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Am 2.Dezember ist die Regierung Chávez mit ihrem Vorhaben gescheitert,
durch ein Referendum die bolivarianische Verfassung in einem sozialistischen Sinne zu reformieren. Im
Folgenden ziehen Mitglieder der Strömung Marea Clasista y Socialista (MCS) in Chávez Partei
PSUV Bilanz.*
Wir haben [beim Referendum über die Verfassungsreform] eine Kampagne für das "Ja"
geführt, um den revolutionären Prozess zu vertiefen, dabei mussten wir uns gegen den
Imperialismus, die Unternehmer und die privaten Medien zur Wehr setzen. Jetzt müssen wir die
bestehenden Probleme gründlich neu überdenken. Wir glauben, dass sie unsere aktuelle Niederlage
mit verursacht haben. Wir wollen diese Debatte mit den Millionen von Menschen führen, die mit
"Ja" gestimmt haben, aber auch mit den Sektoren der Arbeitenden und Armen, die es leider nicht
getan haben, mit dem Imperialismus und der politischen Opposition gegen Chávez aber nichts zu tun
haben.
Verbesserungsvorschläge müssen davon ausgehen, dass der Kampf für die Verwandlung
Venezuelas in ein sozialistisches Land aktuell bleibt. Keines unserer Probleme kann im Rahmen des
Kapitalismus gelöst werden, der unser Land immer noch dominiert. Zahlreiche Sektoren auch
solche im Staatsapparat machen sich die Niederlage zunutze, um Druck auszuüben und zu zeigen,
dass es falsch war, von Sozialismus zu sprechen. Wenn wir uns darauf einlassen, schreiben wir die
Niederlage fort.
Wenn sich ein bedeutender Teil von
Chávez Wählern enthalten und ein Teil sogar den Fehler begangen hat, mit "Nein"
zu stimmen, hat dies tiefere Ursachen, die wir nicht ignorieren können. Offensichtlich verfügen
private Medien und Unternehmer über starke Mittel, die ihnen erlauben, im gesamten Land Kampagnen
durchzuführen das spielt eine wichtige Rolle. Aber es gibt auch andere Probleme, die in der
direkten Verantwortung der Regierung liegen. Dazu gehört vor allem der Vorschlag einer
übermäßigen Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten (seine unbegrenzte
Wiederwahl, seine Befugnis, den Vizepräsidenten zu ernennen usw.). Das kam bei einem Teil der
Bevölkerung, die im vergangenen Dezember [bei den Präsidentschaftswahlen 2006] für
Chávez gestimmt hat, nicht gut an.
Die Regierung spricht von einem Projekt des
Sozialismus und der Gleichheit, aber sie löst nicht die dringenden sozialen Probleme breiter Teile der
Bevölkerung wie Existenzunsicherheit, Wohnungsnot, niedrige Löhne. Reiche Schichten hingegen
verfügen immer noch über große Unternehmen und haben ihre wirtschaftliche und politische
Macht bewahrt. Wir wissen, dass es sehr positive soziale Errungenschaften gibt, aber Revolutionen weisen
Gesetzmäßigkeiten auf, an denen man nicht vorbeigehen kann: Um auf dem eingeschlagenen Pfad
voranzuschreiten, müssen klare Maßnahmen ergriffen werden, die die wirtschaftliche Macht der
Kapitalisten schwächen und sich an den sozialen Bedürfnissen der breiten Bevölkerung
orientieren. In diesem Bereich sind wir trotz wichtiger Schritte noch weit vom Notwendigen entfernt. Die
rechte Medienkampagne fällt mit realen, noch ungelösten Problemen zusammen, deshalb gibt es in
einem Teil unserer eigenen sozialen Basis Zweifel, Misstrauen und Angst.
Die Ergebnisse vom [Wahl-]Sonntag haben
gezeigt, dass ein großer Teil der Bevölkerung die Idee eines Fortschreitens in Richtung
Sozialismus teilt. Dennoch haben Kräfte, die bisher Teil des Prozesses waren, dazu aufgerufen, mit
"Nein" zu stimmen oder sich zu enthalten, und damit faktisch mit der Rechten zusammengearbeitet.
Es ist an uns, von nun an für die Durchsetzung des 6-Stunden-Tags und andere Maßnahmen, die mit
der Verfassungsreform verbunden waren, zu mobilisieren. Einige Gegner der Reform haben ja behauptet, man
könne solche Errungenschaften auch ohne Verfassungsreform erreichen.
Eine bürokratische und korrupte Struktur untergräbt die Regierungen der Bundesstaaten, die
Kommunalverwaltungen und die Ministerien. Sie ist das Produkt ungelöster sozialer Probleme und
führt in eine ausweglose Situation. Man muss das Problem an der Wurzel packen, soll uns der
revolutionäre Prozess nicht entgleiten. Es muss Schluss gemacht werden mit den Funktionären, die
sich bereichern. Minister, die die Rechte der Bevölkerung angreifen, stellen ein Hindernis dar, wie
bspw. der gegenwärtige Arbeitsminister und seine ganze Mannschaft.
Es ist erforderlich, dass sich der
Präsident auf diese Fragen konzentriert, die zu so vielen Enthaltungen und "Nein"-Stimmen
beigetragen haben. Alle bolivarianisch-sozialistischen Strömungen erwarten eine gründliche
Veränderung der Zusammensetzung der Regierung. Es sind diese Funktionäre, die die
Wählerschaft demoralisieren und die Armen und Werktätigen dem gesellschaftlichen
Umwandlungsprozess entfremden; ein Teil von ihnen konnte nicht überzeugt werden, mit "Ja" zu
stimmen, weil solche Funktionäre täglich zeigen, dass sie das Gegenteil von dem tun, was sie
sagen.
Unser revolutionärer Prozess
benötigt und verdient dringend eine gründliche Überholung. Es ist nicht mehr die Zeit
für Veränderungen an der Oberfläche, die außerdem unmöglich sind. Mit der
Bevölkerung und mit den dem revolutionären Prozess verbundenen politischen und sozialen
Organisationen muss eine Debatte über die anstehenden großen ökonomischen und politischen
Entscheidungen eröffnet werden.
Es muss Schluss sein mit willkürlich
ausgewählten Funktionären, die nur in ihrem eigenen persönlichen Interesse handeln. Die
Rolle der Minister und der Ministerien der Volksmacht muss überprüft werden, damit ihre
Entscheidungen von den betroffenen Teilen der Bevölkerung diskutiert und korrigiert werden
können. Es muss Schluss sein mit Gehältern, die Funktionären ein Leben in einem
"saudischen" Venezuela und in Luxushotels ermöglichen. Das hat mit einem sozialistischen
Projekt nichts zu tun. Wir fordern die Absetzung dieser ineffizienten und skrupellosen Funktionäre.
Während der Kampagne für das "Ja" haben wir wie Tausende andere auch unsere
kritische Sichtweise in der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) und in den sozialen
Bewegungen vertreten. Bei allen Kundgebungen für das "Ja" war die Unterstützung
für Chávez und den revolutionären Prozess zu spüren, kombiniert mit Kritik und dem
Gefühl, dass große Probleme bleiben. Wir haben gemeinsam diskutiert, dass die PSUV sich nicht in
ein neues bürokratisches Instrument verwandeln darf, was gewisse Teile des Apparats aber wollen, die
die Partei in den ersten Monaten ihres Bestehens kontrolliert haben.
Um aus dieser Situation herauszukommen,
muss die Macht wirklich in die Hände des Volkes und seiner Organisationen übergehen. Der Kongress
der PSUV muss die demokratischste Instanz werden, alle müssen die Möglichkeit haben, Stellung zu
beziehen, Vorschläge zu machen, zu kritisieren und zu beschließen zum Wohl der
bolivarianischen Revolution, ohne bürokratische Beschränkung oder Einmischung, ohne Behinderung
der freien Diskussion.
Wir haben großes Vertrauen in die
Fortsetzung des sozialistischen Projekts. Aber dieses Vertrauen muss einhergehen mit Einheit und
Geschlossenheit beim Aufbau gemeinsamer Räume für die Diskussion all dieser Themen. Es ist
unerlässlich, dass die Bevölkerung wie auch die bewusstesten und ehrlichen Aktiven des
revolutionären Prozesses über gemeinsame Räume verfügen.
Natürlich hat Chávez das Recht,
seine Meinung zu sagen und Vorschläge zu machen. Aber er hat auch die Verantwortung, die
Bevölkerung anzuhören und gegenüber Veränderungen offen zu sein, die die Realität
fordert.
Caracas, 3.Dezember 2007
Stalin Pérez Borges, Vilma Vivas, Marco García, Ismael Hernández
*Die MCS ist eine Gruppierung der revolutionären Linken. Zu ihr gehören u.a. führende
Mitglieder des Gewerkschaftsverbands UNV. Sie ist Teil der PSUV. Die Erklärung.
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