SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2008, Seite 09

Der GDL-Streik — auch ein Ost-West-Konflikt

Westlinke verteidigen ein falsches Konzept von Einheit

von Stefan Müller

In den vergangenen Monaten erlebte Deutschland den heftigsten Arbeitskampf seit der Wiedervereinigung — den der Eisenbahner für einen eigenen Tarifvertrag, höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Und doch gab es dafür von der Linken so wenig Solidarität wie kaum zuvor.
Nahezu jede betriebliche Auseinandersetzung der vergangenen Jahre hat (mindestens moralisch) mehr Unterstützung erfahren. Die fehlende Solidarität reichte vom Wegducken bis hin zu klaren Distanzierungen. Thies Gleiss schrieb, die Partei Die Linke sei gelähmt. Die Solidaritätserklärung, die der Parteivorstand schließlich verabschiedete, wurde gegen den Gewerkschaftsflügel durchgesetzt — das lag weniger an den hehren gewerkschaftlichen Sympathien Lafontaines als an seinem klaren Gespür für gesellschaftliche Stimmungen.
Aber auch linke Gewerkschafter waren handlungsunfähig, gerade auch solche, die keine Sozialdemokraten sind, sondern sich vielfach in den verschiedenen Netzwerken der Gewerkschaftslinken tummeln oder bis vor kurzem getummelt haben.

Mythos Einheitsgewerkschaft

Eines der zentralen Argumente gegen die GDL war der Erhalt der Einheitsgewerkschaft und die Furcht vor Zersplitterung. Dieses Argument kann jedoch nur vorgebracht werden, wenn die westdeutsche Gewerkschaftsbewegung nach 1945 gehörig mystifiziert wird.
Der Wunsch nach Einheit bildete tatsächlich das zentrale Motiv bei den vielen örtlichen gewerkschaftlichen Neugründungen nach Ende des Krieges. Unter Einheit verstand man dabei die Aufhebung der parteipolitischen, konfessionellen und beruflichen Zersplitterung und die gemeinsame Interessenvertretung von Arbeitern und Angestellten. Der Wunsch nach einer Einheitsgewerkschaft resultierte aus der — spaltungsbedingten — Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung gegenüber dem Faschismus. Damit verband sich das Ziel einer Neuordnung der Wirtschaft, die Überführung wesentlicher Industriebereiche in Gemeineigentum und eine weitgehende Mitbestimmung der Arbeiter auf betrieblicher und gesellschaftlicher Ebene. Dieses Ziel scheiterte, trotz einer in breiten Bevölkerungskreisen vorherrschenden antikapitalistischen Grundstimmung und obwohl sich das Bürgertum durch seine profaschistische Haltung diskreditiert hatte.
Es dauerte jedoch nur kurze Zeit, bis die neu gegründeten Gewerkschaften wieder von Sozialdemokraten dominiert waren. Die anfängliche Einheit mit den kommunistischen Kollegen war spätestens Anfang der 50er Jahre zu Ende, als kommunistische Funktionäre in den Gewerkschaften "Revers" unterschreiben mussten, die sie vor die Wahl stellten, Loyalität zur Gewerkschaft oder zu ihrer Partei zu wahren. Dass die KPD mit ihrer Politik das Ihre dazu beigetragen hat, sich ins Abseits zu manövrieren, steht auf einem anderen Blatt.
In den 70er Jahren erlebte der Kampf um die sozialdemokratische Vorherrschaft in den Gewerkschaften eine Neuauflage, Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegenüber verschiedenen ML-Gruppen wurden durchgesetzt. Auch die christlichen Kollegen fühlten sich in den Industriegewerkschaften unterrepräsentiert und an den Rand gedrängt. Der Christliche Gewerkschaftsbund spaltete sich 1955 vom DGB ab und spielte danach keine Rolle mehr — das mag politisch erfreulich sein, widerspricht aber entschieden der Behauptung der parteipolitischen Neutralität der Industriegewerkschaften und des von ihnen 1949 gegründeten DGB.

Organisationsegoismus

Ebenso wird verdrängt, dass der Einheitsgedanke ursprünglich einen zentralen Verband vorsah, dem Arbeiter und Angestellte gleichermaßen unmittelbar angehören sollten und der in unselbstständige Wirtschaftsgruppen gegliedert sein sollte. Der massive Druck und die anfängliche Nichtanerkennung überörtlicher Zusammenschlüsse durch die Besatzungsbehörden führten jedoch ab Sommer 1946 zur Herausbildung von Industriegewerkschaften, und im Ergebnis zur Abspaltung der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG).
Dieser Prozess war von Anfang an von Organisationsegoismen geprägt. So wollte die ÖTV in der britischen Zone anfänglich keine Eisenbahnergewerkschaft zulassen und die Beschäftigten dort selber organisieren. Erst ein außerordentlicher Bundeskongress des DGB in der britischen Besatzungszone 1948 machte den Weg frei für die Bildung der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands. Die Frage der Abgrenzung von Organisationsbereichen bleibt bis heute ein Streitpunkt — u.a. kämpfen Ver.di und Transnet um die Organisierung der Beschäftigten im Logistikbereich, was auch mit der Geschäftsfelderweiterung der DB AG zu tun hat.
Die Neugliederung der Gewerkschaften in Ostdeutschland nach der Wende hatte mit Einheitsgedanken gar nichts mehr zu tun. Auch für die Gewerkschaften ging es hier nur um die Übertragung des westdeutschen Systems der Arbeitsbeziehungen auf den Osten. Noch vor der Volkskammerwahl 1990 erklärten Ernst Breit für den DGB und Klaus Murmann für den Arbeitgeberverband am 12.März, die DDR-Ökonomie müsse nach kapitalistischen Grundsätzen umgestaltet werden.
So wie die westdeutsche Bourgeoisie die ostdeutsche Wirtschaft nach ihren Vorstellungen organisierte, machten es auch die westdeutschen Gewerkschaften mit der Interessenvertretung im Osten. Für beide war es ausgemachte Sache, dass das "Lohnniveau zunächst noch deutlich unter dem bundesdeutschen Standard liegen" werde. Diese gewerkschaftliche Ostpolitik findet bis heute ihre Fortsetzung in der Besetzung der gewerkschaftlichen Spitzengremien: In den geschäftsführenden bzw. Hauptvorständen des DGB, von Ver.di, Transnet und der IG Metall sitzt kein einziger Ossi; auf der Ebene von Landesbezirksleitungen sieht es kaum besser aus. Das ist Ausdruck eines Machtverhältnisses.

GDL — erste ostdeutsch geführte Gewerkschaft?

Die GDL war bis 1989 eine kleine Beamten-Berufsorganisation, deren Führungsstamm konservativ war und sich an der CDU orientierte. Nach der Wende gelang es der damaligen Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED; heute Transnet) im Westen nicht, das Personal der Reichsbahn komplett in den DGB zu überführen. Die Lokführer entschieden sich im Sommer 1990 für die GDL und gegen die GdED; damit wuchs der Mitgliederbestand der GDL in kürzester Zeit um fast 15000.
Die GDL organisiert heute mit etwa 34000 Mitgliedern rund 70—80% der Lokführer bei der DB AG (15000 von 20000), sowie 30% des restlichen Fahrpersonals. In Ostdeutschland sind nahezu alle Lokführer in der GDL organisiert, 80 von rund 200 Ortsgruppen der GDL liegen im Osten, das sind 40%. Einer der beiden stellvertretenden Vorsitzenden, Claus Weselsky, kommt aus Dresden und wird im Mai 2008 für die Nachfolge des dann in Rente gehenden Manfred Schell kandidieren. Aller Voraussicht nach wird die GDL die erste Gewerkschaft im "vereinigten" Deutschland sein, die einen Ossi zum Vorsitzenden hat.
Zugespitzt formuliert ändert sich seit einigen Jahren der Charakter der GDL von einer ehemals eher konservativen Berufsorganisation verbeamteter westdeutscher Eisenbahner in eine Organisation ostdeutscher Eisenbahner, eine Arbeiter- und Angestelltengewerkschaft, die auch rechtlich streikfähig ist. Die weitere politische Orientierung und Entwicklung der GDL ist nicht ausgemacht. Klar ist, sie ist weder revolutionär, noch linksradikal noch besonders aufrührerisch; zu Glorifizierung und linker Mythenbildung gibt es hier keinen Anlass. Was sie aber von anderen unterscheidet ist: Sie handelt als normale Gewerkschaft, die ihre Kraft zugunsten ihrer Mitglieder einsetzt. Sie nimmt dabei weniger parteipolitische Rücksichten auf die Regierungskoalition als die DGB-Gewerkschaften.
Eine weitere Besonderheit ist: Sie bemüht in ihrer Argumentation kein vermeintliches "Gesamtwohl", sondern im besten Sinne ein "Partikularinteresse". Oskar Negt hat einmal darauf hingewiesen, dass es in der deutschen Arbeiterbewegung nur selten Ansätze einer autonomen Arbeiter- und Klassenpolitik gegeben hat. Zumeist haben Parteien und Gewerkschaften ein Allgemeinwohl formuliert und damit den eigenen Anliegen ein klassenübergreifendes Interesse unterstellt. Der jüngste Kampf der Eisenbahner unterscheidet sich angenehm davon — und stößt damit in den Umfragen auf enorme Zustimmung in der Bevölkerung.

Ost-West-Spaltung

Der Eisenbahnerstreik war innerhalb von vier Jahren die dritte große gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, deren Initialzündung von Ostdeutschland ausging bzw. die dort ihren Schwerpunkt hatte — und die von westdeutscher Seite bestenfalls ignoriert, im schlechtesten Fall bekämpft wurde. Der erste Konflikt war der Streik der ostdeutschen Metaller für die Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden im Jahr 2003. Westdeutsche Gesamt- und Konzernbetriebsratsvorsitzende und der IG-Metall- Flügel um Klaus Zwickel haben diesem Arbeitskampf ein Ende und damit den Gewerkschaften insgesamt eine tief sitzende Niederlage bereitet.
Der zweite Großkonflikt waren die Montagsdemonstrationen 2004. Der Aufstand der Ostdeutschen gegen die Agenda 2010 wurde von Spitzenfunktionären der sich in Westdeutschland gerade gründenden WASG ignoriert. Der damalige WASG-Bundesvorstand ließ eine schon produzierte Zeitungsauflage von 30000 Exemplaren einstampfen, weil u.a. im Impressum die Adressen der westdeutschen WASG-Gruppen fehlten. Im GDL-Streik ist die von Westlinken beschworene Einheit der Linken zum dritten Mal an ihre Grenzen gestoßen. Das wird sich in das kollektive Gedächtnis der ostdeutschen Arbeiterbewegung eingraben, die ganz offensichtlich dabei ist sich neu zu formieren.

Stefan Müller lebt in Duisburg und schreibt zur Zeit an einer Doktorarbeit über Heinz Dürrbeck


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