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Die Wirtschaftskrise Anfang der 60er Jahre erzwang
Reformen, die ohne Veränderungen in Politik und Verwaltung nicht zu haben
waren.
Anfang Januar 1968
ernennt das Präsidium des ZK der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei
(KSC) nach heftigen Auseinandersetzungen Alexander Dubcek zum Ersten Sekretär.
Erst am 4.März wird vertraulich ein detailliertes Protokoll des Präsidiums
des ZK verbreitet. Darin heißt es:
"Im Verlauf der
Diskussion ergab die Reflexion über die Umsetzung der Politik der Partei eine
Konfrontation zwischen dem Neuen und dem Alten ... Eine erste Tendenz kam zum
Ausdruck, die mehr oder weniger stark das in der sozialistischen Entwicklung unserer
Gesellschaft bereits erreichte Stadium nicht berücksichtigt und überholte
Arbeitsformen der Partei verteidigt. In ihren Augen liegt die Ursache für
unsere Schwächen vor allem in Schwierigkeiten, die auf den Gang der Wirtschaft,
auf unzulängliche ideologische Arbeit, auf fehlende Strenge und auf eine
liberale Haltung an der ideologischen Front sowie auf die Auswirkungen der
Manöver der ideologischen Diversion des Westens zurückzuführen sind.
Für diese Tendenz gibt es in der Partei und im Land genug Demokratie. Es fand
sich sogar eine Stimme, wonach wir ein Übermaß an Demokratie
hätten. Demgegenüber kamen sehr deutliche Tendenzen zum Ausdruck, die die
Dringlichkeit eines neuen Kurses behaupteten ... und es für notwendig hielten,
das politische Handeln auf ein Niveau zu heben, das der aktuellen Entwicklung
unserer Gesellschaft entspricht und die Auswirkungen der wissenschaftlich-
technischen Revolution berücksichtigt. Die Entwicklung der Wirtschaft und ihre
neuen Formen der Leitung erfordern unvermeidlich eine Änderung in den Methoden
der Parteiführung, um der Initiative und öffentlichen Aktivität
gesellschaftlicher Gruppen ausreichend Spielraum zu gewähren."
Die erste Tendenz
vertrat Antonín Novotny. Das zweite, heterogene Lager fand in Dubcek einen
Wortführer. Der Frühling begann. Am 5.April 1968 verabschiedete die KSC
ein Aktionsprogramm. Der Frühling wurde wärmer.
Eine der
Besonderheiten der Reformen in der Tschechoslowakei, die zum Teil ihren
Massencharakter und ihre Dynamik erklärt, bestand darin, dass die von
Chruschtschow auf dem XX.Parteitag der KPdSU 1956 eingeleitete
„Entstalinisierung” an Partei und Gesellschaft der Tschechoslowakei
vorbei gegangen war. Im Vergleich zu Polen und Ungarn genoss die KP zu dem Zeitpunkt
noch Unterstützung in breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung und
sah sich deshalb nicht gezwungen, das stalinistische Partei- und Führungsmodell
in Frage zu stellen. Zaghafte Versuche von Intellektuellen, eine Debatte in Gang zu
setzen, waren rasch unterdrückt worden. Novotny zog Lehren aus Polen und Ungarn
und verstärkte die Parteidisziplin und den „antirevisionistischen
Kampf”
Die Unzufriedenheit
wuchs. Die Intellektuellen sahen einen tiefen Widerspruch zu der von der UdSSR
gepredigten Politik der „friedlichen Koexistenz und Öffnung” und zu
den erneuten Vorwürfen, die Chruschtschow auf dem XXII.Parteitag der KPdSU im
Oktober 1961 gegen den Stalinismus erhob.
Die Unzufriedenheit
der Intellektuellen fand Anfang der 60er Jahre zusätzlich ein Echo in der
tiefen Wirtschaftskrise. Mehrere Jahre hindurch sank die Wachstumsrate, erreichte
1962 das Nullniveau und rutschte 1963 sogar auf 3%. Junge Ökonomen der
Partei, darunter Ota Sik, machten dafür die sklavische Nachahmung des
sowjetischen Industrialisierungsmodells verantwortlich, eine überzentralisierte
Planung sowie einen Mangel an qualifizierten Managern, die eher aufgrund ihrer
Anpassung an die Partei denn aufgrund ihrer Kompetenz in die Leitung der Wirtschaft
berufen worden waren.
Zu Beginn der 60er
Jahre verstärkten sich die verschiedenen Krisenelemente gegenseitig, sodass
kritische Debatten zunehmend an die Öffentlichkeit drangen und schließlich
offen geführt wurden.
Die Führung der KSC konnte auf dem XII.Parteitag 1962 die Debatte mit den
Verfechtern einer Wirtschaftsreform nicht mehr verhindern. Maßnahmen wurden
jedoch keine verabschiedet.
Die Debatte wurde in
den Folgemonaten in der Wirtschaftspresse fortgesetzt. Ota Sik, der Anführer
der Reformer, unterstützte die Auffassung, eine Wirtschaftsreform könne
nur verwirklicht werden, wenn auch die politischen und administrativen Strukturen
des Landes verändert würden. Er sprach sich gegen Tabus und für eine
offene Diskussion aller Probleme aus. Der Wirtschaftsplan sollte auf die
Bedürfnisse der Bevölkerung antworten (und nicht umgekehrt!), das
Kollektiveigentum sollte Mittel, nicht Zweck sein. Er befürwortete eine
Dezentralisierung der Planung, eine relative Autonomie der Produktionseinheiten, die
Festlegung der Preise nach Angebot und Nachfrage sowie eine „effiziente”
Lenkung der Betriebe, womit u.a. das Recht gemeint war, Beschäftigte zu
entlassen.
Es waren nicht die
letztgenannten Maßnahmen, die die Konservativen in der KSC aufscheuchten
zur selben Zeit schlugen in der UdSSR Liberman und Trapesnikow dieselben Rezepte
vor, ohne auf Ablehnung zu stoßen. Sie schreckten vor der Infragestellung des
absoluten Monopols der Partei über das wirtschaftliche und politische Leben
zurück. Sie fürchteten um ihre Posten, wenn die Verantwortlichen nach
ihrer Kompetenz und nicht nach ihrer Zustimmung zur Parteilinie gewählt
würden.
Doch die
Wirtschaftskrise trieb sie in die Defensive. Anfang 1967 wurde die Reform im
Grundsatz verabschiedet. Ihre Umsetzung wurde jedoch vom Parteiapparat verhindert,
der in den Betrieben eine demagogische Kampagne über ihre möglichen (und
realen) Folgen für die Werktätigen führte. Arbeiter und
Intellektuelle versuchte er gegeneinander aufzubringen.
Vom XXII.Parteitag der KPdSU ermutigt gingen die Intellektuellen in die
Offensive. Auf dem ZK-Plenum vom April 1963 antwortete Novotny mit einem Bericht
über „die Verletzung der Prinzipien der Partei und der sozialistischen
Gesetzlichkeit in der Periode des Personenkults” Der Bericht galt als so
explosiv, dass an die Mitglieder der Partei nur eine stark gekürzte Fassung
ausgegeben wurde. Selbst diese abgeschwächte Version löste heftige Unruhe
aus.
Die Intellektuellen
wurden an Fragen aktiv, die die nationale Kultur unmittelbar berührten. Kafka
wurde wiederentdeckt, der verboten worden war, weil er als pessimistisch und
dekadent bezeichnet wurde. Im Februar 1963 schrieb Eduard Goldstücker in den
Literární Noviny, der Zeitschrift des Schriftstellerverbands, einen ersten
Artikel zur Verteidigung Kafkas. Im April griff der Kongress der slowakischen
Schriftsteller den Ball auf, und im Mai 1963 fand in Prag eine internationale Kafka-
Konferenz statt. Seine Schriften wurden verbreitet, um das bürokratische Regime
zu kritisieren.
Wieder antwortete
dieses mit Repression. Eine heftige Kampagne gegen die Intelligenz wurde in Gang
gesetzt, einige Publikationen verboten. Schließlich wurde am 1.Januar 1967 ein
schärferes Zensurgesetz verkündet. Die Folge war, dass die Intellektuellen
sich radikalisierten und mit den Liberalen in der Parteiführung vereinigten.
Auf dem 4.Kongress
des Schriftstellerverbands im Juni 1967 mischten sich bereits kulturelle und
politische Debatten. Die Zensur wurde angegriffen, ein Brief Alexander Solshenizyns
an den sowjetischen Schriftstellerverband (der an dessen Mitglieder nicht verteilt
worden war) verlesen, vor allem aber nahmen die Vorwürfe gegen Novotny und
seine Umgebung zu. Dieser reagierte auf die bekannte Art. Die neue Leitung des
Schriftstellerverbands wurde von der Partei nicht anerkannt, die Zeitschrift
Literární Noviny dem Verband entzogen, prominente Intellektuelle wie
L.Vaculik, A.Liehm und P.Klima aus der Partei ausgeschlossen. Die Presse führte
eine heftige Kampagne gegen den Schriftstellerverband, machte auf diese Weise aber
nur bekannt, was auf dem Kongress geschehen war.
Entgegen dem
Augenschein war die Novotny-Führung in der Defensive. Sie hatte keine Antwort
auf die Reformer, nur die Repression. Liberale und Konservative standen sich im ZK
nun offen gegenüber. Der Wortführer der ersteren, Alexander Dubcek
(Parteichef in der Slowakei), stellte die persönliche Machtfülle Novotnys
in Frage dieser war zugleich Erster Sekretär der Partei und
Staatspräsident. Das ZK-Plenum behandelte das Problem im Dezember 1967 und im
Januar 1968. Doch die Hauptfrage blieb die Wirtschaftsreform und der Kampf um die
Parteiführung. Angesichts der heftigen Angriffe stellte Novotny seinen Posten
als Parteichef zur Verfügung, in der Hoffnung, mit diesem taktischen Schritt
eine Mehrheit von Konservativen um sich zu scharen.
Das Manöver
scheiterte. Am 5.Januar 1968 akzeptierte das ZK den Rücktritt Novotnys und
wählte Dubcek an die Spitze der Partei. Novotny blieb Staatspräsident und
seine Anhänger in den Führungsgremien der KSC waren sehr zahlreich. Der
Ausgang des Plenums ließ nicht erwarten, was sich im Verlauf der kommenden
Monate abspielen sollte. Noch handelte es sich um eine Palastrevolution.
Die neue Führung der KSC hatte nicht vor, sofort radikale Änderungen
einzuführen. Sie wollte das Land nach und nach und von innen heraus
verändern und die Intellektuellen dafür einsetzen, um den konservativen
Apparat durchzurütteln. Am Ende dieses graduellen Prozesses sollte ein
Parteitag Ende 1969 oder Anfang 1970 die vorgenommenen Änderungen
institutionell verankern. In Übereinstimmung mit ihrer Linie musste sie jedoch
eine Debatte über die Probleme des Landes eröffnen.
Die
Reformkräfte des Schriftstellerverbands wurden wieder in die Partei
aufgenommen, der Verband erhielt sein Wochenblatt zurück, das sich unter neuem
Namen, Literární Listy, an die Spitze der Debatte stellte und Anfang
März 1968 eine verkaufte Auflage von einer halben Million hatte. Presse, Radio
und Fernsehen machten sich zu Wortführern der Fragen, Ängste und
Hoffnungen der Bevölkerung.
Die fortgesetzte
Präsenz Novotnys und seiner Anhänger in den Führungsorganen der
Partei nährten Ängste, die Erklärungen Dubceks dagegen Hoffnungen.
Gegen ihren Willen musste die Reformführung den Konservativen die Stirn bieten.
Die Debatte über die Verantwortung der Konservativen ließ sich nicht mehr
aufhalten. Die Bevölkerung war indes schon weiter: Sie forderte auf
Parteiversammlungen den Rücktritt Novotnys und seiner Anhänger.
Alle Bereiche der
Gesellschaft wurden vom Sog ergriffen: Die Gewerkschaften forderten die
Verwirklichung des Streikrechts; die Studierenden schufen ein unabhängiges
Studentenparlament; es bildeten sich Keimformen politischer Parteien und Clubs ...
sogar die Zensoren sprachen sich für die Abschaffung der Zensur aus! Am
21.März 1968 kapitulierte Novotny vor dem Druck der Massen und trat als
Staatspräsident zurück. Er wurde durch Svoboda ersetzt.
Dubcek und seine
Freunde waren sich sehr wohl bewusst, dass die Probleme mit dem Rücktritt
Novotnys nicht erledigt waren. Die Dynamik der Massenbewegung überschritt die
Grenzen, die die neue Parteiführung gesetzt hatte. Sie barg die Gefahr, den
Plan einer graduellen Veränderung von Partei und Gesellschaft von oben in Frage
zu stellen. Viele in der Partei und in den Massenorganisationen forderten eine
„Institutionalisierung” der Reformpolitik durch einen
außerordentlichen Parteitag.
Auf dem April-Plenum des ZK wandte sich Dubcek an zwei verschiedene Adressaten:
an ein zögerliches ZK und an eine öffentliche Meinung, die ihm weit
vorausgeeilt war. Ersteres beruhigt er, indem er den Vorschlag eines
außerordentlichen Parteitags zurückwies; Letztere versuchte er zu
beruhigen, indem er bekannte Liberale auf wichtige Posten berief: Frantisek Kriegel
an die Spitze der Nationalen Front, Josef Smrkovsky in den Vorsitz der
Nationalversammlung und Oldrich Cerník auf den Posten des
Ministerpräsidenten. Darüber hinaus ließ er ein Aktionsprogramm
verabschieden.
Dieser Kompromiss
stellte niemanden zufrieden. Die Konservativen blockierten das (moderate)
Aktionsprogramm; die Intellektuellen und die Bevölkerung verstärkten den
Druck für einen außerordentlichen Parteitag. Die Bildung der Regierung
Cernik war jedoch keine formelle Geste. Sie beschloss weitgehende Liberalisierungen:
ein Gesetz über Versammlungs- und Vereinsfreiheit, Presse- und Reisefreiheit;
die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer des Stalinismus; die
Unabhängigkeit der Gerichte; die präzise Abgrenzung der Kompetenzen des
Innenministeriums; ein Gesetz über die Arbeiterräte.
Nach dem Januar
tauchten Widersprüche auch innerhalb der Führung auf. Gegenüber der
Blockade der Konservativen nahm die Gruppe um Josef Smrkovsky und Cestmír
Císar (ab April Vorsitzender des tschechischen Nationalrats) radikalere
Positionen ein, die auf ein wachsendes Echo in der Arbeiterklasse trafen.
Ende April forderten
die regionalen Parteikonferenzen vielfach die Einberufung eines
außerordentlichen Parteitags. In dieser Frage kam es schließlich zu einer
unfreiwilligen Allianz zwischen Konservativen und Progressiven. Auf dem ZK-Plenum
Ende Mai versuchte Dubcek noch, Zeit zu gewinnen. Novotny aber verstärkte seine
Angriffe, und das ZK schloss ihn aus der Partei aus. Nun waren auch seine
Anhänger für eine rasche Einberufung des Parteitags. Er sollte Anfang
September abgehalten werden.
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