SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2008, Seite 04

Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst

Gesellschaftspolitischer Konflikt statt Tarifritual!

von Peter Grottian

Knapp 60% der Wahlberechtigten in Deutschland halten die Forderungen von Ver.di für die angelaufene Tarifrunde im öffentlichen Dienst für angemessen, wenn nicht für zu niedrig. In den Taschen der Beschäftigten klaffen große Löcher. Gibt es diesmal mehr als einen faulen Kompromiss? Wie das zu erreichen wäre, dazu unterbreitet PETER GROTTIAN einen Vorschlag.

Die Sturmzeichen sind unübersehbar. Bisher aber wird noch in Schäfchenwolken gespielt. Als Ver.di und der Beamtenbund (DBB) für die Tarifrunde 2008 des öffentlichen Dienstes kurz vor Weihnachten über 8% mehr Lohn und Gehalt für die Bundes- und Kommunalbediensteten forderten — zuzüglich 200 Euro Mindestanhebung, Tarifanpassung Ost-West, Ausbildungszulage, Arbeitszeitverkürzung u.a.m. —, reagierten die öffentlichen Arbeitgeber mit demonstrativer Gelassenheit: Völlig unangemessen bei dieser dramatischen Kassenlage. Vor Weihnachten wurde fast jeder noch so zugespitzte politische Konflikt plätzchengerecht entsorgt. Streit ist weihnachtsuntauglich. Man hatte sich nikoläusig postiert: Der Sack mit den Knüppeln blieb zugebunden.
Am 10.Januar haben in Potsdam die Verhandlungen zwischen den Tarifparteien begonnen, um zunächst — wie zu erwarten — das stereotype Ritual von der völligen Unvereinbarkeit der Positionen zu bedienen. Ein Plus von 8% kostet die Kommunen 6,9 Milliarden Euro, dem Bund 0,7 Milliarden Euro. Würde der Tarifvertrag der Tradition entsprechend für die Beamten übernommen, wären weitere 2,1 Milliarden fällig.
Nach Lage der Dinge wird es in wenigen Wochen zum Streik kommen. Und die spannende Frage wird sein, ob es den Tarif- und Haushaltsstrategen auf beiden Seiten gelingt, den Tarifkonflikt in klassischer Manier auf Prozente einzuhegen, um anschließend mit einem 3,7%-Ergebnis vor die Kameras zu treten. Oder ob es zu einem streikintensiven, eher grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Konflikt kommt, in welchem es um Cash und die Qualität öffentlicher Dienstleistungen geht. Der könnte einen Hauch von politischem Streik haben.
Die öffentlichen Arbeitgeber der Großen Koalition sind zu einer qualitativen Debatte über die Zukunft des öffentlichen Dienstes nicht bereit. Sie wollen den Konflikt grundsätzlich auf das von ihnen beherrschte Feld der Lohnprozente, Entgelttabellen und Arbeitszeitverlängerung beschränken. Nach wie vor dominiert die Haushalts- und Fiskallogik. Kaum ein Kommunalpolitiker und Bundespolitiker von Rang wird sich aktuell eine grundsätzliche Auseinandersetzung zutrauen — schon gar nicht Merkel oder Schäuble, die vorerst auf lautlos-moderate Lohnerhöhungen setzen. Selbst der kampf- und tarifpolitisch erprobte Oskar Lafontaine ist verschämt zurückhaltend.
Bei öffentlichen Dienstleistungen müssen Tarifpolitik und Gesellschaftspolitik zusammengedacht werden. Der Schlüssel zum notwendigen gesellschaftlichen Konflikt liegt deshalb bei den Gewerkschaften. Wird es ihnen ähnlich der Lokführergewerkschaft GDL gelingen, ihre tarifpolitischen Forderungen mit gesellschaftlichen Zielsetzungen zu verbinden, so dass nicht nur die Mitgliedschaft, sondern auch die Öffentlichkeit dem mehrheitlich folgt? Das ist aus mehreren Gründen offen, aber chancenträchtig.
Nach jahrelanger Lohnzurückhaltung scheint eine Lohnforderung von 8% zunächst pauschal in Ordnung, weil alle Erfahrung zeigt, dass man bei 3,79% landen wird. Die Eindimensionalität der Forderung ist aber gerade nicht mehrheitsbildend. 8% mehr in die Taschen der Bediensteten ohne positive Struktureffekte— das klingt donnernd-aufstampfend, wirklich schlau, zukunftsweisend und strategisch ist es nicht.
Wer den gesellschaftspolitischen Konflikt will, der muss seine Tarifforderungen anders ausrichten: Vernünftige Gehaltserhöhungen und Verbesserung der Qualität der öffentlichen Dienstleistungen!
Wie positiv ständen die Gewerkschaften da, wenn sie sagten: Wir haben zwar eine recht hohe Tarifforderung, aber wir denken nicht nur an unsere Taschen, wie jene zu Recht gescholtenen Manager, sondern wir wollen von den 8% bis zu 1,5% in Kitas, Schulen, Förderprogramme für Migrantenkinder, Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen investieren. Wir, die Gewerkschaften, sind für eine Ausweitung qualitativ notwendiger öffentlicher Dienstleistungen und fordern eine Tarifrunde auch für mehr Beschäftigung. Aber — so könnten die Gewerkschaften mahnend fortfahren — wir würden einen solchen neuen Typus von Tarifvertrag nur unterzeichnen, wenn wir sicher sein könnten, dass diese Dienstleistungen tatsächlich eingerichtet werden. Und wenn die öffentlichen Arbeitgeber sich weigerten oder zögerten, dann würden die beiseite gelegten 1,5% nachträglich ausbezahlt oder der Tarifvertrag gekündigt (Cash-Klausel).
Wer will jemanden kritisieren, der rechtmäßige Forderungen mit der Förderung zukunftsfähiger Dienstleistungen kombiniert? Werden von den 8% mehr Lohn 1,5% für Bildung und Arbeitsplätze abgezweigt, kommt ein Schub von 1,2—1,5 Milliarden Euro in Bewegung — die Beamtenanpassungen noch nicht eingerechnet. Wenn die Gewerkschaften dann noch einbringen, dass der höhere Dienst mit 8% nicht unbedingt an die Erhöhung der Diäten der Bundestagsabgeordneten (9,4%) heranreichen müsste, dann könnte durch eine maßvolle Abschöpfung (2—3%) ein zusätzlicher Beitrag für Bildungsinvestitionen erreicht werden. Ministerialbeamte und Stadtreferenten schurren ja nicht an Hartz IV, wenn sie keine volle Gehaltserhöhung erhalten. Als Gegenleistung könnte die 39-Stunden-Woche festgeklopft werden. So gesehen könnte Ver.di die öffentlichen Arbeitgeber, SPD und CDU herausfordern und damit eine Mehrheitsfähigkeit in der Öffentlichkeit anstreben.
Für eine solche Offensivstrategie aus der Defensive heraus spricht die existenzielle Überlebensstrategie der Gewerkschaften und ihre zurück zu gewinnende gesellschaftliche Verantwortung. Der GDL-Ausbruch nach oben hat Maßstäbe gesetzt. Ver.di muss in die Offensive, will sie ihre streikgeschwächte Basis in den Kommunen (Busunternehmen und Müllentsorgung sind oft schon privatisiert) durch andere Kommunalbedienstete ersetzen, will sie junge Mitglieder motivieren, will sie gesellschaftspolitisch stärken in Erscheinung treten. Die Basis wird nur bei einem starken Auftritt der Gewerkschaftsspitze zu mobilisieren sein. Der Vorsitzende Frank Bsirske wird sich dem stellen müssen.
Die Gewerkschaften werden in der Öffentlichkeit Boden gewinnen, wenn sie sich mit den Sozialprotesten, Kirchen, Wohlfahrtsorganisationen, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden verbinden. Der wohl verstandene gesellschaftspolitische Konflikt ist überfällig — subito!

Peter Grottian ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der FU Berlin und Sprecher der Attac-AG ArbeitFairTeilen.


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