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Die politische Krise, die Belgien derzeit erschüttert, muss vor dem
Hintergrund der belgischen Geschichte und der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung in den
verschiedenen Landesteilen betrachtet werden: Die flämischen Kapitalbesitzer verfolgen das ehrgeizige
Projekt, Flandern zu einer der florierendsten Regionen Europas zu machen, während Wallonien sich
zunehmend zum Armenhaus entwickelt.
Ihr Trumpf-As ist der Hafen von Antwerpen,
der drittgrößte der Welt. Antwerpen liegt jedoch 30 Kilometer vor der Scheldemündung. Der
Hafen kann seinen Rang nur halten, wenn massive Investitionen in Hafenanlagen und Infrastruktur
getätigt werden. Von der Verbindung Antwerpens mit Seebrugge, Nordfrankreich, den Niederlanden und
Deutschland hängt die wirtschaftliche Dynamik und die Attraktivität der Region für
international operierende Großkonzerne ab.
Der springende Punkt ist, dass dieses Projekt nur dem flämischen Kapital zugute kommt. Diese
Fraktion der herrschenden Klasse hat nach dem Zweiten Weltkrieg einen massiven Aufschwung erfahren. Ihr
relatives Gewicht ist mit der Auflösung der Société Générale noch gestiegen. Diese
Holding wurde von Wilhelm I. von Oranien 1822 gegründet, noch vor der belgischen Unabhängigkeit;
sie war eines der größten Unternehmen, die es in Belgien je gab. Sie hatte die Aufgabe, die
öffentliche Infrastruktur umfassend auszubauen (Straßenbau, Eisenbahnen, Kanalbau) und die
Industrie planmäßig zu entwickeln; dadurch sollte das Lebensniveau der Bevölkerung angehoben
werden.
Die Ungleichheit der wirtschaftlichen
Entwicklung zwischen dem Norden und dem Süden prägt die Entwicklung der "belgischen
Provinzen" seit dem 13.Jahrhundert. Einige Jahrzehnte hindurch, bis ins 20.Jahrhundert hinein, konnte
die Société Générale durch eine entsprechende Verteilung der Industrieinvestitionen
zwischen Flandern und Wallonien ein Gegengewicht dazu schaffen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verzichtete die
Société Générale auf Investitionen in industrielle Spitzenleistungen und verlegte sich
mehr und mehr auf die finanzielle Ausbeutung der vorhandenen Industrieunternehmen. In Belgien konnte sich
deshalb etwas Gleichwertiges wie Philips in den Niederlanden oder Volvo in Schweden nicht entwickeln.
Als Mitte der 70er Jahre die expansive
Welle der Konjunktur zu Ende ging, gerieten die Unternehmen der Holding in große Schwierigkeiten. Ihre
Umstrukturierung hinterließ im Süden des Landes, der bereits von der Kohlekrise erschüttert
wurde, ein Trümmerfeld. In Flandern machte sie dynamischen regionalen klein- und
mittelständischen Unternehmen Platz, die sich auf die Kreditbank und auf Investitionen multinationaler
Konzerne stützten.
In den 90er Jahren wollte der damalige
Olivettichef, Carlo De Benedetti, die Société Générale übernehmen. Der belgische
Staat wendete die Übernahme ab, indem er den französischen Konzern Suez Lyonnaise des Eaux zu
Hilfe rief; dabei wurde "die alte Dame" jedoch zerlegt. Im Jahr 2003 ging sie in der Gruppe Suez-
Tractebel auf. Seither gibt es keinen "belgischen" Kapitalismus mehr.
Von diesem Tatbestand muss man ausgehen.
Denn der institutionelle Überbau steht nicht mehr im Einklang mit der Realität der
Kapitalverwertungsprozesses. Die Monarchie, historisch sehr eng mit der Société
Générale verflochten, hat keine Wurzeln im neu aufstrebenden flämischen Kapital. In den 80er
und 90er Jahren gab es eine Staatsreform, die die Kompetenzen auf die föderierten Landesteile neu
verteilte, allerdings auf recht widersprüchliche Weise, sodass die einzelnen Landesteile keine
kohärente Wirtschaftsentwicklung betreiben können, der Zentralstaat aber zugleich an mehreren
Stellen geschwächt ist. Vor allem in der Region Brüssel-Hauptstadt ist die Lage unhaltbar
geworden: Sie ist in 19 Kommunen zersplittert, auf zu engem Raum, und mit unzureichenden Mitteln
ausgestattet.
Letztendlich ist es aber der Fortbestand
eines nationalen Sozialversicherungssystems (es wurde 1944 geschaffen), der dem flämischen Kapital im
Weg steht. Die Nationalisten im Norden wettern gegen die "Finanztransfers" aus dem reichen
Flandern in das arme Wallonien faktisch ist damit die Solidarität der in Flandern zahlreicheren
und besser bezahlten abhängig Beschäftigten mit den in Wallonien zahlreicheren
Sozialhilfebeziehenden gemeint.
Diese Kampagne ist ein politisch
deformierter Ausdruck dafür, dass das flämische Kapital das Sozialversicherungssystem so
"reformieren" möchte, wie es in sein neoliberales Entwicklungsprojekt passt. Die
hauptsächlich in Wallonien überschüssige Arbeitskraft soll billiger und gefügiger
werden. Denn während in den alten Industriegebieten Walloniens die Arbeitslosigkeit grassiert,
fürchtet man in den flämischen Landesteilen Arbeitskräfteknappheit. Das soll nun Folgen
haben für eine regional unterschiedliche Gestaltung des Renteneintrittsalters oder der Programme zur
"Aktivierung von Arbeitsuchenden".
Der Streit zwischen den flämischen und
den wallonischen Parteien über diese Fragen ist kein Streit zwischen Rechts und Links. Die Parteien im
französischsprachigen Teil des Landes sind nicht weniger überzeugte Anhänger des
Neoliberalismus wie ihre flämischen Partner. Wenn sie sich der Forderung der flämischen Parteien
nach einer Zergliederung des Sozialversicherungssystems widersetzen, dann deshalb, weil sie fürchten,
der daraus folgende brutale soziale Absturz in Wallonien könne dort zu einer politischen
Destabilisierung führen. Neoliberale Rezepte sehen für den Süden anders aus als für den
Norden.
All dies drückt sich in der derzeitigen Regierungskrise aus. Dabei bildet die Politik allerdings
nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse ab. Zwischen den beiden Ebenen gibt es mehrere
Vermittlungsschritte, und hier kompliziert sich die Sachlage. Einer dieser Vermittlungsschritte ist in
Belgien die nationale Frage, besser gesagt: die flämische Frage. An ihr hängen sich oft
oberflächliche Interpretationen auf.
Die flämische Frage ist nicht nur eine
"kulturelle Frustration". Sie verbirgt einen sozialen Kern. Sehr vereinfacht gesprochen
könnte man sagen, Flandern war in der Geschichte für Belgien das, was Irland für das
Vereinigte Königreich war: ein Reservoir billiger Arbeitskräfte und preiswerter
landwirtschaftlicher Produkte, die erlaubten, die Arbeitslöhne niedrig zu halten. Hier wie dort gab es
Unterentwicklung, Hungersnöte, Auswanderung. Hier wie dort gab es Verachtung für die Sprache und
die Bewohner dieses Landesteils. Wer außer Engländern würde die irischen Nationalisten als
"kulturell Frustrierte" bezeichnen?
Heute hat sich die wirtschaftliche
Situation umgekehrt: heute ist Wallonien der arme und verachtete Landesteil. Die nationalen Rechte der
Flamen werden nicht mehr unterdrückt. Aber die Last der Geschichte ist noch gegenwärtig. Die
Linke bezahlt immer noch für den großen historischen Fehler der belgischen Sozialdemokratie, die
es im 19. und 20.Jahrhundert abgelehnt hat, sich die legitimen Forderungen der flämischen
Bevölkerung zu eigen zu machen.
August Bebel drängte seinerzeit die
Belgische Arbeiterpartei, sich den Umstand zunutze zu machen, dass die flämischen Arbeiter nicht die
Sprache ihrer Unterdrücker sprachen. Vergeblich die Partei Vanderveldes lehnte einen
internationalistischen Standpunkt damals ab. Sie war bereits verdorben durch das Gift der
Klassenzusammenarbeit und zog es vor, sich in einem undemokratischen politischen System einzurichten, das
vom französischsprachigen Kapital und von der Monarchie beherrscht war. Dieses System hatten die
Großmächte eingerichtet, damit es einen Puffer bilde zwischen dem nachrevolutionären
Frankreich und dem Norden Europas. Flamen und Wallonen sind niemals gefragt worden, wie sie zusammen leben
wollen.
Weil es auf der Linken keine Alternative
gab, hat die politische Rechte die Hegemonie über die flämische Bewegung übernommen
eine zentrale Rolle spielte dabei der niedere Klerus. In der Arbeiterklasse führte die Missachtung der
demokratischen Forderungen der flämischen Bevölkerung dazu, dass die katholische Kirche
ungehindert Gehör finden konnte. Ausgehend von der Enzyklika Rerum Novarum (1891) baute sie eine
christliche Gewerkschaft auf, deren ausdrückliches Ziel es ist, ein Gegengewicht zur sozialistischen
Gewerkschaftsbewegung zu bilden.
Seitdem dominiert die christliche
Gewerkschaft in Flandern, die sozialistische Gewerkschaft in Wallonien. So ist in der Arbeiterbewegung zur
Sprachenspaltung eine organisatorische Spaltung hinzugetreten.
Diese subjektiven Faktoren sind notwendig für das Verständnis der Entwicklung des
flämischen Nationalismus. Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Siegeszugs Flanderns und des
ideologischen Triumphs des Neoliberalismus ist dieser Nationalismus natürlich nicht mehr Ausdruck von
Ausbeutung und Unterdrückung. Es wäre aber völlig abwegig zu meinen, hinter der
Autonomieforderung, die alle flämischen Parteien gleichermaßen vertreten, verberge sich eine
"Faschisierung" des nördlichen Landesteils unter der Führung des Vlaams Belang.
Sicher, der Vlaams Belang, der bei Wahlen
in Flandern 25% der Stimmen erzielt, ist eine rechtsextreme Partei, der Kern seiner historischen
Führung ist faschistisch und ein Teil der Unternehmer unterstützt diese Partei. Die Gefahr, die
von ihr ausgeht, darf nicht unterschätzt werden. Dennoch setzen die tonangebenden Kreise des
flämischen Kapitals nicht auf die rechtsextreme Karte, denn dies würde eine direkte Konfrontation
mit der mächtigen christlichen Arbeiterbewegung bedeuten.
Die flämische Sozialdemokratie hat
völlig die Orientierung verloren, seit ihre proletarische Wählerschaft zum Vlaams Belang
übergegangen ist; ihr fällt nicht mehr ein als das neoliberale Projekt für Flandern kritisch
zu begleiten. Die Grünen reagieren mit sympathischen antinationalistischen Reflexen, aber in sozialen
Fragen haben sie keine Alternative zu bieten.
Der flämische Nationalismus ist der
ideologische Ausdruck des neoliberalen Projekts für Flandern. Deshalb konnte der Streit um den letzten
zweisprachigen Bezirk des Landes, Brüssel-Halle-Vilvoorde, eine solche Symbolkraft entfalten. Als die
flämischen Abgeordneten (und nur sie) im Innenausschuss des Parlaments für die Spaltung dieses
Bezirks stimmten, wollten sie damit sagen: "Wir sind jetzt die Reichen, und wir werden endlich das
Gesetz diktieren."
Die Arroganz hat das Lager gewechselt. Die
Haltung der Flamen hat eine gewisse Logik für sich: Warum sollte dieser Bezirk als ein gemischter
aufrechterhalten werden, wenn das ganze Land nach Sprachgrenzen gespalten ist, auch die Provinz Brabant,
deren französischsprachige Parteien sich im Jahr 1962 geweigert haben, die Region als eine
zweisprachige anzuerkennen?
Die belgische Krise verortet sich an der
Schnittstelle zwischen einer historischen Entwicklung und einer Politik der Entfesselung der
Marktkräfte mit all ihren ideologischen Begleiterscheinungen: Arroganz des Geldes, Verherrlichung der
sozialen Ungleichheit, Banalisierung der Fremdenfeindlichkeit, Bruch der gesellschaftlichen
Solidarität. In Anbetracht der Rolle, die die EU dabei spielt, mutet es sehr merkwürdig an, wenn
einige französischsprachige Menschen meinen, gegen die Flamen ausgerechnet das europäische Modell
des Zusammenlebens in der Verschiedenheit in Feld führen zu müssen.
Vor 20 Jahren schrieb Le Monde
Diplomatique: "Die europäische Integration unterminiert den belgischen Staat." Das scheint
niemand zu sehen. Die belgische Krise ist kein Schönheitsfehler der EU, sondern ein Ergebnis ihrer
Politik mit dem sie im Übrigen immer weniger fertig wird. Eher ist Belgien eine Illustration
der EU-Politik: Hier wurden regionale und gemeinschaftliche Parlamente gebildet mit dem Auftrag, die
neoliberale Politik umzusetzen. Danach gab es wohl 15 Jahre "Gemeinschaftsfrieden", aber um den
Preis, dass der größte Teil des politischen Personals der herrschenden Klasse unfähig ist zu
begreifen, was "auf der anderen Seite" los ist, und gesamtstaatliche Belange wahrzunehmen.
Eine Lösung kann es nur geben, wenn es
eine Sozial- und Wirtschaftspolitik gibt, die die ungleiche Entwicklung zwischen dem Norden und Süden
des Landes überwindet. Das erfordert eine Umverteilung des Reichtums und einen neuen Schub
öffentlicher Investitionen also den Bruch mit der Logik des Marktes.
Der linke Flügel der FGTB hatte dies
Ende der 50er Jahre begriffen, als er forderte, föderalistische Reformen müssten mit
antikapitalistischen Strukturreformen einhergehen insbesondere mit der Verstaatlichung des
Energiesektors und der Banken. Das Programm spielte eine zentrale Rolle für die
"Jahrhundert"-Mobilisierung der Arbeiterschaft, die zum Generalstreik vom Winter 1960/61
führte. Nach dem Streik geriet es in Vergessenheit, weil die wallonische FGBT sich mehr und mehr auf
einen regionalistischen Standpunkt zurückzog.
Heute geht es darum, das System der
sozialen Sicherung zu retten. Das geht nur, wenn flämische und wallonische Arbeiter gemeinsam
kämpfen. Dazu muss die Gewerkschaftsbewegung sich aber trauen, politisch aktiv zu werden und den
neoliberalen Rahmen der EU und Belgiens in Frage zu stellen. Geht dieser Kampf verloren, werden sich die
Lebens- und Kampfbedingungen in Belgien radikal verschlechtern, und dies für lange Zeit.
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