SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2008, Seite 15

Venezuela

Nach dem Referendum

Am 2.Dezember ist die Regierung Chávez mit ihrem Vorhaben gescheitert, durch ein Referendum die bolivarianische Verfassung in einem sozialistischen Sinne zu reformieren. Im Folgenden ziehen Mitglieder der Strömung Marea Clasista y Socialista (MCS) in Chávez‘ Partei PSUV Bilanz.*



Wir haben [beim Referendum über die Verfassungsreform] eine Kampagne für das "Ja" geführt, um den revolutionären Prozess zu vertiefen, dabei mussten wir uns gegen den Imperialismus, die Unternehmer und die privaten Medien zur Wehr setzen. Jetzt müssen wir die bestehenden Probleme gründlich neu überdenken. Wir glauben, dass sie unsere aktuelle Niederlage mit verursacht haben. Wir wollen diese Debatte mit den Millionen von Menschen führen, die mit "Ja" gestimmt haben, aber auch mit den Sektoren der Arbeitenden und Armen, die es leider nicht getan haben, mit dem Imperialismus und der politischen Opposition gegen Chávez aber nichts zu tun haben.

Das sozialistische Ziel bewahren

Verbesserungsvorschläge müssen davon ausgehen, dass der Kampf für die Verwandlung Venezuelas in ein sozialistisches Land aktuell bleibt. Keines unserer Probleme kann im Rahmen des Kapitalismus gelöst werden, der unser Land immer noch dominiert. Zahlreiche Sektoren — auch solche im Staatsapparat — machen sich die Niederlage zunutze, um Druck auszuüben und zu zeigen, dass es falsch war, von Sozialismus zu sprechen. Wenn wir uns darauf einlassen, schreiben wir die Niederlage fort.
Wenn sich ein bedeutender Teil von Chávez‘ Wählern enthalten und ein Teil sogar den Fehler begangen hat, mit "Nein" zu stimmen, hat dies tiefere Ursachen, die wir nicht ignorieren können. Offensichtlich verfügen private Medien und Unternehmer über starke Mittel, die ihnen erlauben, im gesamten Land Kampagnen durchzuführen — das spielt eine wichtige Rolle. Aber es gibt auch andere Probleme, die in der direkten Verantwortung der Regierung liegen. Dazu gehört vor allem der Vorschlag einer übermäßigen Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten (seine unbegrenzte Wiederwahl, seine Befugnis, den Vizepräsidenten zu ernennen usw.). Das kam bei einem Teil der Bevölkerung, die im vergangenen Dezember [bei den Präsidentschaftswahlen 2006] für Chávez gestimmt hat, nicht gut an.
Die Regierung spricht von einem Projekt des Sozialismus und der Gleichheit, aber sie löst nicht die dringenden sozialen Probleme breiter Teile der Bevölkerung wie Existenzunsicherheit, Wohnungsnot, niedrige Löhne. Reiche Schichten hingegen verfügen immer noch über große Unternehmen und haben ihre wirtschaftliche und politische Macht bewahrt. Wir wissen, dass es sehr positive soziale Errungenschaften gibt, aber Revolutionen weisen Gesetzmäßigkeiten auf, an denen man nicht vorbeigehen kann: Um auf dem eingeschlagenen Pfad voranzuschreiten, müssen klare Maßnahmen ergriffen werden, die die wirtschaftliche Macht der Kapitalisten schwächen und sich an den sozialen Bedürfnissen der breiten Bevölkerung orientieren. In diesem Bereich sind wir trotz wichtiger Schritte noch weit vom Notwendigen entfernt. Die rechte Medienkampagne fällt mit realen, noch ungelösten Problemen zusammen, deshalb gibt es in einem Teil unserer eigenen sozialen Basis Zweifel, Misstrauen und Angst.
Die Ergebnisse vom [Wahl-]Sonntag haben gezeigt, dass ein großer Teil der Bevölkerung die Idee eines Fortschreitens in Richtung Sozialismus teilt. Dennoch haben Kräfte, die bisher Teil des Prozesses waren, dazu aufgerufen, mit "Nein" zu stimmen oder sich zu enthalten, und damit faktisch mit der Rechten zusammengearbeitet. Es ist an uns, von nun an für die Durchsetzung des 6-Stunden-Tags und andere Maßnahmen, die mit der Verfassungsreform verbunden waren, zu mobilisieren. Einige Gegner der Reform haben ja behauptet, man könne solche Errungenschaften auch ohne Verfassungsreform erreichen.

Gegen Bürokratie und Korruption

Eine bürokratische und korrupte Struktur untergräbt die Regierungen der Bundesstaaten, die Kommunalverwaltungen und die Ministerien. Sie ist das Produkt ungelöster sozialer Probleme und führt in eine ausweglose Situation. Man muss das Problem an der Wurzel packen, soll uns der revolutionäre Prozess nicht entgleiten. Es muss Schluss gemacht werden mit den Funktionären, die sich bereichern. Minister, die die Rechte der Bevölkerung angreifen, stellen ein Hindernis dar, wie bspw. der gegenwärtige Arbeitsminister und seine ganze Mannschaft.
Es ist erforderlich, dass sich der Präsident auf diese Fragen konzentriert, die zu so vielen Enthaltungen und "Nein"-Stimmen beigetragen haben. Alle bolivarianisch-sozialistischen Strömungen erwarten eine gründliche Veränderung der Zusammensetzung der Regierung. Es sind diese Funktionäre, die die Wählerschaft demoralisieren und die Armen und Werktätigen dem gesellschaftlichen Umwandlungsprozess entfremden; ein Teil von ihnen konnte nicht überzeugt werden, mit "Ja" zu stimmen, weil solche Funktionäre täglich zeigen, dass sie das Gegenteil von dem tun, was sie sagen.
Unser revolutionärer Prozess benötigt und verdient dringend eine gründliche Überholung. Es ist nicht mehr die Zeit für Veränderungen an der Oberfläche, die außerdem unmöglich sind. Mit der Bevölkerung und mit den dem revolutionären Prozess verbundenen politischen und sozialen Organisationen muss eine Debatte über die anstehenden großen ökonomischen und politischen Entscheidungen eröffnet werden.
Es muss Schluss sein mit willkürlich ausgewählten Funktionären, die nur in ihrem eigenen persönlichen Interesse handeln. Die Rolle der Minister und der Ministerien der Volksmacht muss überprüft werden, damit ihre Entscheidungen von den betroffenen Teilen der Bevölkerung diskutiert und korrigiert werden können. Es muss Schluss sein mit Gehältern, die Funktionären ein Leben in einem "saudischen" Venezuela und in Luxushotels ermöglichen. Das hat mit einem sozialistischen Projekt nichts zu tun. Wir fordern die Absetzung dieser ineffizienten und skrupellosen Funktionäre.

Die ehrlichen Elemente organisieren

Während der Kampagne für das "Ja" haben wir wie Tausende andere auch unsere kritische Sichtweise in der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) und in den sozialen Bewegungen vertreten. Bei allen Kundgebungen für das "Ja" war die Unterstützung für Chávez und den revolutionären Prozess zu spüren, kombiniert mit Kritik und dem Gefühl, dass große Probleme bleiben. Wir haben gemeinsam diskutiert, dass die PSUV sich nicht in ein neues bürokratisches Instrument verwandeln darf, was gewisse Teile des Apparats aber wollen, die die Partei in den ersten Monaten ihres Bestehens kontrolliert haben.
Um aus dieser Situation herauszukommen, muss die Macht wirklich in die Hände des Volkes und seiner Organisationen übergehen. Der Kongress der PSUV muss die demokratischste Instanz werden, alle müssen die Möglichkeit haben, Stellung zu beziehen, Vorschläge zu machen, zu kritisieren und zu beschließen — zum Wohl der bolivarianischen Revolution, ohne bürokratische Beschränkung oder Einmischung, ohne Behinderung der freien Diskussion.
Wir haben großes Vertrauen in die Fortsetzung des sozialistischen Projekts. Aber dieses Vertrauen muss einhergehen mit Einheit und Geschlossenheit beim Aufbau gemeinsamer Räume für die Diskussion all dieser Themen. Es ist unerlässlich, dass die Bevölkerung wie auch die bewusstesten und ehrlichen Aktiven des revolutionären Prozesses über gemeinsame Räume verfügen.
Natürlich hat Chávez das Recht, seine Meinung zu sagen und Vorschläge zu machen. Aber er hat auch die Verantwortung, die Bevölkerung anzuhören und gegenüber Veränderungen offen zu sein, die die Realität fordert.
Caracas, 3.Dezember 2007
Stalin Pérez Borges, Vilma Vivas, Marco García, Ismael Hernández

*Die MCS ist eine Gruppierung der revolutionären Linken. Zu ihr gehören u.a. führende Mitglieder des Gewerkschaftsverbands UNV. Sie ist Teil der PSUV. Die Erklärung.


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