SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2008, Seite 24

Gesichter einer politischen Zäsur

Die Fotoausstellung „Arbeit und Alltag 1952—1992” im Willy-Brandt-Haus in Berlin

von Jochen Gester

In der Zeit von November 2007 bis Ende Januar 2008 wurde im Willy-Brandt-Haus in Berlin die Fotoausstellung „Arbeit und Alltag 1952—1992” gezeigt. Die Ausstellung umfasste Bilder der Fotografen Roger Melis, Walter Vogel und Martin Roemers. Gemeinsam dokumentieren sie Unterschiede und Gemeinsames der deutschen Nachkriegsgeschichte über eine lange historische Periode.

Roger Melis‘ Bilder über die DDR mit dem Titel „In einem stillen Land — Fotografien 1965—1989” umfassen seine besten Aufnahmen aus 25 Jahre Fotografie im Osten. Walter Vogels Ausstellung „Die frühen Jahre 1951—1969” beleuchten westdeutsche Geschichte am Beispiel des Ruhrgebiets. Martin Roemers zeigt Bilder der Wende aus einer anderen Perspektive. In seinem Focus sind die letzten Jahre der Trabant-Produktion in Zwickau. Die Bilder machen die Lebens- und Arbeitswelt sichtbar, die für die Nachkriegsrealität in beiden deutschen Staaten prägend war.
Mich als Besucher dieser Ausstellungen haben die Bilder von Martin Roemers am meisten beeindruckt. Auf dieser Seite ist eine kleine Auswahl seiner Ausstellung zu sehen. Wir danken dem Ernst Wasmuth Verlag für die Abdruckrechte.
Das Interesse des niederländischen Fotografen Martin Roemers gilt verschwindenden Zeitaltern. Roemers hat über 30 Jahre immer wieder die DDR besucht und war mit Land und Leuten vertraut. Zur Wende war schnell klar, dass viele Staatsbetriebe abgewickelt werden. Roemers wollte diese Wendesituation festhalten. Er entschied sich für die Dokumentation der Produktion der letzten Jahre des Trabant in Zwickau und hat dort in der Zeit von 1990 bis 1991 eine Fotoserie erstellt, die den Produktionsprozess und die Arbeitsbedingungen festhalten und vor allem ein authentisch wirkendes Bild der dort tätigen Menschen geben.
Wenige Monate nach der Fertigstellung der Bilder verschwand die hier sichtbare Arbeitsrealität. Die entlassenen Arbeiter zerstreuten sich und viele zogen auf der Suche nach Arbeit fort. „Mit diesen Belegschaften”, schreibt der Direktor des Sächsischen Industrienmuseums, Achim Dresler, „zerfielen soziale Zusammenhänge, das kollektive Gedächtnis einer ganzen Region unwiderruflich” Dresler beschreibt in einem Geleitwort zur Ausstellung die Probleme, mit denen diese Belegschaften in der DDR konfrontiert waren:
"So wehmütig die Zerschlagung der Belegschaften stimmen mag, so wenig leid muss es einem um das Ende der Produktionsanlagen selbst sein. Hier wurde jahrzehntelang auf Verschleiß gefahren ... Die veralteten Fabriken bewirkten nicht nur unzureichende Fertigungszahlen und ausbleibende Fahrzeug-Neuentwicklungen. Es waren die Belegschaften, die versuchen sollten, die Mängel auszugleichen. 1985 konnte nur noch an knapp der Hälfte der Tage das Plansoll erfüllt werden. Warte- und Stillstandszeiten aus technischen Ursachen führten zu Sonderschichten an Wochenenden und steigenden Überstundenzahlen. Die Arbeitsintensität an den Fließbändern stieg, die schweren Arbeitsgerätschaften blieben aber die gleichen. Die Folge war schon in den 1970er Jahren ein spürbarer Arbeitskräftemangel. Zum Beispiel gab es an den Duroplast-Karosserie-Pressen Fluktuationen von 30%. Hier war die Arbeit besonders hart und gefährlich, vom hohen Ausschuss an den 25 Jahre alten Maschinen mal abgesehen. Von den ausgebildeten Jungfacharbeitern ging in den 1980er Jahren etwa die Hälfte. Ausländische Vertragsarbeiter, wie 1981 Hunderte von Vietnamesen, füllten einige Lücken. Anwerbekampagnen im industriearmen Norden der DDR blieben dagegen wenig erfolgreich, weil Wohnungsangebote in Zwickau fehlten. Im Kern zeigt sich hier die Frustration der Belegschaften aufgrund der fehlenden Reputation des Industriezweigs, der ausbleibenden Neuentwicklungen und damit der Zukunftsperspektive."
Nachdem Ende der 60er Jahre die letzten Anläufe der Arbeiter, durch kollektive politische Aktionen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung zu nehmen, gescheitert waren, konzentrierten sich die Belegschaften auf das Aushandeln von „Normerfüllungspakten”,
in denen sie ihre Interessen zu wahren suchten. Doch diese Art von Stillhalteabkommen brach Ende der 80er Jahre zusammen. Die Arbeiter wenden sich von der DDR ab. „Der durchschnittliche Antragsteller auf Ausreise aus der DDR”, so schreibt Michael Hoffmann in einem Aufsatz zu den Arbeiterprotesten 1968 in der DDR, „war 27 Jahre alt, männlich und ein gut ausgebildeter Facharbeiter. Junge Arbeiter setzen auf Auswandern statt Demonstrieren."
Diese Hoffnung — auch das kann man den Gesichtern der porträtierten älteren Arbeiter entnehmen — wurde schon damals nicht von allen geteilt. Roemers Bilder zeigen Menschen, in deren Gesichter zwiespältige Gefühle erkennbar werden. Die Aufnahmen zeigen Arbeitsstolz und Würde, aber auch Desillusionierung und Skepsis. Vielen Gesichtern ist
die Ahnung von der nahen Zäsur anzusehen, die ihnen bevorsteht und sie in eine Zukunft katapultieren wird, die ungewiss ist. Gewiss ist nur das Schicksal der vielen Trabants, die Ergebnis ihrer Anstrengungen waren. Sie landen in der Schrottpresse. Im letzten Bild sieht man schon die beladenen Güterzüge der neu produzierten VW-Golfs. Das bundesdeutsche Kapital hat das Kommando über die Arbeit auch im Beitrittsgebiet übernommen.

Martin Roemers: Trabant. Die letzten Tage der Produktion, Tübingen: Ernst Wasmuth, 2007, 96 Seiten mit 41 Duoton-Abb., 19,80 Euro


Roger Melis: In einem stillen Land. Fotografien 1965—1989, Leipzig: Lehmstedt, 2007, 196 S. mit 169 Abb., 24,90 Euro


Walter Vogel: Deutschland. Die frühen Jahre. 1951—1969, Wien: Christian Brandstätter, 2002, 112 S. mit 118 Abb., 21,90 Euro


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