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"Anders leben hier und jetzt” war
eine Haupttriebkraft der Revolte von 68. Jenseits der Frage nach den politischen
oder ökonomischen Machtverhältnissen bildeten die radikale Infragestellung
von Autorität, die Veränderung des Alltags, Emanzipation und Demokratie
das Grundmuster der Bewegung. Die neue Frauenbewegung war eine ihrer unmittelbaren
Folgen obwohl sie in Kritik zu ihr entstand.
Auf der
23.Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) am
13.9.1968 in Frankfurt am Main hielt Helke Sanders eine Rede, die die Republik
verändern sollte. Sie sprach als Delegierte des Westberliner „Aktionsrats
zur Befreiung der Frau” und warf den männlichen SDS-Mitgliedern vor, die
spezifische Ausbeutung der Frauen im privaten Bereich zu tabuisieren. Der SDS sei
„ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse”, eine
Organisation, die bestimmte Bereiche des Lebens vom gesellschaftlichen abtrenne und
tabuisiere, indem sie ihnen das Etikett „Privatleben” gebe. Die
männlichen Delegierten waren nicht bereit, ihre Thesen zu diskutieren; weder
der nächste Redner noch sonst jemand ging auf ihren provokanten Beitrag ein.
Somit warf die Berliner Studentin Sigrid Rüger die berühmte Tomate und die
Frauen zogen ihre Konsequenzen.
"Das Private ist
politisch” wurde zur Losung der neuen Frauenbewegungen. Damit wurde ein
„neues Verständnis des Politischen” eingeklagt. Der Weiberrat
formulierte: „Es gilt, Privatleben qualitativ zu verändern und diese
Veränderung als revolutionären Akt zu verstehen.” In Erweiterung des
traditionell männlichen Politikbegriffs sollte die politische Dimension und die
Veränderbarkeit scheinbar privater Beziehungsstrukturen hervorgehoben werden.
Einig waren sich die
frauenbewegten Frauen in ihrem radikalen Einspruch gegen die wenigen, engen,
für Frauen vorgesehenen Lebenswege. Die konservative Familienideologie der 50er
und 60er Jahre und das auch in der linken Praxis noch nicht eingelöste
Gleichheitsversprechen bildeten den argumentativen Hintergrund für den
Aufbruch, der auch international erfolgte.
Zu den wichtigsten
Zielen der Frauenbewegungen der Siebzigerjahre gehörten:
Teilhabe an allen
gesellschaftlichen Entscheidungen;
Kritik an den
Strukturen kleinfamilialer Lebensformen mit traditionellen Geschlechterrollen;
Kritik an der
Organisation familialer Sozialisation und an der repressiven Kindererziehung;
Selbstbestimmungsrecht über Kinderwunsch und Schwangerschaft;
Kampf gegen
Misshandlung und Gewalt gegen Frauen;
Problematisierung
der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung im Berufsleben.
Über die
Gesamtheit dieser Themenbereiche hinaus entwickelten sich auch Bewegungen zu
Einzelthemen. Nachstehend werden die Themen Familie und Kindererziehung exemplarisch
behandelt. Die Ziele und Vorstellungen der Frauen von 68 wirken wenn auch in
veränderter Form bis heute nach.
"Neue” Gemeinschaftsprojekte machten von sich reden, und es mangelte
ihnen nicht an Aufmerksamkeit. Sensationelle Meldungen in den Medien über die
Aufhebung der Privatheit durch Gruppensex und sexuelle Querverbindungen sorgten
dafür, dass die Kommune zum Bürgerschreck wurde. Nicht alle Frauen konnten
in das Lamento derer einstimmen, die sich als Sexobjekte für die
Befreiungsversuche der Männer erlebten. Viele hatten ihre eigenen
Befreiungsvorstellungen, hatten Lust am Entdecken und Überschreiten des
Erlaubten und machten ganz neue Erfahrungen in den Beziehungen zu Männern und
auch von Frauen untereinander. Kommunen gaben an vielen Orten den Impuls, aus der
„Wohlstandsgesellschaft” auszusteigen und mit autarken Wohn- und
Arbeitskollektiven alternative Lebenskonzepte gleichberechtigter Mitglieder zu
realisieren, welche die Isolation der Einzelnen in der Kleinfamilie und die
Fixierung der Geschlechterrollen in neue Formen des Zusammenlebens und -arbeitens
auflösen wollten. Heide Bernd sah in den Kommunen vor allem eine
Möglichkeit, den Kampf für die Veränderung der Geschlechterrollen,
für ebenbürtige Geschlechterverhältnisse und für die Aufhebung
der geschlechterdiskriminierten Arbeitsteilung also für eine freie
Gesellschaft zu führen. Herbert Marcuse beschrieb sie als „Inseln
einer Zukunft”, als „Testboten humaner Beziehungen”
Es entstanden
Gemeinschaften, in denen ein soziales Miteinander von Erwachsenen und Kindern
entwickelt wurde, „alternative” Lebens- und Arbeitszusammenhänge,
die auf strukturelle Hierarchien, Besitzansprüche, Ausbeutung und
Unterdrückung verzichteten. Wohn- und Hausgemeinschaften sowie Betriebe und
Projekte der alternativen Ökonomie gehörten dazu.
Die Kommunebewegung
überlebte die 68er-Bewegung, allerdings realitätsbezogener. Die
großen politischen Zielvorstellungen einer Revolutionierung des gesamten
Gesellschaftssystems traten mit der Zeit in den Hintergrund. Die „neuen”
Kommunen setzten auf die Kraft des Experiments und des Vorlebens. An ihrer Existenz
kann heute noch beispielhaft aufgezeigt werden, dass Möglichkeiten einer
anderen Lebens- und Arbeitswelt in Ansätzen hier und heute lebbar sind.
Helke Sander hatte in ihrer Rede auf der SDS-Konferenz darauf hingewiesen, dass
auch beim progressiv erscheinenden SDS das Privatleben insbesondere die so
genannte Kinderfrage als Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse
tabuisiert war. Während sich SDS-Männer weitgehend uneingeschränkt
der politischen Arbeit widmen konnten, waren viele Mütter durch ihre Kinder ans
Haus gebunden, litten unter der Doppelbelastung von Familie und Studium oder Beruf
und unter der häuslichen Isolation. Die SDS-Frauen mit Kindern waren am meisten
diskriminiert und die Kinderladenarbeit die wichtigste Arbeit, der sich die neu
entstandene Frauenbewegung widmen musste.
Die Geburtsstunde
der Kinderläden, die sich später in der ganzen Republik ausbreiteten, war
der Internationale Vietnamkongress im Februar 1968. Anstatt ihre Kinder zu Hause zu
betreuen und deshalb auf die Teilnahme am Kongress zu verzichten, brachten viele
SDS-Frauen ihre Kinder mit und betreuten sie abwechselnd. Diesem
„Kinderladen” sollten antiautoritäre Kinderläden in
zahlreichen deutschen Städten folgen. Den Frauen ging es dabei um mehr als eine
Selbsthilfeorganisation, durch die sie mehr Zeit für politische Arbeit und
Studium gewinnen wollten es ging ihnen auch um ein emanzipatorisches
Gegenmodell zur Erziehung im Kindergarten. Es ging ihnen um die gesellschaftliche
Verantwortung für Kinder, um Kindererziehung als gemeinsame Aufgabe von Frauen
und Männern und um die Erarbeitung emanzipatorischer Erziehungsmodelle. Es ging
ihnen um die Kritik an der bürgerlichen Kindererziehung, die verlangte, Kinder
nach dem Grundsatz des Triebverzichts, des Konkurrenzkampfs und des
Leistungsprinzips zu erziehen. Kinderläden dienten der kollektiven
Kindererziehung und der Umsetzung des Ideals „antiautoritärer
Erziehung”
Bereits während
der 22.Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt im September 1967 hatten sich erste
Auseinandersetzungen um die politische Bedeutung der antiautoritären Erziehung
entwickelt. Die elf dort versammelten Kinderladen-Projektgruppen diskutierten
über Notwendigkeit und Bedingungen der Transformation zu einer
„sozialistischen Erziehung”, weil sie der Meinung waren, dass
antiautoritäre Kinderläden Arbeiterkinder, die integriert werden sollten,
in Widerspruch zu den triebfeindlichen Bedingungen ihres eigenen sozialen Ortes
bringen müssten.
Die neue
Kinderladenbewegung hatte starke gesellschaftliche Ausstrahlung. Von Eltern
gegründete und (mit)betreute Kinderläden schossen nicht nur in
Universitätsstädten wie Pilze aus dem Boden. War es zu Beginn noch
völlig undenkbar, öffentliche Mittel für die Einrichtungen zu
fordern, so gab es nach der Gründung des „Zentralrats der
Kinderläden”, für den sich überwiegend Männer
interessierten, bald vom Senat Berlin geförderte Projekte. Freilich ging das
nicht ohne ideologische Auseinandersetzungen ab. Auch an der Frage, ob
Kinderläden nur „Bürgerkindern” oder auch
„Arbeiterkindern” offen stehen sollten, erhitzten sich die Gemüter.
Dies trug zur Auflösung des „Zentralrats” bei. Kinderläden und
Eltern-Kind-Gruppen breiteten sich dennoch weiter aus. Durch die Mitarbeit der
Eltern waren sie bald so zeitintensiv, „dass die ursprüngliche Idee,
Frauen mehr Zeit für sich selber zu verschaffen, um unter anderem auch
über die öffentliche Erziehung nachdenken zu können, ins Leere
lief”, wie Helke Sander später in einem Interview bemerkte.
Obwohl keine andere
Bewegung gesellschaftliche Prozesse derart beeinflusst hat wie die
Kinderladenbewegung, beklagt Helke Sander bis heute, dass die
„Kinderfrage” damals von den dominierenden Kräften der
Frauenbewegung ins „Aus” befördert worden sei. Tatsächlich ist
in den „Standardwerken” über die neue Frauenbewegung kaum etwas
über dieses Kapitel zu lesen.
Kinderläden
hatten Einfluss auf bestehende öffentliche und private Kinderbetreuung, zumal
die Kinderladenbewegung Konflikte mit den traditionellen pädagogischen
Einrichtungen nicht scheute. Konzepte antiautoritärer Erziehung
hinterließen deutliche Spuren der Liberalisierung der auf Gehorsam und
Anpassung ausgerichteten Erziehung in Kindergarten, Schule, Universität und
Beraufsausbildung. Die veränderten Konzepte und die Versuche „den
Verknöcherungstendenzen von Erziehungsanstalten entgegenzuwirken” wirken
bis heute.
Bereits 1973 veröffentlichte das damalige Bundesministerium für Jugend,
Familie und Gesundheit eine Studie, die die
„Sozialisationsschwächen” der modernen Kleinfamilie aufzeigte und
nachwies, dass Kleinfamilien nicht geeignet seien, die nachfolgende Generation auf
die Bewältigung ihrer Geschlechterrollen, ihre spätere Familienrolle sowie
ihre Berufsrolle vorzubereiten. Mütter, die „die Erfüllung ihrer
Lebensaufgabe in der ausschließlichen Behütung und Lenkung des Kindes
sehen und nicht fähig und bereit sind, die Distanz zum Kind zu halten, die es
zur Entwicklung seiner Unabhängigkeit und Selbstständigkeit
braucht”, werden dem Kind bei seinen Lösungsversuchen von der Bindung an
die Eltern hin zur eigenen Selbständigkeit im Wege stehen, schrieb die Studie.
Durch übertriebene Bindungs- und Dominierungsversuche der Mutter würde die
kindliche Entwicklung empfindlich gestört.
Die Studie
führte Untersuchungen an, wonach Urvertrauen sich nicht allein durch die
Nähe zur Mutter, sondern auch durch die Zufriedenheit der Bezugspersonen und
das Eingebundensein in eine Gruppe von Gleichaltrigen ausbildet. Kritisiert wurde
vor allem das „dilettantische, unkontrollierte Erziehungsverhalten der
Eltern”, die als Laien die verantwortungsvolle Erziehungsaufgabe ohne
Vorbedingung und ohne Ausbildung übertragen bekommen. Klargestellt wurde, dass
auch Säuglinge sich daran gewöhnen können, dass nicht die biologische
Mutter, sondern andere Bezugspersonen sie betreuen. Die Trennung zwischen
Mutter/Hausfrauenrolle und Vater/Erwerbsrolle wurde als völlig veraltet und als
„ein Instrument zur Unterdrückung der Frauen und zur unterschiedlichen
Positionierung der Geschlechter in der Gesellschaft” beschrieben. Es wurde
festgestellt, dass eine Wohngemeinschaft bessere Voraussetzungen als die
Kleinfamilie bot, um einer „zeitgemäßeren Auffassung von den
Geschlechterrollen gerecht zu werden”
Vieles davon ist
heute vergessen. Heute geht es um eine „familiengerechte Gestaltung” des
Erwerbslebens meist auf Kosten der eigenständigen Existenzsicherung der
Frauen und um „partnerschaftliche Arbeitsteilung”, die allerdings
oft in zermürbenden Auseinandersetzungen endet, bei denen die Frauen meist den
Kürzeren ziehen und Kinder nicht nur Anlass ständiger Auseinandersetzungen
in der Familie sind, sondern diese auch auszuhalten haben.
Ein gewaltfreies,
lebendiges, vielfältiges, demokratisches Miteinander von Frauen, Männern
und Kindern ist bis heute nicht erreicht. Dennoch hat die Frauenbewegung nicht nur
das Leben der in ihr aktiven Frauen verändert. Sie hat auch auf die Beziehungen
zwischen den Geschlechtern gewirkt, und manche der beteiligten Männer machen
sich verstärkt Gedanken um ihre Rolle.
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