialektischen und historischen Materialismus (in einer ebenfalls naturalistischen Version) als Überbau oder Seitenstück zu Charakteranalyse, Sexualökonomie und Sexualpolitik akzeptierte und im Rahmen von KPÖ und KPD politisch aktiv war — hat für die Ausgestaltung seiner Theorien die Folge gehabt, den Triumph der biologistischen Tendenz hinauszuzögern. Die Orientierung an marxistischen Theoremen schuf ein Spannungsfeld, in dem Reichs interessanteste Arbeiten entstanden. Seine Erfahrung mit der stalinistischen KPD — die Reichs sexualpolitisch-organisatorische Arbeit sehr bald als Gefährdung ihrer Jugendarbeit untersagte und ihn ausschloss, als er im Oktober 1933 (also noch ehe das parteioffiziell eingestanden wurde) die das Schicksal der Kommunistischen Internationale besiegelnde kampflose Niederlage in Deutschland als solche bezeichnete und mit seinen Mitteln zu analysieren versuchte — führte ihn schließlich zur Abkehr von jedweder (Partei-)
Politik. An die Stelle der kleinen anarchokommunistischen Sexpol-Organisation, deren klare politische Stimme in Reichs Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie (Kopenhagen 1934—1938) noch einige Jahre lang zu hören war und die sich durch Unbestechlichkeit in der Beurteilung der Komintern-Politik, der Moskauer Schauprozesse und des Spanischen Bürgerkriegs auszeichnete, trat das Orgon-Institut, das unter anderem auch Reichs anarchistisch-libertäre Traktate über "Arbeitsdemokratie" und "Selbstbefreiung" publizierte.
Reich war nicht nur "sympathisierender Intellektueller", sondern aktives Mitglied der KPÖ und der KPD, beteiligte sich an Demonstrationen und an riskanteren politischen Unternehmungen, ehe er in den Jahren 1931/32 seine sexualpolitische Arbeit im Rahmen der KPD- Kultur- und Jugendorganisation in großem Stil realisieren konnte. Seine Massenpsychologie des Faschismus (1933) blieb für Jahre der einzige Versuch eines psychoanalytischen Psychologen, das Phänomen der zur Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung eingesetzten kleinbürgerlichen Massenbewegung sowie die Funktion der faschistischen Propaganda und Kulturpolitik sozialpsychologisch zu deuten.
Die Politik von KPD und Komintern ließ Reich außer Kritik. Er wandte sich lediglich gegen deren propagandistisch-agitatorische Umsetzung, gegen den (ökonomistischen) "marxistischen Rationalismus". Sein Ziel war es, die Kluft zwischen dem Klassenbewusstsein der Avantgarde und dem der Arbeitermassen durch Artikulation und Politisierung der Alltagsbedürfnisse und -sehnsüchte dieser Massen zu schließen — sie durch Propagierung einer sexualpolitischen "Gegenideologie" zum Faschismus der politischen Passivität zu entreißen. Eine solche Konkretisierung der kommunistischen Propaganda hätte die Anziehungskraft der kommunistischen Parteiorganisation ohne Zweifel zunächst gesteigert, zugleich aber hätte die neue Spontaneität der Jugendorganisation das reibungslose Funktionieren des bürokratisch-zentralistischen Apparats (und dessen politische "Linie") gefährdet. So wenig Reich jedoch die Genesis der bürokratischen Diktatur verstand, so wenig vermochte er, einen Ausweg aus dem Stalinismus zu konzipieren, den er schließlich als "roten Faschismus" dem braunen gleichsetzte und der weltbeherrschenden "Gefühlspest" als ein weiteres Symptom subsumierte.
Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) hat Reich auf Betreiben Freuds, der in ihm einen "bolschewistischen Angreifer" sah, schon 1933 insgeheim ausgeschlossen; 1934 hat die psychoanalytische Internationale (IPV) den Ausschluss dann bestätigt. Man sah in Reich ein politisches Risiko. Freud hoffte, durch die Trennung von Reich die organisierte Psychoanalyse vielleicht vor der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime in Deutschland bewahren zu können. Der "Bolschewismus" Reichs bestand im Wesentlichen darin, die Freud‘sche Kulturkritik historisch zu spezifizieren, oder eben: Psychologie und Soziologie zusammenzuführen. Und es ist Reichs Verdienst, früher und klarer als andere Psychoanalytiker gesehen und ausgesprochen zu haben, dass die Nazis die Freud‘sche Psychoanalyse (in ihren Augen eine "jüdische", "zersetzende" Wissenschaft) unter keinen Umständen tolerieren würden.
Fünfzig Jahre, nachdem seine (späten) Schriften in den USA infolge einer Verurteilung wegen Quacksalberei tonnenweise vernichtet wurden, und vierzig Jahre, nachdem seine frühen Schriften — als Raubdrucke — die antiautoritäre Studenten- und Jugendbewegung inspirierten, sind die meisten seiner Bücher — freilich in Gestalt von terminologisch gereinigten, von Marxismen gesäuberten Ausgaben letzter Hand — im Handel erhältlich, und es erscheinen noch immer neue Reich- Biografien und Monografien. Die Faszination aber, die noch vor vierzig Jahren von dem Mann und seinen Schriften ausging, scheint erloschen; die skurrilen Züge dieses Freudo-Marxisten sind deutlicher präsent. Die Sexualökonomie unserer Gesellschaft hat sich seit den 60er Jahren — nicht nur infolge der Anti-Baby-Pille und der Aids-Seuche — verändert; die heutige sexuelle Emanzipationsbewegung kämpft für weitergehende Ziele als die Sexpol-Bewegung von vor siebzig Jahren; die Erforschung der sexuellen Funktion und der sozialen Definition der beiden Geschlechter, ihrer Mischformen und Spielarten, hat zu anderen Resultaten geführt, als Reich sie seiner Orgasmustheorie zugrunde legte.
Reich steht vor uns als ein revolutionärer Arzt und wunderlicher Naturforscher, der in einer historischen Situation, in welcher der gesellschaftliche Fortschritt durch Faschismus und Stalinismus blockiert schien, an den Praxis-Theorien Psychoanalyse und Marxismus, wie er sie verstand, verzweifelte. Er lehrte das angstfreie Jasagen zu unseren (hetero)sexuellen Bedürfnissen und die Verachtung für die autoritären Verteidiger der Unfreiheit. Die Lösung des historischen Problems der Überwindung einer Gesellschaft, in der Mangel und Herrschaft künstlich aufrechterhalten werden, suchte er (vergeblich) in der geschichtsfernen, imaginären Region bloßer Natur.

Helmut Dahmer hat an der TU Darmstadt Soziologie gelehrt und war bis 1992 Redakteur der psychoanalytischen Zeitschrift "Psyche". Er ist Herausgeber einer kommentierten Ausgabe von Schriften Leo Trotzkis.


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