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Die alten
Versuche, 68 in die Terroristenecke zu stellen, ziehen nicht mehr so richtig. Da scheint die vermeintliche
Selbstbezichtigung eines Renegaten eine wirkungsvollere Demontage zu sein.
Wer sich der nicht gerade leicht zu
ertragenden Anstrengung aussetzt, aktuelle Druckerzeugnisse im Spektrum von rechtsbürgerlich bis
rechtsaußen zu studieren, stößt immer noch auf althergebrachte Anklagen: Das historisch
bewährte Wertesystem von Ehre und Treue, von Familie und Vaterland habe sie zerstört, die
Kulturrevolution von 1968, mit dem ideologischen Vorschlaghammer der Frankfurter Kritischen Theorie. Oder,
mehr wirtschaftspädagogisch auftretend: Einen "Epochenumbruch" in Richtung "Faulheit
und Mittelmaß" hätten die revoltierenden Studenten ausgelöst (Kai Dieckmann in Bild).
Allerdings wirken solche Klagelieder etwas
fad, und so braucht der Erinnerungsmarkt frische Angebote, auch solche für Kunden, die das Gefühl
haben, mit dem Jahr 1968 könnte sich denn doch geschichtlich Fortschrittliches verbunden haben.
Aufmerksamkeitsökonomisch steht hier zur Zeit Götz Aly mit seiner Offerte an der Spitze; sein
Werk mit dem verkaufsträchtigen Titel Unser Kampf kam schon zu feuilletonistischem Erfolg, bevor die
Buchhandlungen es zur Verfügung hatten. Das Werbesignal dafür gab ein Vorwegbeitrag Alys in der
Frankfurter Rundschau dort sicherlich besser platziert als etwa in Springers Welt, weil das
Frankfurter Blatt ja immer noch im Geruch der Linksliberalität steht. Das richtige Medium also, um
beispielhaft die Selbstkritik von 68er "Wilden" vorzuführen.
Aly hat sich eine intelligentere Version von Geschichtsdeutung einfallen lassen als die, das logische
Resultat der 68er Ideen sei der Terrorismus im Stil der RAF gewesen. Eine solche Legende ist inzwischen
reichlich abgegriffen, und sie steht auch zu offensichtlich im Widerspruch zu den eigenen Erfahrungen der
großen Mehrheit von Altachtundsechzigern, die keine Neigung zum "bewaffneten Kampf in den
Metropolen" hatten.
Aly bietet stattdessen ein Bild der
Geschichte an, das weiter ausgreift: 1968 sei, so will er glauben machen, eine studentisch geprägte,
antibürgerlich-aktivistische Jugendbewegung gewesen, die darauf aus war, eine neue
"Jugenddiktatur" zu errichten die Söhne exakt ihren Vätern nacheifernd, die
einst 1933 im jugendbewegten Ansturm die Weimarer Republik beseitigt und das nationalsozialistische Regime
als "Jugenddiktatur" etabliert hätten. Dutschke also als neuer Goebbels, die SDSler als
Nachfahren der Nazi-Studentenbündler und damit das Publikum diese "Verwandtschaft"
auch richtig begreift, fügte die Frankfurter Rundschau dem Aly-Artikel Fotos bei, die eine braune
Studentendemo 1933 und eine APO-Demo 1968 zeigen, mit der Bildunterschrift: "Ähnliche
Ziele".
Anders als 1933 sei aber, so Aly, der Griff
zur Macht 1968 nicht gelungen. Sie habe auch gar keine Chance dazu gehabt, führt Aly aus, da die
Mehrheitsgesellschaft, repräsentiert durch einen so vernünftigen Spitzenpolitiker wie Kurt Georg
Kiesinger, das neue "Generationenprojekt" ins Leere habe laufen lassen.
Deutsche Geschichte nach dem Lehrplan von
Aly: 1968 war ein spezifisch deutsches Ereignis, der Auftritt einer machthungrigen Jugendbewegung, eine
"Tollheit" mit totalitärer Gesinnung ein (allerdings unrealistischer)
Nachahmungsversuch im Geiste der jugendlichen Bewegung, die 1933 den Durchbruch geschafft und ihre
Herrschaft begründet hatte.
Auf den ersten Blick fragt man sich, ob da
ein früher doch ernstzunehmender Historiker, auf Originalität erpicht, erbittert auch
darüber, "verhinderter Professor" zu sein, dem groben Unfug verfallen ist. Bei näherem
Hinsehen stellt sich jedoch heraus: Der Unfug hat Methode, und er ist diskurspolitisch zielgerichtet.
Die inzwischen gängige, marktförmige Verwertung von Geschichte mit ihrem zum raschen Verbrauch
bestimmten Angebot historischer Lesarten lenkt ab vom Interesse an Empirie, an sorgfältiger
Betrachtung vergangener Wirklichkeit. Da lässt sich vieles verkaufen, was einer
Qualitätskontrolle nicht standhalten würde.
Die von Aly offerierte Deutung von
Geschichte hat ihre Ambitionen in der politischen Gegenwart: Wer sich 1933 vorstellt als Zugriff einer
"Jugendbewegung" und das NS-Regime als "Jugenddiktatur", der kann getrost verzichten
auf Fragen nach dem Interesse "alter" damaliger Machteliten an einem faschistischen System, auch
nach der Wirksamkeit kapitalistischer Herrschafts- und Expansionsantriebe in der Politik des "Dritten
Reichs".
Solche Scheuklappen gegenüber der
Realität der Geschichte haben aktuelle Folgen. Wer 1968 missversteht als spezifisch deutschen Ausbruch
einer puren Jugendrevolte, generationenpsychologisch verkürzt auf die Rebellion von
"Söhnen", die gegen ihre "Väter" angehen und es ihnen doch gleichtun wollten,
der verdrängt mit Konsequenzen für die Gegenwart gesellschaftsgeschichtliche
Vorgänge und Sachverhalte , dass 1968 keine plötzlich-einmalige Blitzbegebenheit aus
heiterem Himmel war, sondern so etwas wie eine situative Zuspitzung eines lang andauernden Konflikts; dass
es sich um eine internationale Kette von vielgestaltigen Aktionen gegen imperialistische Kriegspolitik (im
Mittelpunkt: der Krieg der USA in Vietnam) handelte; dass zugleich Widerstand versucht wurde gegen
westliche Staats- und Fabrikherren wie gegen herrschende Bürokraten im Ostblock; und dass es
keineswegs nur Studenten und junge Leute waren, die da aufbegehrten, sondern ebenso Arbeiterinnen oder
Arbeiter und durchaus bejahrte Menschen.
Götz Aly er ist da nicht der
einzige Ex-68er betreibt geschichtspolitische Demagogie, und dabei ist es üblich, ein
Stück Wahrheit zu verwenden, um die größere Portion Unwahrheit attraktiv zu machen.
Zweifellos war das 68er Milieu in seiner deutschen studentischen Variante nicht frei von Verhaltensweisen,
die an fragwürdige Seiten der klassischen bürgerlichen Jugendbewegung erinnerten: Elitäre
Selbstüberschätzung, aggressive Abgrenzung gegenüber potenziellen Verbündeten,
Vorzeige"radikalität", kostümierende Übernahme vergangener oder fern gelegener
"Modelle", Unterschätzung der strategischen Fähigkeiten des herrschenden Systems. Auch
damit hängt es zusammen, dass viele, die als junge Menschen am "Ereignis 1968" beteiligt
oder von diesem beeindruckt waren, in politische Sackgassen gerieten oder sich ins Gehege politischer
Konformität zurückbegaben.
Freilich ist die Reue über politische
"Jugendsünden" wie auch deren listige Verwendung für Karrieren im
"Establishment" historisch nichts Neues; schon im 19.Jahrhundert stellten sich etliche Aktivisten
des "tollen Jahres 1848" später in den Dienst der Bismarckschen "Blut-und-
Eisen"-Politik. So muss es nicht verwundern, dass sich in unseren Zeiten einige
"revolutionäre Kämpfer" in Profis der Machtpolitik und -publizistik verwandelten,
diesmal zumeist auf Pfaden durch "grünes" Terrain.
Die gesellschaftliche Konstellation, in der jene Bewegungen stattfanden, die mit der Chiffre
"68" gemeint sind, enthielt Fallen jedenfalls in hochentwickelten Ländern wie der
Bundesrepublik. Die hochgradige massenmediale Aufmerksamkeit, die einer beim akademischen Nachwuchs
Sympathie findenden Revolte zugewandt wurde (worin eine klassengebundene Wahrnehmungsweise steckte...),
brachte ein Entfremdungsrisiko mit sich die Gefahr, dass oppositionelles Agieren sich unbewusst
einpasste in die Eigendynamik jener kapitalistischen Medien, die eigentlich Objekt der Kritik waren. Zudem
verfügte der Kapitalismus über großes Talent, sich kulturelle Neuerungen, die oppositionell
gemeint waren, dienstbar zu machen und für die Durchkapitalisierung der Lebenswelt zu nutzen. Auch
deshalb gibt es keinen Grund, die "kulturrevolutionären" Eigenschaften des Aufbruchs um 1968
in Bausch und Bogen zu glorifizieren und zu meinen, da seien "ganze Generationen dem Kapitalismus
entfremdet worden" (wie Dr.Seltsam kürzlich in der Jungen Welt kundtat).
Dennoch, die Erinnerung an die damaligen
Ideen und Aktionen bringt in der historischen Bilanz Produktives zutage. Es entwickelten sich Konturen
einer neuen Linken jenseits sozialdemokratischer und staatssozialistischer Erstarrung. Der Massenprotest
gegen den Krieg in Vietnam zeigte, dass der militärisch-industrielle Komplex nicht allmächtig
ist. Radikaldemokratische Überlieferungen und der gedankliche Bestand gesellschaftskritischer Theorie
und Literatur wurden wieder ans Licht geholt. In großer Zahl entwickelten Menschen die Fähigkeit,
ihre gesellschaftspolitische Sache selbst in die Hand zu nehmen, sich selbst zu organisieren, den
Mächtigen öffentlich zu widersprechen, Konflikte zu riskieren. Neue soziale Bewegungen kamen in
Gang. Keine Revolution und in der Bundesrepublik war damit gewiss nicht "die Machtfrage
gestellt" , aber ein Aufbruch, aus dem zu lernen ist, auch aus seinen Illusionen und Fehlwegen.
Auf "Lehrmittel", wie Aly und
einige andere Ex-68er sie anbieten, ihre eigenen widerspenstigen Torheiten von damals durch schlau
daherkommende Anpassung heute kompensierend, lässt sich beim Lernen aus der Geschichte verzichten.
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